ra-1CorneliusErdmannP. SzendeMauthnerWundt    
 
OSWALD KÜLPE
Versuche über Abstraktion

"Ich definiere ich die Abstraktion als den Prozeß, durch den das logisch oder psychologisch Wirksame vom logisch oder psychologisch Unwirksamen geschieden wird. Die wirksamen Teilinhalte sind für unser Denken und Vorstellen die positiv abstrahierten, die unwirksamen aber diejenigen, von denen abstrahiert worden ist. Für unser Bewußtsein gibt es demnach abstrakte Vorstellungen, für die psychische Realität gibt es nur konkrete Vorstellungen. Damit ist zugleich der alte Streit zwischen Nominalismus und Realismus seiner Entscheidung näher geführt."

Man versteht im Allgemeinen unter der Abstraktion den Prozeß, durch den es gelingt, einzelne Teilinhalte des Bewußtseins hervorzuheben und andere zurücktreten zu lassen. Von diesen letzteren sagt man, wird abstrahiert, abgesehen, sie werden in Abzug gebracht, sie gelangen nicht zur Geltung im Bewußtsein. Die erfaßten Teilinhalte dagegen werden abgelöst, abstrahiert, aus ihrer Verbindung, ihrem Zusammengegebensein mit anderen herausgehoben.

Man hat über die Wichtigkeit und Notwendigkeit dieses Vorgangs viel geschrieben und sich auch über die Ursachen desselben mancherlei Vorstellungen gebildet. Dagegen ist eine genauere Untersuchung des Prozesses selbst noch nicht erfolgt, so daß man z. B. noch nicht weiß, ob es Grade der Schwierigkeit in der Abstraktion gibt, ob Teilinhalte, die abstrahiert werden können, in einem gewissen Zusammenhang miteinander stehen, wie der Prozeß im Einzelnen verläuft usw.

Schon im Sommer 1900 unternahm ich mit Herrn Professor BRYAN aus Indiana eine experimentelle Arbeit, die den Prozeß der Abstraktion an kurze Zeit exponierten optischen Objekten untersuchen sollte. Aber das Verfahren litt an einigen Mängeln. Die Objekte waren nicht gleichwertig und ließen darum keinen vollen Vergleich derjenigen Resultate zu, die sich auf verschiedene Objekte bezogen. Ferner wurden, um Zeit zu sparen, mehrere Versuchspersonen gleichzeitig bei einer Versuchsreihe benutzt, was den Nachteil hatte, daß ihre schriftlich fixierten Protokolle nicht der so notwendigen Leitung und Kontrolle durch den Versuchsleiter unterstanden. Die Lücken im Protokoll erlauben nicht ohne weiteres den Schluß auf eine entsprechende Lücke im Bewußtsein der Versuchspersonen. Die Reihenfolge der Aussagen über die einzelnen Teilinhalte des gesehenen Objekts wurde nicht selten in einer von meinen Angaben abweichenden Ordnung durchgeführt. Derartige Mängel ließen mir eine Ergänzung dieser Versuchsreihen durch einwandfreieres Material wünschenswert erscheinen. Über die auf diesem Weg gewonnenen Ergebnisse und die dabei befolgte Methode möchte ich im Folgenden allein einen kurzen Bericht erstatten.

Die Versuche wurden mit 3 Versuchspersonen, von denen immer nur eine während der Beobachtungsreihe benutzt wurde, ausgeführt. Alle drei waren in Beobachtungen dieser Art, bei kurzer Expositioin optischer Objekte, von früheren ästhetischen Experimenten her geübt. Ein Projektionsapparat im Dunkelzimmer entwarf auf den weißen Schirm die aufzufassenden Bilder. Durch einen photographischen Momentverschluß war nach einigen Vorversuchen die Dauer von ⅛ Sekunde = 125 σ als zweckmäßigste Expositionszeit festgestellt worden. Bei noch kürzerer Exposition kamen die Farben nicht genügend zur Geltung. Bei noch längerer Exposition war die Erfüllung von mehr als einer Abstraktionsaufgabe wärend der Exposition nicht ausgeschlossen. Als Objekte dienten auf Pauspapier aufgeschriebene sinnlose Silben, 4 an der Zahl, die sich um den mit Leuchtfarbe angedeuteten Fixationspunkt auf dem Schirm in stets gleichen Abständen gruppierten. Der Radius vom Fixationspunkt zu den an der Peripherie eines Kreises angeordneten Silben betrug 43 cm, was bei der 4 m betragenden Entfernung des Beobachters vom Schirm etwa 1 mm Netzhautdistanz ausmachte. Jede der 4 Silben bestand aus 3 Buchstaben, zwei Konsonanten, die einen Vokal begrenzten. Die gebrauchten 80 Silben der 20 Objekte waren sämtlich voneinander verschieden, die Vokale wenigstens innerhalb ein und desselben Objekts. Ferner war jede Silbe mit einer der 4 Farben rot, grün, violett und schwarz bzw. grau in gleicher Größe geschrieben, wobei von Versuch zu Versuch die Stellung der Farben und die Figur, welche die 4 Silben miteinander bildeten, variierten.

Die Versuchspersonen erhielten eine Einübung durch eine Anzahl Vorversuche mti anderen als den zu den eigentlichen Experimenten benutzten Objekten. Jedes solche Objekt konnte ohne willkürliche Präokkupation [Vorwegnahme - wp] angesehen oder bestimmten vorher erteilten Aufgaben gemäß unter einem gewissen Gesichtspunkt aufgefaßt werden. Als solche Gesichtspunkte dienten vier: die Bestimmung der Gesamtzahl von sichtbaren Buchstaben, ferner die Bestimmung der Farben mit ihrer ungefähren Stellung im Gesichtsfeld, sodann die Bestimmung der Figur, welche die Silben miteinander bildeten, und endlich die Bestimmung möglichst vieler einzelner Buchstaben mit Angabe des ungefähren Ortes. Jede dieser 4 Aufgaben wurde einmal an jedem Objekt "ohne" Aufgabe einer rein passiven Erwartung dargeboten. Im Wechsel der Aufgaben wurde ein bestimmter Turnus eingehalten. Denselben befolgte ich bei der Aufnahme des Protokolls. Die Versuchsperson hatte mir sofort nach dem Verschwinden des Objekts zunächst die Bestimmung im Sinn der Aufgabe zu geben und dann auf meine Fragen nach den anderen Teilinhalten zu antworten. War keine Aufgabe gestellt, so mußte mir die Versuchsperson zuerst über das Auskunft geben, was ihr zunächst besonders aufgefallen war, sie in erster Linie interessiert oder beschäftigt hatte, und dann gleichfalls zu meinen Fragen nach dem Übrigen Stellung nehmen. Um zu verhüten, daß sich eine bestimmte Vorstellung über den gleichartigen Aufbau der Objekte ausbildet, wurden von Zeit zu Zeit Vexierversuche eingeschoben, bei denen mehr oder weniger Silben bzw. mehr oder weniger Buchstaben in einer Silbe zur Verwendung kamen. Immerhin ist die Aufgabe Zahl durch das regelmäßige Auftreten von 4 Silben á 3 Buchstaben und durch die über die Möglichkeit einer unmittelbaren Zahlbestimmung hinausgehende Zahl von 12 Elementen etwas beeinträchtigt worden.

Die Verarbeitung der 300 Versuche (5 x 20 für jede Versuchsperson) erfolgte in der Weise, daß neben der Gesamtzahl (Z) der über einen Teilinhalt erfolgten Aussagen die Zahl der richtigen (r), falschen (f), unbestimmten (u) und unterbliebenen (k) Aussagen berechnet und teilweise in % ausgedrückt wurden.

Von den in Tabelle I niedergelegten Resultaten sind zunächst einige von allgemeiner Bedeutung erwähnt, die für alle 3 Versuchtspersonen Geltung haben.

1. Die Gesamtzahl (Z) der Aussagen ist durchweg am größten, wo die Aufgabe mit der Aussage zusammenfällt, also wo z. B. die Aussage über die Farben und deren Stellung aufgrund einer gerade darauf gerichteten Aufgabe gefällt worden ist (in der Tabelle durch fetten Druck ausgezeichnet). Von dieser Gesetzmäßigkeit ist auch der Fall nicht ausgeschlossen, in dem keine Aufgabe gestellt wurde.

Tabelle I:
Sämtliche Versuchsergebnisse.

2. Ebenso ist fast durchweg der Prozentsatz der richtigen Bestimmungen dort am größten, wo die Aufgabe und Aussage zusammenfallen. Die zwei Ausnahmen von dieser Regel betreffen die Aussage über die Elemente und sind hier wahrscheinlich dadurch bedingt, daß ich ausdrücklich als Aufgabe stellte, möglichst viele Elemente zu bestimmen, ohne auf die Richtigkeit der Bestimmung Wert zu legen.

3. Die Anzahl der unterbliebenen Aussagen ist am geringsten, wo die Aufgabe mit der Aussage zusammenfällt. Die einzige Ausnahme von dieser Regel beruth auf einem mißglückten Versuch, indem die Aufmerksamkeit der Versuchsperson örtlich abgelenkt war und keine Zeit mehr hatte, sich den Stellen zuzuwenden, wo die zu bestimmenden Elemente sich befanden. Freilich gibt es gelegentlich auch andere Fälle, wo die Zahl der unterbliebenen Aussagen = 0 war, aber nur einen Fall, in dem sie für alle 3 Versuchspersonen = 0 war, nämlich bei den Aussagen über die Figur unter der Aufgabe, die Farbe zu bestimmen.

4. Die Zahl der unbestimmten Aussagen ist am geringsten, wo die Aufgabe mit der Aussage zusammenfällt. Die einzige Ausnahme betrifft einen Fall, wo die Versuchsperson über die Zahl der Elemente erklärte, rechts oben seien 3, unten mehr gewesen, d. h. ein nur partiell unbestimmtes Urteil. Ich habe als unbestimmte Fälle gerechnet: bei der Aussage über die Zahl, wenn nur die Zahl der Wörter angegeben wurde oder wenn die Versuchsperson sagte, es sei unbestimmt, wieviel Elemente da waren; bei Aussage über die Farben, wenn nur Helligkeit oder Dunkelheit oder Verschiedenheit überhaupt oder eine Gleichheit der Farben oder die Einheitlichkeit des Farbeneindrucks oder das Überwiegen von Braun bzw. Blau angegeben, oder wenn der genannten Farbe keine Stelle angewiesen wurde; bei der Aussage über die Figur, wenn sie nur für viereckig oder für unregelmäßig oder für länglich erklärt oder wenn nur die ungefähre Lage der Ecken bezeichnet wurde; bei der Aussage über die Elemente, wenn es hieß, daß große oder kleine Buchstaben kurze oder lange Silben, Schnörkel, Buchstaben wie a oder m sichtbar gewesen sind oder wenn Buchstaben nicht lokalisiert wurden.

5. Die Zahl der falschen Urteile ist für die Aussagen über die Figur dort am Kleinsten, wo auch die Aufgabe Figur war, während sie für die Aussagen über Zahl und Farben am größten und für die Aussagen über die Elemente nahezu ein Minimum ist, wo die Aufgaben entsprechende waren. Die große Zahl der unbestimmten und unterbliebenen Aussagen in den Fällen, wo Aufgabe und Aussage nicht zusammenfallen, erklärt die Abweichungen von der Regel, daß auch die falschen Urteile dort ein Minimum sind, wo Aussage und Aufgabe einander entsprechen.

Diese Ergebnisse besagen also, daß die meisten, richtigsten und bestimmtesten Aussagen da stattfinden, wo die Aussagen mit den Aufgaben zusammenfallen. Die Abstraktion im Sinne des Hervorhebens gewisser Teilinhalte, die positive Abstraktion, gelingt also am besten, wo vorher eine Präokkupation des Bewußtseins, eine Prädisposition für diese Teilinhalte gegeben oder gesetzt war.

In Bezug auf die andere Seite des Abstraktionsprozesses, das Absehen von anderen Teilinhalten, das Zurücktreten derselben für das Bewußtsein, die negative Abstraktion, lehren die Versuche Folgendes:
    1. Die Zahl der Aussagen über die Anzahl der Buchstaben ist ein Minimum für alle 3 Versuchspersonen, wenn jede Aufgabe fehlt. Entsprechend ist die Zahl der unterbliebenen Aussagen hier ein Maximum.

    2. Ferner ist die Zahl der unterbliebenen Aussagen über die Elemente für alle 3 Versuchspersonen ein Maximum bei der Aufgabe Farbe.

    3. Sodann ist die Zahl der richtigen Aussagen für alle 3 Versuchspersonen ein Minimum für die Zahl bei fehlender Aufgabe für die Farben und für die Elemente bei Aufgabe Figur.

    4. Allgemein gilt, daß die Zahl der unterbliebenen Aussagen größer ist für die Gesamtzahl und für die Elemente als für die Farben und für die Figur.
Aus allen diesen Tatsachen geht hervor, daß von den Elementen und ihrer Zahl leichter abstrahiert, abgesehen werden konnte, als von den Farben und der Figur. Damit stimmen die Aussagen der VP überein, die sämtlich erklärten, daß ihnen die Realisierung der Aufgaben Figur und Farbe leichter erscheint, als die Aufgaben Zahl und Elemente. Dabei hingen nach der Aussage der VP die Aufgaben Farbe und Figur einerseits und die Aufgaben Zahl und Elemente andererseits zusammen. Diese Behauptung findet insofern ihre Bestätigung, als die Aufgabe Zahl ein relativ günstiges Ergebnis für die Aussage über die Elemente, aber nicht umgekehrt zur Folge hatte und als die Aufgabe Farbe die Aussage über die Figur und die Aufgabe Figur die Aussage über die Farben relativ begünstigte. Am schwersten fiel 2 VP die Bestimmung der Gesamtzahl von Elementen, was mit der besonderen Versuchsanordnung zusammenhängt. Die dritte dagegen fand die Bestimmung der Elemente am schwierigsten und hat auch die geringste Zahl richtiger Urteile bei dieser Aussage gegeben. Damit kommen wir auch auf individuelle Verschiedenheiten, an denen es natürlich bei diesen Versuchen nicht gefehlt hat. Die eine von meinen VP hatte ein ausgesprochenes Interesse an der Figur und bestimmte diese bei fehlender Aufgabe fast ebensogut, wie bei entsprechender Aufgabe. Eine zweite wurde besonders durch die Farben gefesselt und hatte daneben eine starke Tendenz, die Elemente zu bestimmen. Bei fehlender Aufgabe leistete sie in diesen Richtungen fast ebensoviel wie bei entsprechender Aufgabe. Die dritte Versuchsperson wurde namentlich von der Figur und den Farben in Anspruch genommen, ohne jedoch bei fehlender Aufgabe in diesen Richtungen größere Leistungen aufzuweisen. Im Allgemeinen kann man überhaupt finden, daß es für die Größe und Güte der Leistungen nicht vorteilhaft war, ohne Aufgabe dem Objekt gegenüber zu stehen. Mit Rücksicht auf die hier beobachteten Unterschiede läßt sich die erste und zweite meiner Versuchspersonen als ein formaler und ein materialer Typus betrachten, während die dritte eine Mittelstellung einzunehmen scheint.

Von besonderem Interesse ist noch die Frage, wie sich Differenzen in der Schwierigkeit der zu erfüllenden Aufgabe äußern. Hier ist zweierlei auseinander zu halten. Erstens die durch die größere Schwierigkeit der Aufgabe bedingte stärkere Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit, die gesteigerte Konzentration, die sich nach geläufiger Vorstellung in einer Verstärkung der Abstraktion im negativen Sinn des Wortes äußern muß. Zweitens die durch die größere Schwierigkeit der Aufgabe bedingte schlechtere Leistung, die insbesondere bei denjenigen Aussagen zu konstatieren sein wird, die sich auf die betreffende Aufgabe beziehen. Um diese Frage zu beantworten, wählte ich die Figur, bei der sich Unterschiede der Schwierigkeit am leichtesten und sichersten dadurch konstatieren lassen, daß man unregelmäßige und regelmäßige Figuren einander gegenüberstellt. Auch erklärte eine Versuchsperson ausdrücklich, daß der Konzentrationszustand bei den unregelmäßigen, die Bestimmung erschwerenden Figuren größer ist und mehr absorbiert, als bei den anderen. Zu den regelmäßigen Figuren wurden dabei alle diejenigen gerechnet, bei denen mindestens zwei Seiten einander parallel und gleich waren.

Tabelle II:
Versuche mit den unregelmäßigen Figuren.

Die Berechnung ergab, daß die 10 unregelmäßigen Figuren bedeutend schlechter bestimmt worden waren, als die 10 regelmäßigen. Die Zahl der Bestimmungsstücke war geringer, besonders aber die Zahl der richtigen Fälle sehr vermindert zugunsten der falschen Aussagen. Ebenso war die Zahl der unterbliebenen Aussagen in diesem Fall gesteigert. Das gilt für die Aussage Figur nicht nur bei entsprechender, sondern namentlich auch bei heterogener [verschiedenartiger - wp] Aufgabe. Dieses Ergebnis beweist zunächst nichts anderes, als daß die Größe und Güte der Leistung von der Schwierigkeit der zu realisierenden Aufgabe abhängig ist. Sehen wir uns dagegen die anderen Aussagen an, die bei den unregelmäßigen Figuren gefällt wurden, so zeigt sich im Allgemeinen keine nennenswerte Verringerung und Verschlechterung der Leistung. Das hängt bei den Elementen vielleicht damit zusammen, daß hier die Leistungen überhaupt sehr schwach waren, und bei den Farben damit, daß die Aufgaben Farbe und Figur, wie schon früher gezeigt, in einem engeren Konnex miteinander stehen und eine Steigerung der Konzentration auf die Figur daher nicht irgendeine wesentliche Herabsetzung der Bestimmbarkeit von Farben zu bedeuten braucht. Die Aussagen über Farben zeigen zudem für die unregelmäßigen Figuren im Allgemeinen eher einen kleinen Vorzug, so daß die Leistung hier wahrscheinlich etwas erleichtert war. Auch dieser Umstand mußte einer deutlichen Wirkung der Konzentrationssteigerung auf die negative Abstraktion entgegenstehen. Die Aussagen über die Zahl sind bei den unregelmäßigen Figuren im allgemeinen etwas schlechter. Das scheint auf die auch sonst bekannte Abhängigkeit der Zahlbestimmung von der Anordnung des zu zählenden Materials hinzuweisen. Im Übrigen ist aus schon hervorgehobenen Gründen auf die Resultate der Zahl-Aussagen kein besonderes Gewicht zu legen. Beschränken wir die Betrachtung auf den Fall der Aufgabe Figur, so zeigt sich ein Einfluß der stärkeren Inanspruchnahme gar nicht oder kaum merklich bei den Aussagen über die Zahl und die Farben, dagegen recht deutlich bei denen über die Elemente, wo die Z, r und f wesentliche Unterschiede gegenüber den die regelmäßigen Figuren mit berücksichtigenden Ergebnissen der Tabelle I aufweisen. Hier liegt eine entschiedene Wirkung der negativen Abstraktion vor: die größere Absorption, die eine Bestimmung der Figur bei den unregelmäßigen Figuren bedeutet hat, ist mit einer wesentlichen Verschlechterung der Leistung für die Elemente verbunden. Dieses auch praktisch nicht uninteressante Resultat läßt wiederum erkennen, daß bei unserer Versuchsanordnung die Bestimmung der Elemente den schwierigsten Fall repräsentierte, was auch daraus hervorgeht, daß nach Tabelle I unter den im Ganzen möglichen 240 Angaben über die Elemente höchstens 91 ausgeführt worden sind, während von den 80 möglichen Angaben über die Farben einmal 78 erfolgt sind und daß die Prozentzahl der r bei den Elementen niemals die Höhe der bei den anderen Aussagen vorkommenden maximalen Werte erreicht hat. Wir werden demnach behaupten dürfen, daß die negative Abstraktion bei der schwierigsten Aufgabe den merklichsten Effekt hat. Je leichter eine Aufgabe ist, umso eher ist wohl eine Kompensation der in der positiven Abstraktion gesetzten Steigerung der Absorption durch eine Vermehrung der Aufmerksamkeitsenergie möglich.

Im Übrigen mag hervorgehoben werden, daß die aus Tabelle I abgeleiteten allgemeinen Sätze sich trotz der geringen Versuchszahl (!!) auch in Tabelle II bestätigt finden.

Über den Prozeß der Abstraktion bei unseren Versuchen ist Folgendes mitzuteilen. Die Vorbereitung bestand bei den Aufgaben zumeist in einer akustisch-motorischen Wiederholung des Stichwortes, bei einer meiner VP nur in einer passiven Erwartung und etwa noch in dem Zustand, daß sie wußte, worum es sich handelt. Außerdem wurde die Fläche vor dem Signal, das zur Fixierung des leuchtenden Punktes auf dem Schirm aufforderte, mit den Augen überflogen, wenn es sich um die Aufgabe Farbe und Figur handelte, um sozusagen den ganzen Umfang des Bildes auszumessen, während bei den Elementen ein solches Verfahren unterblieb. Hier wurde gelegentlich eine Reihe von Buchstaben als unbestimmte Vorstellung des Gesichtssinns während der Vorbereitung reproduziert. Fehlte eine Aufgabe so war ein indifferenter Zustand mit wechselnden Vorstellungen gegeben, die auf die verschiedenen Aufgaben sich fast gar nicht bezogen. Freilich fehlte eine Aufgabe auch hier nicht ganz. Die VP wußte, daß sie ein optisches Objekt zu bestimmen hat. Es war ihr nur für diese Bestimmung vorher keine Direktion gegeben. Die Aufmerksamkeit durfte und sollte sich den Teilinhalten zuwenden, die von selbst, unwillkürlich am meisten anzogen. Man dürfte daher streng genommen in diesem Fall nur von einer unbestimmten Aufgabe reden.

Die Durchführung der Aufgaben ist nicht näher zu beschreiben. Die Gegensätze eines eingeengten und eines möglichst erweiterten Gesichtsfeldes machten sich namentlich für die Aufgabe Elemente einerseits und die übrigen Aufgaben geltend. Die Bestimmung des der Aufgabe entsprechenden Tatbestandes vollzog sich zuerst, die Bestimmung der anderen Teilinhalte vielfach nur aufgrund von Reproduktionen. Eine Versuchsperson erklärte, es sei ihr, als wenn sich der Prozeß des Bestimmens völlig von dem des Sehens ablöse. Eine andere behauptete öfter, sie habe mehr gesehen bzw. gewußt, als sie nachher anzugeben imstande gewesen. Mit besonderer Deutlichkeit schien sich die Figur für zwei Versuchspersonen von den übrigen Teilinhalten ablösen zu lassen. Eine von ihnen erklärte wiederholt, daß sie geradezu einen plastischen Eindruck von der Figur erhalten habe. Auch die einzelnen Elemente wurden mehrfach in gesteigerter Deutlichkeit wahrgenommen. Eine solche Steigerung der positiven Abstraktion war auch mit einer solchen der negativen verbunden. Die Deutlichkeit der aufmerksam erfaßten Inhalte stand in einem umgekehrten Verhältnis zu der Deutlichkeit der übrigen. Mißlungen ist mir bei den wirklichen Versuchen kein einziger wegen ungenügender oder verkehrter Realisierung der Aufgabe.

Stellen wir endlich zum Schluß noch die wichtige Aufgabe, wie sich die mitgeteilten Ergebnisse erklären und verwerten lassen, werden. Für die Erklärung ist zunächst wesentlich, ob die gefundenen Unterschiede der Aussagen je nach der Aufgabe, die zu erfüllen war, auf Unterschiede der Gesichtsempfindungen oder der apperzipierenden Faktoren zurückzuführen sind. Werden z. B. die Elemente oder die Farben anders gesehen, wenn entsprechende und wenn heterogene Aufgaben vorliegen, oder werden sie anders aufgefaßt, ohne daß die Gesichtsempfindungen selbst in beiden Fällen einen erheblichen oder wesentlichen Unterschied darbieten? Darauf kann, wie ich meine, nach unserem Protokoll und der ganzen Versuchsanordnung nur gesagt werden, daß der Unterschied lediglich oder doch wenigstens der Hauptsache nach in der Auffassung, nicht aber in den Empfindungen liegen kann. Mag ferner in manchen Fällen ein rasches Vergessen stattgefunden und die Aussagen über die der Aufgabe nicht entsprechenden Teilinhalte beeinträchtigt haben, so ist doch zumeist, wie ich aufgrund des Protokolls feststellen kann, die Auffassung selbst unmittelbar eine andere gewesen für entsprechende und für heterogene Aufgaben. Das zeigte sich namentlich bei den Farben. Die Zahl der unbestimmten Aussagen steigt hier in der Regel beträchtlich an, sobald eine heterogene Aufgabe vorliegt. Die Farben erscheinen tatsächlich nur als gleich oder verschieden, als dunkel oder bleiben ohne Ortsbestimmung. Ähnlich verhält es sich bei den unbestimmten Aussagen über die Elemente. Am stärksten zeigt sich die apperzeptive Natur dieser Tatsachen darin, daß Aussagen über Elemente oder Farben überhaupt, in jeder Richtung unterbleiben. Die VP ist z. B. imstande eine Figur richtig zu beschreiben, ohne über die Beschaffenheit der sie begrenzenden Objekte irgendetwas unmittelbar im Bewußtsein erlebt zu haben.

Ich lege Wert darauf zu konstatieren, daß ich den Abstraktionstatsachen unmittelbare Bewußtseinsphänomene vorliegen. Der sprachliche Ausdruck ist nicht etwa ausschließlich für die gefundenen Unterschiede verantwortlich zu machen. Damit soll nicht geleugnet werden, daß gelegentlich Mängel in der sprachlichen Bezeichnung auch eine Rolle gespielt haben. Aber sie sind durchaus nicht schlechthin für unsere Ergebnisse in Anspruch zu nehmen, so wenig wie man Gedächtnisfehler dafür allein heranziehen darf. Die Versuchspersonen glaubten tatsächlich die Eindrücke in der angegebenen Unbestimmtheit zu sehen, bzw. tatsächlich keine Farbe, kein Objekt usw. wahrgenommen zu haben. Da nun die Psychologie als Wissenschaft den Empfindungen regelmäßig bestimmte Eigenschaften beilegt, sie aus bestimmten Teilinhatlen bestehen läßt, so geht daraus hervor, daß sie zwischen den psychischen Vorgängen und dem Bewußtsein von ihnen unterscheidet.

Daß dieser Unterschied gemacht werden muß, etwa in demselben Sinn, wie man zwischen physischen Vorgängen und dem Bewußtsein von ihnen unterscheidet, daß mit anderen Worten die alte Lehre von einem inneren Sinn mit der dazu gehörigen Gegenüberstellung von Bewußtseinswirklichkeit und Realität für das Gebiet der Psychologie eine zeitgemäße Erneuerung finden muß - das ist das prinzipielle Ergebnis, das ich meinen Versuchen entnehmen möchte. Im Anschluß daran definiere ich die Abstraktion als den Prozeß, durch den das logisch oder psychologisch Wirksame vom logisch oder psychologisch Unwirksamen geschieden wird. Die wirksamen Teilinhalte sind für unser Denken und Vorstellen die positiv abstrahierten, die unwirksamen aber diejenigen, von denen abstrahiert worden ist. Für unser Bewußtsein gibt es demnach abstrakte Vorstellungen, für die psychische Realität gibt es nur konkrete Vorstellungen. Damit ist zugleich der alte Streit zwischen Nominalismus und Realismus seiner Entscheidung näher geführt.
LITERATUR - Oswald Külpe, Versuche über Abstraktion, Bericht über den I. Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen vom 18. bis 21. April 1904, Leipzig 1904