p-4 cr-2P. SzendeH. SchmidkunzA. RapoportE. Fränkel  
 
HANS CORNELIUS
Zur Theorie der Abstraktion
[ 1 / 2 ]

"Der hohe Oboenton wird etwa als hoch wiedererkannt und von den tiefen Tönen unterschieden, ohne daß wir dazu an hohe  Klavier töne denken müßten; er wird im Allgemeinen nebenher  auch  als Oboenton wiedererkannt werden. Wo es sich speziell um seine Höhe handelt, darf jedenfalls das erstere Wiedererkennen nebst der entsprechenden Unterscheidung nicht fehlen. Ist aber von seiner Höhe ausdrücklich als ein von seiner Klangfarbe unabhängigen Qualität, also von der Höhe im  Gegensatz  zur Klangfarbe die Rede, wird mit anderen Worten von uns verlangt, daß wir von der Klangfarbe  abstrahieren  und  ausschließlich  auf die Höhe achten sollen, so werden wir uns, um den  Sinn  dieser Forderung zu verstehen, eben vergegenwärtigen müssen, daß der Begriff der Höhe nicht nur für Oboentöne einen Sinn hat, sondern daß es auch  andere  hohe Töne gibt und daß wir, während wir den Oboenton hören, eben nur an  das  denken sollen, was er mit diesen  anderen  hohen Tönen gemein hat: daß wir uns also seiner Ähnlichkeit mit diesen anderen und nicht bloß seiner Ähnlichkeit mit anderen Oboentönen erinnern sollen."

Eine Reihe teils mündlicher, teils brieflicher Diskussionen, die sich auf meinen Artikel "Über Gestaltqualitäten" (1) bezogen und denen sich zuletzt noch eine Polemik von LIPPS (2) in dieser Zeitschrift angeschlossen hat, veranlassen mich auf die Voraussetzungen meiner damaligen Erörterungen nochmals zurückzukommen.

Meine Absicht in jenem Aufsatz war gewesen, den Begriff der Gestaltqualitäten als notwendige Konsequenz derjenigen Abstraktionstheorie aufzuzeigen, welche ich in meiner Psychologie entwickelt habe. Die oben erwähnten Diskussionen betrafen insgesamt zunächst nicht jene Ableitung des Begriffs der Gestaltqualitäten, sondern die zugrunde liegende Abstraktionstheorie. Mit dieser beschäftigt sich daher die folgende Darlegung. Sie formuliert zunächst als das Grundproblem der Abstraktionstheorie die Frage nach dem  Ursprung  unserer Begriffe von Merkmalen eines Bewußtseinsinhaltes. Alsdann sucht sie die von verschiedenen Seiten gegen meine bisherige Darstellung der Abstraktionstheorie erhobenen Einwände zurückzuweisen, indem sie ausführlicher, als es bisher geschehen war, die Betrachtungen durchführt, welche zur Beantwortung jener Frage führen.

Ich beschränke mich hier wie in jenem vorigen Aufsatz auf die Betrachtung der Abstraktion auf dem Gebiet der sinnlichen Empfindungsinhalte. Wie sich die für dieses Gebiet gewonnenen Ergebnisse auf andere Gebiete übertragen lassen, ist eine weitere Frage, die ich im vorliegenden Zusammenhang nicht erörtere, für deren Beantwortung ich vielmehr auf die entsprechenden Ausführungen in meiner Psychologie verweisen muß.


1. Das Problem der distinctio rationis

a) Wir unterscheiden an den einheitlichen Inhalten unserer sinnlichen Wahrnehmungen verschiedenerlei "Qualitäten", "Modifikationen" oder "Merkmale", ohne daß wir doch jemals diese unterschiedenen Merkmale tatsächlich voneinander  getrennt  wahrnehmen. Wir unterscheiden etwa an einer gesehenen Figur  Form  und  Farbe,  an einem gehörten Ton  Höhe, Stärke  und  Klangfarbe,  ohne daß wir doch jemals eine Figur  ohne  Farbe, einen Ton  ohne  Höhe wahrgenommen hätten. Wir können eines jener Merkmale "beachten" und das andere oder die anderen "unbeachtet lassen". Aber wir sind darum doch alle überzeugt, daß das nicht beachtete Merkmal nichts desto weniger jedesmal  vorhanden  gewesen sei.

Dieselbe Überzeugung gewinnen wir nicht bloß hinsichtlich unserer Empfindungen, sondern auch hinsichtlich der entsprechenden Gedächtnis-(Phantasie-) Vorstellungen. Wir können uns einen Ton vorstellen und dabei etwa nur auf seine Klangfarbe achten, nur "an seine Klangfarbe denken". Wir sprechen in solchen Fällen davon, daß wir uns nur  das betreffende Merkmal vorstellen,  die "abstrakte Vorstellung" dieses Merkmals bilden. Aber auch hier läßt uns eine nachträglich Überlegung stets erkennen, daß wir uns den Ton zugleich in einer gewissen Höhe und Intensität vorgestellt haben, die wir nur im betreffenden Augenblick "nicht beachtet", von denen wir "abstrahiert" hatten.

Die einzelnen Merkmale erscheinen uns also in unseren Empfindungs- und Gedächtnisinhalten nicht von vornherein voneinander getrennt, sondern im Gegenteil überall zu einer einheitlichen Gesamterscheinung verbunden: jeder jener Inhalte in den obigen Beispielen vereinigt jederzeit und notwendigerweise mehrere Merkmale in sich. Es fragt sich daher,  wie wir trotzdem zu jener Trennung kommen,  d. h. in welcher Weise wir die Begriffe der einzelnen Merkmale gewinnen.

b) Diese Frage kann nicht mit der Behauptung abgewiesen werden, daß die Abstraktion ein  ursprünglicher Tatbestand  und jene Begriffe ebenso ursprüngliche Bestandteile unserer Erfahrung seien, wie die konkreten Empfindungen. Denn die Begriffe der verschiedenen Merkmale etwa eines Tones sind nicht mit dem Hören des ersten Tons sogleich als solche bekannt und unterschieden. An  einem  Ton ohne gleichzeitigen Hinweis auf  andere  Töne kann ich einem Kind, das jene Begriffe noch nicht besitzt, den Unterschied von Höhe und Klangfarbe nicht klar machen. Die Begriffe dieser Merkmale erhalten erst durch die Erfahrungen ihren Inhalt, welche an einer Reihe von Tönen verschiedener Höhe, an Klängen verschiedener Klangquellen gemacht werden. Die Begriffe der Merkmale  bilden  sich also erst durch gewisse größere Erfahrungsreihen: die Frage nach dem Mechanismus ihrer  Entstehung  ist folglich eine durchaus berechtigte Frage.

Eben diese Frage ist es, welche die von mir gegebene Theorie der Abstraktion zu lösen versucht.

c) Dieselbe Frage kann auch als die Frage nach dem  psychischen  Tatbestand formuliert werden, der vorliegt, wo wir ein einzelnes Merkmal beachten oder dasselbe in abstracto vorzustellen meinen. Auch auf diese Frage erhalten wir  nicht  die genügende Antwort mit jener Behauptung, daß die fraglichen Tatbestände eben unmittelbar gegeben und nicht weiter analysierbar seien. Denn wenn sich in irgendeinem Fall ein psychischer Tatbestand als  abhängig  von früheren Erlebnissen' erweist - wie es die eben angestellte Überlegung für die "distinctio rationis" [Unterscheidung durch den Verstand - wp] ergab - so sind überall, wo ein solcher Tatbestand vorliegt, die Nachwirkungen jener vergangenen Erlebnisse als Bestandteile des gegenwärtigen Tatbestandes aufzuweisen. Mag man dieselbe als  "unbewußte  Vorstellungen" (nach LIPPS) als "fringes" (nach JAMES) oder als  "unbemerkte  Teilinhalte" (nach mir) bezeichnen: in jedem Fall müssen sie als solche aufgezeigt und in ihrer Wirksamkeit für den gegenwärtigen Bewußtseinszustand bestimmt werden, wenn die Analyse des letzteren  vollständig  gegeben werden soll.

Es versteht sich von selbst, daß es zu einer solchen Analyse nicht genügt,  das  zu konstatieren, was die augenblickliche Erfahrung unmittelbar erkennen läßt, da die Nachwirkungen des Vergangenen sich im Allgemeinen eben  nicht  in jedem späteren Augenblick unmittelbar als solche für das Bewußtsein zu erkennen geben, so sehr auch der Gesamtbewußtseinszustand tatsächlich durch sie beeinflußt sein mag. Daß die direkte Erfahrung diesen oder jene Faktor unseres Bewußtseinszustandes nicht erkennen läßt, wird also niemals als Argument dafür gebraucht werden dürfen, daß der fragliche Faktor tatsächlich nicht existiert. Über die Gesamtheit der Faktoren der Tatbestände unseres entwickelten Lebens können wir vielmehr stets nur durch eine  genetische  Analyse Aufschluß gewinnen.


2. Die Entstehung der Merkmalsbegriffe

a) Um die im vorigen gestellte Frage zu beantworten, erinnere ich zunächst an die Tatsache der - durch die Ungenauigkeit unseres Gedächtnisses bedingten -  Unbestimmtheit des Wiedererkennens  unserer Empfindungen.

Wir können uns bekanntlich von dieser Tatsache noch in den späteren Entwicklungsphasen unseres Lebens täglich überzeugen, wenn wir etwa eine Farbe einer anderen, nur erinnerten Farbe als  gleich  beurteilen und bei nachträglichem direkten Vergleich beider Farben noch erhebliche Unterschiede der Nuance oder der Helligkeit konstatieren. Übung kann diese Ungenauigkeit erheblich verringern; aber nicht auf diese allmählich zu gewinnende  Verfeinerung  des Wiedererkennens, sondern auf seine ursprüngliche  Unbestimmtheit  kommt es für den vorliegenden Zweck an.

Ich will die Konsequenzen dieser Unbestimmtheit des Wiedererkennens zunächst an einer Reihe möglichst einfacher Beispiele zu verdeutlichen suchen, deren Verallgemeinerung die Antwort auf die gestellte Frage unmittelbar ergibt.

b) Man denke sich etwa ein Kind, welches, bisher in durchaus unmusikalischer Umgebung aufgewachsen, noch nicht die uns geläufigen Begriffe der Merkmale von Tönen besitzt. Einem solchen Kind werden, wenn ihm zum erstenmal etwa  Klaviertöne  mittlerer Lage' zu Gehör kommen, diese Töne zunächst als etwas  Neues  auffallen. Hört es den folgenden Tag abermals solche Töne, so werden sie ihm nunmehr bereits als etwas  Bekanntes  erscheinen. Es wird sie vielleicht schon bei der ersten, sicher bei einer der nächsten Wiederholungen als  Erlebnisse von derselben Art  wiedererkennen, wie sie ihm zu den zuvor bezeichneten Zeitpunkten begegnet sind.

Mit einem solchen Wiedererkennen hat das Kind einen bestimmten  Begriff  musikalischer Töne gewonnen - gleichviel ob es ihn bereits mit irgendeinem Wort zu bezeichnen lernt. Notwendig für das Zustandekommen dieses Begriffs war erst einmal jene  Unterscheidung  der ersten Töne von anderweitigen Inhalten, da dem Kind ohne diese Unterscheidung überhaupt nichts Neues für sein Bewußtsein gegeben gewesen wäre. Nicht minder notwendig aber war dafür das  Wiedererkennen  der Töne, da ohne ein solches Wiedererkennen der neue Begriff nicht seine bestimmte, von jedem anderen Begriff unterschiedene Bedeutung erhalten könnte: würde ein solches Wiedererkennen fehlen, so wären die Klaviertöne jedesmal als etwas völlig Neues, noch  Unbekanntes  charakterisiert.

c) Jenes erste Wiedererkennen der Töne ist stets insofern noch  unbestimmt,  als eine genauere Kenntnis,  welcher  der  heute  gehörten Töne  gestern  gehört wurde, in der betrachteten Entwicklungsphase regelmäßig fehlt. Es sei etwa in jenem ersten Fall  nur  der Ton  a  wiederholt zu Gehör gebracht worden, ohne daß besondere Anhaltspunkte zu Vergleichungen (etwa mit den Tönen bekannter menschlicher Stimmen) gegeben waren. Werden nun am zweiten Tag etwa die Töne  a - as - a - b - h - c  in beliebiger Folge wiederholt angegeben, so wird ein Wiedererkennen all dieser Töne als Töne "derselben Art wie gestern" eintreten; eine Unterscheidung aber, welcher dieser Töne mit dem gestern gehörten zusammenfällt und welche davon verschieden sind, kommt nicht zustande. (3)

Die hier beschriebene Erfahrung zeigt unmittelbar die Ungenauigkeit des Wiedererkennens. Aufgrund eben dieser Ungenauigkeit habe ich das Wiedererkennen nicht als Gleichheits-, sondern als Ähnlichkeitserkenntnis bezeichnet. (4) Das Beispiel zeigt zugleich, welche Rolle diese Ungenauigkeit bei der Entstehung der ersten Begriffe unserer Wahrnehmungen spielt: nur vermöge der Ungenauigkeit des Wiedererkennens erscheinen die tatsächlich verschiedenen Töne von vornherein unmittelbar als  gleichartig  und aus demselben Grund erweist sich der Umfang des gewonnenen Begriffs von vornherein nicht bestimmt begrenzt.

d) Nachdem das Kind auf die angegebene Weise den Begriff von Tönen eines  anderen Instruments,  etwa einer Oboe, erweitert. Diese neuen Erlebnisse werden sogleich als Erlebnisse ähnlicher Art wie jene früheren wiedererkannt, werden eventuell sogar sofort als "Töne" bezeichnet. Ebenso aber wird sich ein  Unterschied  derselben von all jene früher gehörten Tönen unmittelbar bemerkbar machen. Damit aber der diesen Unterschied bezeichnende neue Begriff der "Oboentöne" im Gegensatz zu den von früher her bekannten Klaviertönen sich bildet, genügt es nicht, daß jeder einzelne der neuen Töne als  verschieden  von jenem früheren erkannt wird. Vielmehr ist zu dieser neuen Begriffsbildung ebenso und aus demselben Grund wie bei jener ersteren unumgänglich erforderlich, daß die neuen Töne untereinander als  ähnlich  erkannt, bzw. jeder folgende dieser Töne als  den vorhergegangenen dieser neuen Reihe gleichartig  wiedererkannt wird. Wo dieses Wiedererkennen fehlen würde, könnte der Oboentun nur eben als etwas  Neues,  nicht aber als etwas unter diesen bestimmten und jetzt bereits bekannten Begriff Gehöriges erscheinen. Erst durch das Bewußtsein der gegenseitigen Ähnlichkeit dieser neuen Töne, zusammen mit ihrer Unterscheidung von der bereits bekannten Gruppe der Klaviertöne, kann der Begriff der Oboentöne seine Bestimmtheit gewinnen.

e) Die bisherige Beschreibung hat gezeigt, wie nicht nur der allgemeine Begriff von Tönen, sondern auch die Begriffe von  Unterarten  des ersteren durch Unterscheidung und Wiedererkennen (und niemals  ohne  diese beiden Faktoren) zustande kommen.

Schon aufgrund der beschriebenen Tatsachen ist eine erste Unterscheidung von  Merkmalen  im Tongebiet gegeben: ob einem Ton die  Klangfarbe der Oboe oder des Klaviers  zukommt, wird auf diesem Punkt der Entwicklung zwar vielleicht noch nicht in dieser  Ausdrucksform,  sicher aber dem  Sinn  nach vollkommen verständlich und unmittelbar zu erkennen sein. Der Nachweis, daß der Begriff eines jeden dieser Merkmale nicht ohne die betreffende Ähnlichkeitserkenntnis seine Bedeutung gewinnen kann, bedarf wohl nicht nochmaliger Wiederholung.

Die eben genannten Merkmale sind solche, die  nicht demselben Ton gleichzeitig  zukommen. In derselben Weise aber entwickeln sich neben (und eventuell vor) der Bildung von Begriffen der eben bezeichneten Art weitere Begriffe von Unterarten der Töne, welche im Verein mit jenen zu einer Unterscheidung  gleichzeitiger  Merkmale  desselben  Tones führen: in erster Linie die Begriff  hoher  und  tiefer  Töne.

Fast muß ich fürchten den Leser zu ermüden, wenn ich hier nochmals darauf hinweise, wie auch für die Entstehung dieser Begriffe nicht bloß die Unterscheidung, sondern auch das Wiedererkennen eine unumgänglich Bedingung ist. Die Rücksicht auf die Einwände, die gegen diese Behauptung erhoben worden sind, läßt einen solchen Nachweis jedoch nicht entbehrlich erscheinen.

Daß für die Entstehung der Begriffe hoher und tiefer Töne zunächst die  Unterscheidung  derjenigen Töne erforderlich ist, die später als hoch und tief bezeichnet werden, bedarf nicht der Erwähnung. Daß aber auch das  Wiedererkennen  derselben nicht fehlen darf, zeigt wiederum die Überlegung, daß ohne ein solches Wiedererkennen die Begriffe keinerleich Bestimmtheit gewinnen können - daß wir den hohen Ton ohne das Wiedererkennen eben nicht als zugehörig zu einer schon  bekannten  Art (Gruppe der hohen Töne) erkennen würden, sondern ihn als etwas ebenso  Neues  vorfinden würden, wie am ersten Tag.

f) Indem nun aber weiter - um beim obigen Beispiel zu bleiben -  sowohl  gewisse  Oboentöne als auch  gewisse  Klaviertöne  in gleicher Weise als  "hohe"  Töne wiedererkannt und von "tiefen" unterschieden werden, ist eine neue  Unterscheidung von Merkmalen  gewonnen: je nachdem der fragliche Ton als "Oboenton" oder als "hoher Ton" wiedererkannt wird, d. h. je nachdem sich die Erkenntnis seiner Ähnlichkeit mit den als "Oboentöne" oder den als "hohe Töne" bekannten Empfindungen einstellt, wird ihm  das eine oder das andere  Merkmal "beigelegt", das seine oder das andere Merkmal "an ihm erkannt" werden.

Sind es die im vorigen beschriebenen Tatsachen, die zur Bildung der Begriffe der einzelnen Merkmale führen, so sind sie es auch, die wir bezeichnen, wo wir davon sprechen, daß Ähnlichkeit in einer bestimmten  Hinsicht  oder in einer bestimmten  Richtung  erkannt wird: mit der Angabe dieser Hinsicht oder Richtung wird jedesmal eben auf diejenige  bekannte Gruppe  von Inhalten hingewiesen, zu welcher der vorliegende Inhalt im gegebenen Moment als zugehörig erkannt wird. Da solche Gruppen uns nach dem Vorigen stets  in concreto  bekannt werden, so setzt dieser Hinweis auch keinerlei Abstraktion voraus. (5)

Man sieht, daß der  Gegensatz  der Merkmale "Höhe" und "Klangfarbe" darauf beruth, daß der gegebene Ton einerseits nicht bloß den Tönen  seines  Instruments, sondern auch denjenigen  anderer  Instrumente, andererseits nicht bloß den  hohen  Tönen, sondern auch den  tiefen  Tönen seines Instrumentes als ähnlich unmittelbar wiedererkannt wird. Wo es sich nicht um die  Betonung  dieses Gegensatzes handelt, wird eine solche Unterscheidung nicht ausdrücklich vollzogen werden. Der hohe Oboenton wird etwa als hoch wiedererkannt und von den tiefen Tönen unterschieden, ohne daß wir dazu an hohe  Klavier töne denken müßten; er wird im Allgemeinen nebenher  auch  als Oboenton wiedererkannt werden. Wo es sich speziell um seine Höhe handelt, darf jedenfalls das erstere Wiedererkennen nebst der entsprechenden Unterscheidung nicht fehlen. Ist aber von seiner Höhe ausdrücklich als ein von seiner Klangfarbe unabhängigen Qualität, also von der Höhe im  Gegensatz  zur Klangfarbe die Rede, wird mit anderen Worten von uns verlangt, daß wir von der Klangfarbe  abstrahieren  und  ausschließlich  auf die Höhe achten sollen, so werden wir uns, um den  Sinn  dieser Forderung zu verstehen, eben vergegenwärtigen müssen, daß der Begriff der Höhe nicht nur für Oboentöne einen Sinn hat, sondern daß es auch  andere  hohe Töne gibt und daß wir, während wir den Oboenton hören, eben nur an  das  denken sollen, was er mit diesen  anderen  hohen Tönen gemein hat: daß wir uns also seiner Ähnlichkeit mit diesen anderen und nicht bloß seiner Ähnlichkeit mit anderen Oboentönen erinnern sollen.

Das "Beachten eines Merkmals" wird also verschieden ausfallen, je nachdem es sich um eine ausdrücklich Gegenüberstellung verschiedener Merkmale handelt oder eine solche Gegenüberstellung unterbleibt.

g) Mit der eben durchgeführten Betrachtung erledigt sich zunächst der dritte der Einwände, welche LIPPS jüngst gegen meine Abstraktionstheorie erhoben hat. LIPPS sucht meine Theorie durch die Bemerkung zu widerlegen, daß die Gruppe der hohen Töne doch auch Töne von der Klangfarbe des vorgelegten Tones enthalte. Er meint, durch die Erkenntnis der Ähnlichkeit des vorgelegten Tones mit  diesen  Tönen der Gruppe werde der Voraussetzung wiedersprochen, daß ich "auf die Höhe achte"; denn nach meiner Definition sei hiermit ja eben auch die Klangfarbe "beachtet". Das Beachten eines Merkmals an einem Inhalt kann folglich nicht in der Erkenntnis der Zugehörigkeit des Inhalts zu einer bestimmten Ähnlichkeitsgruppe bestehen.

Wenn ich aber bei einem hohen Oboenton  ausschließlich  auf die Höhe, d. h. im Gegensatz zu seiner Klangfarbe achten soll, so ist es dazu nach dem Vorigen eben nicht  genug,  daß ich seine Ähnlichkeit mit den hohen Tönen gleicher Klangfarbe erkenne, sondern ich muß zum angegebenen Zweck gerade seine Ähnlichkeit mit den Tönen  anderer  Klangfarbe erkennen, durch welche sich die Ähnlichkeitsgruppe "hohe Töne" im Allgemeinen von der  engeren  Ähnlichkeitsgruppe "hohe  Oboen töne" unterscheidet. Daß ich  auch  die Ähnlichkeit mit letzteren - im Allgemeinen wohl in erster Linie - erkenne, hindert doch nicht, daß ich weitergehe und die gestellte Forderung des ausschließlichen Achtens auf die Höhe im Gegensatz zur Klangfarbe in der angegebenen Weise erfülle. Solange ich mich nur der ersteren Ähnlichkeit erinnere, habe ich die genannte Forderung eben noch  nicht  erfüllt; erst wenn mir die Ähnlichkeit des gegebenen Tons mit Tönen  anderer  Klangfarbe  verschiedene  Merkmal unter ausdrücklicher Abstraktion von der Klangfarbe geachtet.

Der Zirkel, den LIPPS in meiner Theorie zu finden meint, kommt also nur dadurch zustande, daß er in seinem Einwand die Konsequenzen meiner Theorie nicht hinreichend beachtet.

h) Die Frage, mit welcher LIPPS in seinem  ersten  Einwand die vorgetragene Theorie zu widerlegen sucht, ist ebenfalls im vorigen beantwortet: die Ähnlichkeitsgruppen  entstehen  für uns, weil zwischen den Inhalten unserer Wahrnehmungen die Unterschiede und Ähnlichkeiten  bestehen,  welche die verschiedenen Arten der Zusammenfassung dieser Inhalte zu "Gruppen ähnlicher Inhalte" nicht bloß ermöglichen, sondern notwendig bedingen.  Derselbe  Inhalt gehört vermöge dieser Unterschiede und Ähnlichkeiten nicht bloß  einer,  sondern  mehreren  dieser Gruppen an: je nachdem ich seine Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen dieser Gruppen, d. h. seine Ähnlichkeit mit den übrigen Gliedern der einen oder der anderen dieser Gruppen erkenne, werde ich ihn mit dem Wort bezeichnen, welches dem einen oder dem anderen Merkmale entspricht.

Natürlich darf aber die obige Frage nicht in die Form gefaßt werden, die ihr LIPPS gibt: "wie komme ich dazu, die Töne lediglich mit Rücksicht auf die Tiefe zu einer Gruppe zusammenzuordnen?" Denn in dieser Fassung der Frage ist gerade der Begriff bereits gebraucht und somit als bekannt vorausgesetzt, nach dessen Entstehung erst gefragt werden soll. Die Frage enthält also, wenn sie das Problem der Entstehung der Ähnlichkeitsgruppen treffen soll, einen Zirkel in ihrer Formulierung und es ist daher nicht zu verwundern, wenn die Antwort, die LIPPS auf die so gestellte Frage erteilt, einen Zirkel zutage fördert. Nur fällt dieser Zirkel eben nicht meiner Theorie zur Last, sondern dem Fragesteller. Natürlich können wir  nachträglich,  nachdem wir den Begriff des Tiefenmerkmals einmal besitzen, die betreffende Ähnlichkeitsgruppe als die Gruppe der tiefen Töne bezeichnen und sagen, diese Töne seien "nach der Tiefe" zusammengeordnet. Allein die Tatsache, daß wir diesen Begriff jetzt besitzen und anwenden können, darf uns doch nicht hindern nach den Tatbeständen zu fragen, durch welche eben dieser Begriff der "Tiefe" - oeder eines sonstigen Merkmals - in der Entwicklung unseres psychischen Leben seine Bedeutung und seine Bestimmtheit gewonnen hat.
Literatur - Hans Cornelius, Zur Theorie der Abstraktion, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Nr. 24, Leipzig 1900
    Anmerkungen
    1) CORNELIUS, Über Gestaltqualitäten, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesempfindungen, Nr. 22, Seite 101f
    2) THEODOR LIPPS, Zu den "Gestaltqualitäten", Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesempfindungen, Nr. 22, Seite 383f
    3) Ich bediene mich hier der durch Anführungszeichen hervorgehobenen  Benennung,  wie sie zum Ausdruck des betreffenden Urteils erforderlich ist, mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß der betrachtete Vorgang durchaus unabhängig davon ist, ob das Kind bereits eine solche Benennung vollzieht.
    4) HANS CORNELIUS, Psychologie, Seite 41
    5) Vgl. meine vorige Abhandlung, diese Zeitschrift 22, Seite 110