ra-2Gide / RistAllgemeine Gedanken über soziale Politik    
 
ANTON MENGER
Das Recht auf den
vollen Arbeitsertrag

[4/6]
    Vorrede / Einleitung
§ 1a Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag
§ 1b Das Recht auf Existenz
§ 1c Das Recht auf Arbeit
§ 2. Die deutsche Rechtsphilosophie
§ 3. William Godwin
§ 4. Charles Hall
§ 5. William Thompson
§ 6. Der Saint-Simonismus
§ 7. Pierre-Joseph Proudhon
§ 8. Rodbertus
§ 9. Marx
§ 10. Louis Blanc und Lassalle

"Thompson und seine Nachfolger sind nur insofern originell, daß sie Grundrente und Kapitalgewinn als  unrechtmäßige  Abzüge betrachten, welche mit dem Recht des Arbeiters auf den vollen Arbeitsertrag im Widerspruch stehen. Der Unterschied beider Auffassungen ist also auch hier rechtsphilosophisch, nicht nationalökonomisch."


§ 5. William Thompson

Völlig ausgebildet erscheint der sozialistische Ideenkreis, soweit dieser das Recht auf den vollen Arbeitsertrag zum Mittelpunkt hat, in den Schriften WILLIAM THOMPSONs. Aus seinen Werken habe die späteren Sozialisten: der Saint-Simonismus, PROUDHON, namentlich aber MARX und RODBERTUS ihre Ansichten direkt oder indirekt geschöpft. Dessen ungeachtet wird dieser Schriftsteller, welcher der hervorragendste Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus ist, in den neueren Geschichtswerken nur wenig beachtet. (1)

WILLIAM THOMPSON, von Geburt Irländer, war einer der literarischen Hauptvertreter des Kooperativsystems, für welches ROBERT OWEN im zweiten und dritten Dezennium dieses Jahrhunderts in England eine lebhafte Agitation betrieb. Er war ein Schüler BENTHAMs, dessen Ansichten auf seine Schriften in vielen Punkten nicht ohne Einfluß geblieben sind. Während aber BENTHAM die Grenzen des politischen Radikalismus niemals überschritten und namentlich den Kommunismus eifrig bekämpft hat, steht THOMPSON durchaus auf dem Standpunkg eines sehr entwickelten Sozialismus. Sein Hauptwerk "An Inquiry into the principles of the distribution of wealth etc." erschien im Jahre 1824 und erlebte später noch zwei Auflagen. Außerdem gab THOMPSON noch mehrere kleine Schriften heraus, welche gleichfalls der Verbreitung sozialistischer Ideen dienen sollten. Er starb am 28. März 1833.

THOMPSON geht von drei Grundsätzen aus, welche auch der eifrigste Manchestermann unterschreiben kann, die aber bei diesem Schriftsteller selbstverständlich einen ganz anderen Sinn haben als bei den Anhängern der bürgerlichen Nationalökonomie. Diese drei Grundsätze sind:
    1) Die Arbeit soll sowohl in Beziehung auf ihre Leitung, als auch in Bezug auf ihre Fortsetzung frei sein;

    2) das ganze Arbeitsprodukt soll dem Produzenten gesichert werden;

    3) der Austausch dieser Produkte soll frei sein.
Der Grund der auffallenden Erscheinung, daß die englische Nationalökonomie und THOMPSON vom gleichen Ausgangspunkt zu so vollständig verschiedenen Zielen gelangen, besteht darin, daß die erstere unsere heutige privatrechtliche Rechtsordnung, insbesondere auch das individuelle Grund- und Kapitaleigentum als die Schranke betrachtet, innerhalb deren jene freiheitlichen Grundsätze zu verwirklichen sind, während THOMPSON umgekehrt eine Umbildung unserer heutigen Rechtsordnung zur tatsächlichen Durchführung jener Grundsätze für notwendig erachtet.

Wie so zahlreiche englische Nationalökonomen, namentlich RICARDO, geht auch THOMPSON vom Grundgedanken aus, daß die Arbeit allein die Ursache des Tauschwertes ist. Aus dieser wirtschaftlichen Tatsache zieht er dann die juristische Konsequenze - und mit diesem rechtsphilosophischen Satz geht der Sozialismus über RICARDO und die bürgerliche Nationalökonomie weit hinaus - daß demjenigen, der den Wert durch seine Arbeit erzeugt hat, auch der Ertrag seiner Arbeit ungeschmälert zufallen soll oder mit anderen Worten, daß jedem Arbeiter das Recht auf den vollen Arbeitsertrag zusteht. In unserer heutigen Gesellschaftsordnung erhalten die Arbeiter freilich bei weitem nicht den vollen Ertrag ihrer Arbeit, sondern nur dasjenige, was zu ihrer Erhaltung unentbehrlich ist (LASALLEs ehernes Lohngesetz); der Rest der von ihnen geschaffenen Werte fällt den Grund- und Kapitaleigentümern in Form von Grundrente und Kapitalgewinn anheim.

THOMPSON verkennt nicht, daß der Arbeiter in unserer heutigen Gesellschaftsordnung, in welcher Grund- und Kapitaleigentum besteht, verpflichtet ist, den Eigentümern für den Gebrauch von Gebäuden, Maschinen, Werkzeugen und Rohmaterialien einen Teil des Arbeitsertrages abzugeben. Aber diese Beschränkung des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag soll nicht weiter gehen, als unerläßlich ist. Der Arbeiter hätte einesteils dem Grund- und Kapitaleigentümer die durch den Gebrauch erfolgte Abnützung zu ersetzen; andererseits könnte der Grund- und Kapitaleigentümer aus dem Ertrag aller von ihm beschäftigten Arbeiter soviel verlangen, daß er mit dem bestbezahlten Arbeiter ein gleiches Einkommen bezieht.

Es fehlt aber nach der Ansicht THOMPSONs viel, daß in unserem Gesellschaftszustand dieser gerechte Verteilungsmaßstab zur Anwendung käme. Vielmehr betrachten die Kapitalisten, in deren Händen die Gesetzgebung ist, jene Differenz zwischen der Lebensnotdurft der Arbeiter und dem wirklichen Ertrag ihrer durch Maschinen und andere Kapitalaufwendungen produktiver gewordenen Arbeit als einen  Mehrwert  (surplus value, additional value), der den Grund- und Kapitaleigentümern zuzufallen hat. (2) Grundrente und Kapitalgewinn sind deshalb nichts anderes als Abzüge, welche der Grund- und Kapitaleigentümer vermöge seiner gesetzlichen Machtstellung vom vollen Arbeitsertrag zum Nachteil des Arbeiters zu machen in der Lage ist. Man wird in diesen Ansichten THOMPSONs sofort den Gedankengang, ja sogar die Ausdrucksweise erkennen, die sich später bei so vielen Sozialisten, namentlich auch bei MARX und RODBERTUS wiederfindet.

Auch die Ansicht THOMPSONs und zahlreicher anderer Sozialisten, daß Grundrente und Kapitalgewinn Abzüge sind, welche die Grund- und Kapitaleigentümer vom vollen Arbeitsertrag machen, ist keineswegs dem Sozialismus eigentümlich, da manche Vertreter der bürgerlichen Nationalökonomie, z. B. ADAM SMITH, von der gleichen Meinung ausgehen. THOMPSON und seine Nachfolger sind nur insofern originell, daß sie Grundrente und Kapitalgewinn als  unrechtmäßige  Abzüge betrachten, welche mit dem Recht des Arbeiters auf den vollen Arbeitsertrag im Widerspruch stehen. Der Unterschied beider Auffassungen ist also auch hier rechtsphilosophisch, nicht nationalökonomisch.

Wie ist aber diesem Zustand abzuhelfen, welcher im Sinne der sozialistischen Auffassung dem Reichen ein müssiges Genußleben ermöglichst, während er den Arbeiter zu fortwährender, hoffnungsloser Arbeit verurteilt?

So scharf THOMPSON in der Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Zustände ist, so vorsichtig ist er in seinen Reformvorschlägen. Ein Eingreifen der staatlichen Gesetzgebung will er nur in negativer Richtung zulassen, indem er, in Übereinstimmung mit dem liberalen Programm, die Beseitigung aller Fesseln des freien Verkehrs, insbesondere die Abschaffung aller Gebundenheit von Grund und Boden, aller Lohntaxen, Monopole usw. verlangt. Positiv sind nach Ansicht THOMPSONs die Nachteile, welche Grundrente und Kapitalgewinn dem Arbeiter zufügen, durch vertragsmäßige Bildung von sozialistischen Gemeinden zu bekämpfen. In Bezug auf diese Gemeinden schließt sich THOMPSON in allen wichtigen Punkten der Vorschlägen an, welche ROBERT OWEN seit einer Reihe von Jahren in Schriften und öffentlichen Versammlungen gemacht hatte.

Danach soll eine Anzahl von Personen (500 - 2000 oder mehr), welche nach den Umständen durch gemeinsame Arbeit (mutual cooperation) die wichtigsten zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse erforderlichen Sachen hervorbringen können, sich freiwillig zu dem Zweck vereinigen, um mit allen Hilfsmitteln der Kunst und Wissenschaft durch gemeinsame Anstrengung jene Befriedigungsmittel zu produzieren und auf diese Weise Nachfrage und Angebot immer in Übereinstimmung zu erhalten. Die sozialistischen Gemeinde sollen unter allen Umständen die Landwirtschaft so weit betreiben, als zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse erforderlich ist; im übrigen soll die Arbeit der Mitglieder zur Produktion von Industriegegenständen, sei es für den eigenen Bedarf, sei es zum Zweck des Austausches gegen andere Güter, verwendet werden. Der zu diesen Zwecken erforderliche Grund und Boden samt den Wohnungen und anderen Kapitalien soll womöglich gekauft werden: sind die Mitglieder der Gemeinde aber dazu nicht reich genug, so soll der Grund und Boden gepachtet, die erforderlichen Kapitalien geliehen werden.

Die wichtigste Frage vom rechtlichen Standpunkt ist natürlich, wie die von den sozialistischen Gemeinden erzeugten Güter unter die Mitglieder verteilt werden sollen. Da THOMPSON das Recht auf den vollen Arbeitsertrag mit dem größten Nachdruck verteidigt, so sollte man glauben, daß jedem Mitglied nach irgendeinem Maßstab von der erzeugten Gütermenge ein so großer Wert zugewiesen werde, als er durch seine Arbeit hervorgebracht hat. Dieser Maßstab kann allerdings, wie oben (§ 1) bereits hervorgehoben wurde und wie im weiteren Verlauf dieser Darstellung (§ 13) noch näher auszuführen sein wird, ein sehr verschiedener sein; es kann als solcher die von jedem einzelnen Mitglied geleistete Zeitarbeit oder die Durchschnittsarbeit oder es können endlich die historischen Arbeitspreise mit der durch den Wegfall des arbeitslosen Einkommens bedingten Vermehrung dienen. Aber immer muß in einem sozialistischen System, welches das Recht auf den vollen Arbeitsertrag konsequent durchführen will, das Maß der dem Einzelnen gebührenden Gütermenge wenigstens in Ansehung der Arbeitsfähigen vom Maß der geleisteten Arbeit abhängig sein.

In Wirklichkeit vertritt aber THOMPSON in Bezug auf die Güterverteilung den zweiten der oben (§ 1) charakterisierten Standpunkte: die Verteilung nach dem Bedürfnis, das Recht auf Existenz. Alle Mitglieer der sozialistischen Gemeinde sollen von der Gemeinschaft Nahrung, Kleidung und Wohnung erhalten, die Kinder gemeinsam erzogen werden.

Diesen Widerspruch trachtet THOMPSON dadurch zu beseitigen, daß nach seinem Vorschlag in der sozialistischen Gemeinde die Genußmittel zwar gleich, das ist nach Maßgabe der individuellen Bedürfnisse verteilt werden sollen, daß aber andererseits jedes arbeitsfähige Mitglied das gleiche Maß an Arbeit leisten muß, wobei, wie es scheint, lediglich die Dauer der Arbeitszeit als Maßstab zu betrachten wäre. Daß das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, wenn man es in der Gesellschaftsordnung konsequent durchführt, zu ganz anderen Resultaten führt, wird der weitere Verlauf dieser Darstellung ergeben. THOMPSON wollte eben, wie so zahlreich andere Sozialisten, durch Aufstellung jenes ökonomischen Grundrechts bloß die Unrechtmäßigkeit des arbeitslosen Einkommens und des individuellen Privateigentums erweisen; dagegen hinderten ihn seine kommunistischen Ansichten, welche er von OWEN übernommen hatte, auch die positiven Konsequenzen jenes Rechts zu ziehen.

Der Gedanke, daß das arbeitslose Einkommen (der Mehrwert, die Rente), welches die besitzenden Klassen in der Form von Grundrente und Kapitalgewinn ohne eigene Arbeit beziehen, ein ungerechter Abzug ist, welchen der Grund- und Kapitaleigentümer nur kraft seiner gesetzlichen Machtstellung vom Arbeitsertrag zu machen in der Lage ist, wurde auch in der späteren sozialistischen Literatur Englands unzählige Male ausgesprochen, wenngleich der Ausdruck "Mehrwert" sich bei den nachfolgenden Schriftstellern, soviel ich sehe, nicht behauptet hat.

Es ist nicht möglich, die zahllosen Schriften und Zeitungsartikel, welche die von GODWIN, HALL und THOMPSON gefundenen Gedanken näher ausführten, hier im Einzelnen darzulegen und ich muß mich deshalb auf die Erwähnung der vom theoretischen Standpunkg wichtigsten Erscheinungen beschränken.

Mit großer Entschiedenheit wird der oben präzisierte Standpunkt von JOHN GRAY in einer im Jahre 1825 erschienenen Broschüre vertreten, deren scharfe Kritik vielfach an die Schriften des ein halbes Menschenalter später auftretenden PROUDHON erinnert. Die praktischen Vorschläge zur Beseitigung der Übelstände unserer heutigen Gesellschaftsordnung hat GRAY (3) in einer Reihe von später erschienenen Werken gemacht. Ferner ist EDMONDS zu nennen, welcher den Gegensatz zwischen Arbeitslohn und arbeitslosem Einkommen mit größerer Klarheit als irgendeiner seiner Vorgänger formuliert hat. Aus der späteren Zeit sind noch die Schriften von J. F. BRAY und auch von CHARLES BRAY zu erwähnen.


§ 6. Der Saint-Simonismus

Den französischen Sozialisten des 18. Jahrhunderts ist das Recht auf den vollen Arbeitsertrag noch vollständig unbekannt. MESLIER, MORELLY und MABLY (4) führen zwar gegen das Eigentum eine heftige Polemik, aber dieselbe beruth auf dem Gedanken, daß dieses Rechtsinstitut die Quelle zahlreicher Laster, insbesondere des Hochmuts und des Eigennutzes ist. Daß das Privateigentum dem Eigentümer eine Machtstellung gewährt, durch welche er aus dem Arbeitsertrag anderer ein arbeitsloses Einkommen beziehen kann, daß das arbeitslose Einkommen ein Unrecht ist und jedermann ein Recht auf den vollen Ertrag seiner Arbeit besitzt - diese Gedanken, welche in den sozialistischen System der späteren Zeit so häufig wiederkehren, sind dem älteren französischen Sozialismus noch fremd.

Ebensowenig finde ich diese Ansichten in den Schriften BABEUFs ausgesprochen, dessen Verschwörung (1796) als der Ausgangspunkt der heutigen sozialen Bewegung zu betrachten ist. Wie BABEUF in seiner erst vor kurzem vollständig gedruckten Verteidigungsrede selbst gesteht, stand er unter dem Einfluß von MABLY, HELVETIUS, DIDEROT (richtig MORELLY) (5) und ROUSSEAU - eine Behauptung, welche durch den Inhalt der von ihm vor und während der Verschwörung herausgegebenen Zeitschrift (Tribun du peuple), sowie auch der bei ihm aufgefundenen Papiere bestätigt wird. BABEUF bekämpft das Bedürfnis des Einzelnen überschreitet und nennt einen solchen übermäßigen Besitz, ähnlich wie schon früher BRISSOT, einen Diebstahl an den Mitbürgern. Aber vom Standpunkt BABEUFs sollen nicht die Arbeitsleistungen, sondern die Bedürfnisse des Einzelnen für die Güterverteilung maßgebend sein oder mit anderen Worten: BABEUF stellt sich auf den zweiten der oben (§ 1) erwähnten Standpunkte, welcher im Großen und Ganzen mit der Anerkennung des Rechts auf Existenz gleichbedeutend ist. Es ist dies auch begreiflich, wenn man erwägt, daß der Hauptzweck der BABEUFschen Verschwörung darin bestand, neben der politischen Gleichheit auch die ökonomische (égalité réelle, égalité de fait) herbeizuführen, während in einem sozialistischen Staat, der das Recht auf den vollen Arbeitsertrag anerkennt, von einer vollständigen ökonomischen Gleichheit der Staatsbürger nicht die Rede sein könnte. Die teils bei BABEUF gefundenen, teils später von BUONAROTTI (6) veröffentlichten Papiere der Verschwörung stimmen vollständig mit den im Tribun du peuple ausgesprochenen Ansichten überein. Auch die sozialen Systeme SAINT-SIMONs und FOURIERs, welche den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts angehören, kennen das Recht auf den vollen Arbeitsertrag noch nicht.

Die wichtigsten sozialen Schriften SAINT-SIMONs wurden während der Restauration geschrieben, also in einer Zeit, wo die Gefahr vorhanden war, daß das feudal-klerikale Regiment die bürgerliche Gesellschaft, wie sie sich während der Revolution und unter der Herrschaft NAPOLEONs ausgebildet hatte, vollständig in den Hintergrund drängen würde. Dieser Gegensatz, der mehr dem Ideenkreis des Liberalismus als jenem des Sozialismus angehört, bildet nun den Mittelpunkt der Polemik, welche SAINT-SIMON gegen die herrschenden Zustände richtet. Als Typus der Ansichten SAINT-SIMONs kann ein Aufsatz gelten, welchen er zuerst im Organisateur (1819) veröffentlicht hat und der dann unter der Bezeichnung Parabole de Saint-Simon so bekannt geworden ist.

SAINT-SIMON nimmt in dieser Parabel zunächst an, daß Frankreich plötzlich seine hervorragendsten Gelehrten, Künstler, Landwirte, Fabrikanten, Kaufleute und Bankiers verliere. Die Folge eines solchen Verlustes würde nach der Ansicht SAINT-SIMONs sein, daß Frankreich sich sofort in eine seelenlose Masse (corps sans áme) verwandeln und im Verhältnis zu den rivalisierenden Nationen so lange in einem Zustand der Inferiorität [Unterlegenheit - wp] verharren würde, bis die nötige Anzahl von hervorragenden Kräften auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Kunst und des Gewerbes wieder nachgewachsen wäre.

SAINT-SIMON nimmt nun andererseits an, daß in Frankreich plötzlich die königliche Familie, die höchsten Hof- und Staatsbeamten, alle höheren Geistlichen und die zehntausend reichsten Besitzer sterben würden. Er meint, daß dieser Verlust für Frankreich von gar keinen nachteiligen Folgen begleitet wäre, da sich genug Leute finden würden, um die leer gewordenen Plätze ebensogut wie die früheren Inhaber auszufüllen.

Offenbar sind diese Ansichten, welche sich in allen gleichzeitigen und späteren Schriften SAINT-SIMONs in hundertfachen Variationen wiederfinden, mehr radikal-politisch, als sozialistisch im heutigen Sinn des Wortes. Denn SAINT-SIMON rechnet zu den vorzugsweise nützliche Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft auch die hervorragendsten Unternehmer auf dem Gebiet der Industrie, des Handels und der Finanz; gerade diesen aber wirft der moderne Sozialismus vor, daß sie vorzugsweise aus dem Arbeitsertrag anderer ihren Reichtum schöpfen.

Noch weniger als SAINT-SIMON konnte FOURIER nach der ganzen Anlage seines Systems zu einer Anerkennung des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag gelangen. In den sozialistischen Gemeinden FOURIERs (den Phalansterien) soll der Arbeitsertrag zwischen Kapital, Arbeit und Talent geteilt werden und zwar in der Weise, daß auf das Kapital 4/12, auf die Arbeit 5/12 und auf das Talent 3/12 des Gesamtertrages entfällt. Daraus ergibt sich, daß FOURIER in seinem Gesellschaftssystem das arbeitslose Einkommen nichts weniger als ausschließen will, ja er spricht es geradezu aus, daß eine große Ungleichheit des Vermögens in der von ihm vorgeschlagenen Gesellschaftsordnung unerlässlich sei. Seine Schule hat an dieser Verteilungsart, namentlich auch am arbeitslosen Einkommen der Kapitalbesitzer, stets festgehalten.

Dagegen ging die Schule SAINT-SIMONs weit über die Ansichten ihres Meisters hinaus, welcher sich damit begnügt hatte, in seinen zahlreichen Schriften den Gegensatz zwischen dem unproduktiven Adel und Klerus einerseits und den produktiven Ständen (Landwirtschaft, Industrie und Handel) andererseits hervorzuheben. Als hauptsächlichster Vertreter der neuen Richtung durch welche der Saint-Simonismus erst einen entschiedenen sozialistischen Charakter im heutigen Sinn des Wortes erlangte, kann ENFANTIN mit seinen nächsten Freunden gelten. Schon im "Producteur" (1825 - 1826) hatte ENFANTIN eine Anzahl von Artikeln veröffentlicht, in welchen er den Gegensatz zwischen denjenigen, welche von ihrer Arbeit und jenen, welche vom Ertrag fremder Arbeit leben, als den wichtigsten hervorhob. In diesen Artikeln findet sich schon die Ansicht, daß Grundrente und Kapitalgewinn eine Steuer sind, welche die Arbeiter den müßigen Grund- und Kapitaleigentümern dafür bezahlen zu müssen, damit diese ihnen die Produktionsmittel überlassen. Dieser Zustand der Kapitalssklaverei werde aber ebenso, wenn auch etwas später als die Menschensklaverei, verschwinden; doch soll das nicht etwa durch Konfiskation der Produktionsmittel, sondern durch die fortschreitende öffentliche Meinung, welche immer mehr das Unrecht eines auf Kosten anderer geführten müßigen Lebens einsehen werde, ferner durch die allmähliche Ausbildung des Assoziationswesens geschehen.

Es ist klar, wie nahe sich hier die Ansichten ENFANTINs und jene der gleichzeitigen englischen Sozialisten berühren. Ob ENFANTIN die Werke von GODWIN, HALL und namentlich THOMPSON, dessen Hauptschrift vor kurzen (1824) erschienen war, gekannt hat, ist aus seinen Aufsätzen nicht zu entnehmen, da er in denselben nur RICARDO, MALTHUS und andere Vertreter der bürgerlichen Nationalökonomie erwähnt. SISMONDIs Hauptwerk, in welchem schon die Lehre vom Mehrwert und vom arbeitslosen Einkommen vorgetragen wird, ist ENFANTIN jedenfalls bekannt gewesen, weil er im Producteur eine Kritik jener Schrift veröffentlicht hat.

In den Vorträgen über die Saint-Simonistische Lehre, welche BAZARD im Auftrag und unter Aufsicht des obersten Rates der Saint-Simonisten in den Jahren 1828 - 1830 hielt, ist der Standpunkg ENFANTINs festgehalten und noch schärfer akzentuiert. Eine ausdrückliche Anerkennung des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag, wie sie sich so häufig in den Schriften der englischen Sozialisten vorfindet, ist, soviel ich sehe, in diesen Vorlesungen nicht ausgesprochen, wohl aber ist dasselbe im berühmten Grundsatz der Saint-Simonisten, daß in einem gerechten Gesellschaftszustand jedermann nach seinen Fähigkeiten verwendet und  nach seinen Leistungen belohnt  werden soll, im Keim enthalten. BAZARD zieht auch aus diesem Prinzip sofort die Folgerung, daß das Eigentum in seiner heutigen Gestalt, weil es die Ausbeutung der arbeitenden Klassen durch die müssigen Grund- und Kapitalbesitzer ermöglicht, zu beseitigen und durch andere Einrichtungen zu ersetzen ist. Überhaupt sind in diesen Vorlesungen, die zu den wichtigsten Denkmälern des Sozialismus gehören, schon alle modernen sozialistischen Sozialisten haben zur Kritik des auf das Privateigentum begründeten Gesellschaftszustandes, wie sie BAZARD und ENFANTIN in diesen Vorlesungen lieferten, nur wenig hinzuzufügen vermocht.

Die in den Vorlesungen über die Lehre SAINT-SIMONs ausgesprochenen Grundsätze wurden von den Saint-Simonisten während der ganzen öffentlichen Wirksamkeit dieser Schule in zahllosen Zeitungsartikeln vertreten. Ich hebe hier nur einen kurzen Artikel aus dem Hauptorgan des Saint-Simonismus, nämlich dem "Globe" vom 9. Februar 1831 hervor, weil derselbe präzise den wesentlichen Inhalt der Saint-Simonistischen Lehre angiebt und in den sozialistischen Blättern jener Zeit vielfach bemerkt und besprochen wurde. Der "Constiutionell", damals neben dem "Journal des Débats" das wichtigste liberale Tagblatt in Parin, hatte die "mystischen" Anhänger des Saint-Simonismus mit einem Anflug von Ironie erwähnt.

In diesem Programm, welches zweifellos unter dem maßgebenden Einfluß ENFANTINs entstand, ist zwar das Recht auf den vollen Arbeitsertrag nicht wörtlich erwähnt, wohl aber sind alle Konsequenzen, welche dieses Recht in sich schließt, mit großer Kürze und Klarheit ausgesprochen. Wenige Wochen später (im Globe vom 7. März 1831) erschien von ENFANTIN ein Aufsatz, in dem er den Gegensatz zwischen den besitzenden und arbeitenden Klassen im Sinne jenes Programms näher darlegt. An diese Arbeiten schlossen sich im Laufe der nächsten Zeit zahlreiche Zeitungsartikel und Broschüren verschiedener Verfasser an, welche jene Grundgedanken von zum Teil sehr abweichenden Standpunkten aus beleuchteten.

Durch welche praktischen Maßregeln gedenkt aber der Saint-Simonismus zu bewirken, daß die arbeitenden Klassen von der Steuer, die sie an die müßigen Reichen in der Gestalt von Miete, Pacht und Darlehenszins entrichten, befreit werden? Als Ideal stellt der Saint-Simonismus eine allgemeine Verbrüderung aller Menschen (assiciation universelle) zum Zweck der friedlichen Arbeit hin, innerhalb deren jedoch die einzelnen Staaten fortbestehen sollen. Auf den Staat, der seine heutigen bürokratisch-militärischen Formen abstreifen und der sich in eine Gesellschaft der Arbeiter verwandeln muß, ist das Erbrecht zu übertragen, während das Erbrecht der einzelnen Individuen, wie es unser heutiges Privatrecht kennt, zu beseitigen ist. Durch das staatliche Erbrecht muß allmählich die ganze Masse der Produktionsmittel und der benützbaren Sachen auf friedlichem Weg an den Staat fallen. Die Staatsgewalt, welche nach der Ansicht des Saint-Simonismus eine theokratische Färbung haben soll, hat eine wirtschaftliche Zentralbehörde mit den erforderlichen Untbehörden einzusetzen, welche über alle Reichtümer, über alle Reichtümer, über alle Produktionsmittel den Fähigsten zum Zweck der Produktion zuzuweisen, doch würde diese nicht für die Rechnung der Produzenten erfolgen, welche vielmehr nur Anspruch auf bestimmtes Gehalt hätten. Der Saint-Simonismus trachtet also seinen obersten Grundsatz, daß jeder nach seinen Fähigkeiten verwendet und nach seinen Leistungen belohnt werden soll, durch einen schrankenlosen, theokratisch gefärbten Staatssozialismus zu erreichen.

Die Saint-Simonistische Lehre wurde bald nach ihrer Entstehung durch eine Reihe von Schriften auch in Deutschland bekannt. Ich nenne von denselben nur die Werke von CAROVÉ (7), BRETSCHNEIDER (8) und MORITZ VEIT (9). In diesen Schriften sind auch die oben dargelegten Ansichten der Saint-Simonisten über das Recht auf den vollen Arbeitsertrag kurz erwähnt. Man kann deshalb wohl annehmen, daß die deutschen Schriftsteller, welche später die Saint-Simonistischen Theorien ohne wesentliche Abweichungen vortrugen (RODBERTUS!), dieselben nicht etwa selbständig entdeckt, sondern ihren Vorgängern entnommen haben.
LITERATUR Anton Menger, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher Darstellung, Stuttgart 1891
    Anmerkungen
    1) ADOLF HELD, Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands, 1881, Seite 379 - 385, erwähnt zwar WILLIAM THOMPSON, ohne aber die Bedeutung des Mannes für die Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus zu erkennen. Vgl. auch HEINRICH SOETBEER, Die Stellung der Sozialisten zur Malthusischen Bevölkerungslehre, 1886, Seite 21. Durch diese Zitate, welche der ersten Auflage wörtlich entnommen sind, habe ich gleich zu Beginn des Abschnitts über THOMPSON für jedermann erkennbar gemacht, daß dieser Schriftsteller in Deutschland schon vor mir bekannt war. Wenn nun gleichwohl GUSTAV COHN (Göttingen) in einem Ton, welcher nur seinen schlechten Geschmack beweist, gegen mich den Vorwurf erhebt, daß ich das Verdienst der Entdeckung THOMPSONs für mich in Anspruch nehme (vgl. COHN in SCHMOLLERs, Jahrbüchern, 1889, Seite 14), so kann ich das Urteil über seine Wahrheitsliebe wohl mit Beruhigung der Öffentlichkeit überlassen.
    2) Schon SISMONDI, der auf THOMPSON offenbar auch in anderer Richtung einen bedeutenden Einfluß ausgeübt hat, gebraucht für das arbeitslose Einkommen den Ausdruck mieux-value, ohne dasselbe jedoch als ein Unrecht zu betrachten.
    3) JOHN GRAY, A lecture on human happiness, 1825. Diese sehr wenig bekannte Schrift ist für die Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus von größter Bedeutung.
    4) Über MESLIER (den man wohl als den ersten Theoretiker des revolutionären Sozialismus betrachten kann) vgl. den trefflichen Aufsatz von GRÜNBERG in der "Neuen Zeit", Jahrgang 1888, Seite 337 - 350. Auch bei ROUSSEAU finden sich einzelne halbsozialistische Äußerungen ähnlicher Tendenz, die freilich mit anderen Stellen, in welchen er das Eigentum für das heiligste aller Rechte erklärt, nicht recht in Einklang stehen.
    5) Der Code de la nature, welcher im Jahre 1755 anonym erschien, wurde lange Zeit irrtümlich DIDEROT zugeschrieben und sogar in eine zu seinen Lebzeiten erschienene Sammlung seiner Schriften aus dem Jahre 1773 aufgenommen. Auch BABEUF, der in seiner Verteidigungsrede zahlreiche Stellen aus dem Code de la nature anführt, hält DIDEROT für den Verfasser.
    6) FILIPPO BUONAROTTI, Conspiration pour l'égalité, Bd. 1, 1828. Ferner das von SYLVAIN MARÉCHAL verfaßte, aber vom geheimen Direktorium der Verschwörung wegen einzelner Stellen verworfene Manifeste des Égaux. - Wie nahe damals die Übertragung des Gleichheitsprinzips auf die ökonomischen Fragen lag, geht daraus hervor, daß selbst CONDORCET, der doch keineswegs ein Sozialist gewesen ist, in einer unmittelbar vor seinem Tode (1794) verfaßten Schrift die Andeutung macht, daß er die Gleichheit aller Menschen in Bildung und Wohlstand für das letzte Ziel aller politischen Bestrebungen hält. Dieser Ausspruch CONDORCETs wurde von SYLVAIN MARÉCHAL dem Manifeste des Égaux als Motto vorangesetzt.
    7) FRIEDRICH WILHELM CAROVÉ, Der Saint-Simonismus und die neuere französische Philosophie, Leipzig 1831
    8) KARL GOTTLIEB BRETSCHNEIDER, Der Saint-Simonismus und das Christentum, Leipzig 1832
    9) MORITZ VEIT, Saint-Simon und der Saint-Simonismus, Allgemeiner Völkerbund und ewiger Frieden, 1834