tb-1ra-2Friedrich MuckleDie Arbeiterfrage     
 
FRANZ STAUDINGER
Die sittliche Frage eine soziale Frage
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"Die Besitzenden fühlen sich dabei wohl, daß ihnen ohne entsprechende eigene Arbeit Reichtümer auf Reichtümer aus der Arbeit anderer zuströmen und daß diese Erträge fremder Arbeit wiederum ihre Herrschaft über weitere fremde Arbeit vermehrt. Sagt man ihnen, daß die Entlohnung für ihre eigene Arbeit völlig gegenüber dem Betrag verschwindet, den ihnen fremde Arbeit einbringt: sie verstehen es nicht. Sie scheinen ihrem Besitz, ich weiß nicht welche magische Kraft zuzumessen, wonach er aus sich selber Produkte zu erzeugen vermag und bestreiten lebhaft, daß sie das Erzeugnis fremder Arbeit in die Tasche stecken. Sie halten sich für ehrenwerte Leute, die nicht übervorteilen und stehlen und verstehen nicht, daß das System dies für sie besorgt, welches sie als sittliche Rechtsordnung verteidigen zu müssen glauben."

"Auf der einen Seite soll der echte Mann frei nach seiner Überzeugung an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten mitwirken, auf der anderen Seite aber wird ihm schon mit Rücksicht auf seine Angehörigen zur Pflicht gemacht, nichts zu tun und zu sagen, was sein Fortkommen beeinträchtigen kann und es ist nur zu natürlich, daß die Mehrzahl der Menschen in einem häufigen Konflikt zwischen beiden Forderungen nicht der Idealmoral, sondern der  praktischen  Moral Heerfolge leistet, ja diese geradezu als Grundsatz aufstellt."

"Der Tanz um das goldene Kalb findet sich nicht bloß an der Börse, auch nicht bloß da, wo direkt bestochen wird, er ist überall vorhanden, wo irgendwie die Rücksicht auf persönlichen Vorteil und Nachteil der freien Entfaltung und Betätigung der Überzeugung hindernd im Weg steht."

"Der Teufel wird auch in die idealste Ordnung sein Kuckucksei legen; menschliche Schwächen werden es ausbrüten und künftigen Geschlechtern Stoff zu neuen Kämpfen geben."


Eben aus diesem Grund sind die oft weit schwerer gedrückten Arbeiter der Hausindustrie, die Tagelöhner auf den noch nicht industriell bewirtschafteten Gütern, die Arbeiter in mehr handwerksmäßigen Fabrikationszweigen dem Sozialismus weniger zugänglich. Und ebenso zeigt sich der Zwang der Klassenlage auf die Anschauungsweise der Menschen in den rückwärtsgewandten Bestrebungen der Innungen, der Bauernvereine und dgl. Die Kleinbauern und Kleinhandwerke, welche den sie mit Untergang bedrohenden Kapitalismus wohl ebenso hassen wie die Sozialisten, sind doch noch nicht wie die Arbeiter vom Besitz getrennt. Ihr Besitz ist ihr eigenes Produktionsmittel, mit dem sie ihren Unterhalt erwerben; es ist noch gar nich Kapital im strengen Sinne. Darum ist ihr Ideal die Erhaltung bzw. Wiedergewinnung eines Zustandes, in dem jeder Besitzer zugleich Arbeiter an seinen eigenen Produktionsmittel ist oder dies doch leicht werden kann. Daher ihr, freilich immer hoffnungsloserer Kampf gegen das Großkapital und den Großbetrieb mit seiner Trennung des Arbeiters vom Produktionsmittel. Daher jene bei allen denen, durch Innungen, Bauernvereine etc. den absterbenden Kleinbetrieb zu erhalten. Daher auch ihr Hass gegen den Sozialismus, der, wie sie glauben, ihnen ihren redlich erworbenen Besitz nehmen will. In diesem letzteren Punkt sind sie, aus dem Zwang ihrer Klassenlage heraus, merkwürdigerweiese die Bundesgenossen ihres schlimmsten Feindes, des Großbesitzes, der durch die heutige Technik in seiner Akkumulationskraft gesteigert, die Trennung von Produzent und Produktionsmittel immer unerbittlicher vollzieht.

Aber auch bei den Besitzern der Produktionsmittel, denen durch ihren Reichtum mehr als allen anderen der Zugang zu Erkenntnis und Bildung erleichtert ist, sieht man den Einfluß der Klassenlage auf die Anschauungen drastisch hervortreten. Die Besitzenden fühlen sich dabei wohl, daß ihnen ohne entsprechende eigene Arbeit Reichtümer auf Reichtümer aus der Arbeit anderer zuströmen und daß diese Erträge fremder Arbeit wiederum ihre Herrschaft über weitere fremde Arbeit vermehrt. Dieses Empfinden hindert sie völlig, die Widersinnigkeit und Unhaltbarkeit solcher Verhältnisse einzusehen. Sagt man ihnen, daß die Entlohnung für ihre eigene Arbeit völlig gegenüber dem Betrag verschwindet, den ihnen fremde Arbeit einbringt: sie verstehen es nicht. Sie scheinen ihrem Besitz, ich weiß nicht welche magische Kraft zuzumessen, wonach er aus sich selber Produkte zu erzeugen vermag und bestreiten lebhaft, daß sie das Erzeugnis fremder Arbeit in die Tasche stecken. Sie halten sich für ehrenwerte Leute, die nicht übervorteilen und stehlen und verstehen nicht, daß das System dies für sie besorgt, welches sie als sittliche Rechtsordnung verteidigen zu müssen glauben. Sie wähnen womöglich die Wohltäter ihrer Arbeiter zu sein, wenn sie ihnen Arbeit geben und auch einmal bei ungünstiger Konjunktur ihren Arbeiterstamm erhalten, damit sie bei günstiger doppelten Nutzen herausschlagen können. Sie halten sich für Menschenfreunde, wenn sie Armen und Notleidenden einen Teil dessen spenden, was ihnen die harte Arbeit ihrer Untergebenen für sie selber mühelos erwirbt; und falls man sagt daß ein solcher Zustand, der Millionen in Not und Elend bannt, damit Tausende von deren Arbeit immer neue Reichtümer erlangen, unmöglich sittlich recht genannt werden kann: so sind sie sehr geneigt, Gesetz und Staatsanwaltschaft zum Schutze ihrer bedrohter Interessen zu Hilfe zu rufen. Und zwar denken sie, wenigstens zum guten Teil, so ohne jede Heuchelei; so stark beeinflußt das ihnen zur zweiten Natur gewordene Klasseninteresse ihre intellektuellen und sittlichen Anschauungen.

Daß dies im Großen und Ganzen zutrifft, wird schwerlich bestritten werden dürfen. Einzelne, durch besondere Umstände anderen Anschauungen zugänglicher gewordene Naturen mögen immerhin von der Regel abweichen. Gegen deren durchschnittliche Gültigkeit beweisen sie nichts. Der Satz wird darum im Großen und Ganzen richtig sein, daß die Art der ökonomischen Ordnung für den sittlichen Zustand der Individuen von grundlegender Wichtigkeit. Mögen immerhin Einzelne trotz schlechter ökonomischer Ordnung gut, trotz guter Ordnung schlecht werden und bleiben: die Masse der Menschen wird weder durch die Predigt des Guten noch durch die Hoffnung auf Lohn und Strafe im Jenseits, noch durchaus nur durch eine Ordnung, welche die Gewähr einer Erziehung zum Guten in sich selber trägt. Nur eine solche kann die Menschheit als Ganzes auf eine höhere Stufe heben.

In diesem Punkt liegt das ethisch Bedeutsame des Sozialismus. Hierin liegt auch, wie schon erwähnt, der tiefst einschneidenede Gegensatz gegen die frühere sittliche Praxis.

In den vergangenen Geschichtsperioden trat der Gedanke der Abhängigkeit der individellen Sittlichkeit von der sittlichen Gemeinschaftsordnung, der Gedanke, auf menschlichem Boden sittliche Gemeinschaftsordnung für alle Menschen zu schaffen, ganz zurück. Die durch irgendeine Autorität gegebene oder durch den Zwang der Umstände gewordene, nicht eine nach Vernunftprinzipien entworfene Ordnung würde als die sittlich gültige dekrediert und verlangt, ihr solle sich der Mensch unterwerfen.

Gegen diese Anschauung hat das Christentum den ersten großen Ansturm versucht. Aber auch nur versucht und zwar mehr theoretisch als praktisch versucht. Freilich war das Christentum zu Anbeginn als Religion der Armen und Unterdrückten wesentlich revolutionär. Denn im Gegensatz zur gegebenen Ordnung erkannte es eine höhere göttliche Ordnung an, der sich der Mensch zu unterwerfen habe. "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!" ist der dem entsprechende sittliche Grundsatz. Indessen dieser Grundsatz hätte doch nur dann praktische Kraft gehabt, falls eine bestimmte Form der sittlichen als göttliche Orndung anerkannt und nicht ein von Gott erbautes Reich der Ordnung auf Erden erstrebt worden wäre. Nun ward aber die Lehre vom Himmelreich in seiner jenseitigen Bedeutung gerade das Trostmittel für eine Menschheit, die an einer Ordnung hier auf Erden verzweifelte und darum ihr Ideal in ein Jenseits flüchtete. Mit den irdischen Verhältnissen, die diesem Ideal so ganz und gar nicht entsprachen, mußte man sich also auf eine oder die andere Art abfinden. "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat", so lautete darum der Grundsatz in Bezug auf irdische Dinge. Die Unterwerfung unter die jeweilig gegebene Ordnung, nicht die Gestaltung der Erdenordnung nach dem Prinzip der Himmelsordnung, blieb also dennoch praktisch die sittliche Forderung für das Diesseits. Ja nicht wenige Anhänger des Christentums gingen einst wie heute so weit, die gegebene irdische Ordnung als gottgewollte zu verfechten.

Daß aber ganz von der Frage abgesehen zu werden pflegte, ob die gerade bestehende Ordnung selber sittlich zu nennen sei und sittliche Hingabe des Willens von Seiten der Einzelnen ermögliche, war nicht zufällig. Die gegebenen Ordnungen beruhten in überwiegendem Maße auf Machtverhältnissen zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Es waren niemals auch nur annähernd Ordnungen, welche allen Gemeinschaftsgenossen gleiches Recht gewährten. Der siegende Stamm oder die übermächtige Interessengruppe im Staat drückten der Sitte und dem Gesetz das Gepräge auf, welches ihren Interessen entsprach und die sittliche Ordnung für alle bestand dann darin, daß alle diese aus einseitigem Interesse hervorgegangenen Ordnungen als verpflichtende anerkennen sollten. Der Erfolg war fortwährender Kampf, in dem die siegreiche Partei die unterlegene als Verbrecher verfolgte, bis es ihr vielleicht zeitweilig gelang, ihre Forderungen als sittliche Forderungen von der Mehrzahl der Volksgenossen, auch von den Unterlegenen, anerkannt und befolgt zu sehen. Diese ordneten, weil sie nicht anders konnte, ihr Leben innerhalb der aufgezwungenen Formen, so gut es ging, gewöhnten sich endlich daran, und achteten eine Ordnung für recht und sittlich, die ein bloßes Erzeugnis der sie bezwingenden Gewalten war.

Hierin ändert es sich praktisch erst dann ein wenig, als das durch Handel und Industrie reich und mächtig gewordene Bürgertum gleiches Recht mit den beiden anderen Ständen, Adel und Geistlichkeit, fordert. Jetzt drängt sich das Bewußtsein durch, daß auch die Lebensordnungen nicht, wie sie gegeben sind, sittlich heißen können, sondern daß sie sittlichen Grundsätzen gemäß zu gestalten seien und daß jeder Staatsangehörige berufen sei an dieser Gestaltung mitzuwirken. Der Gedanke der blinden Unterwerfung unter die Obrigkeit verwandelt sich in den Gedanken der Unterwerfung unter das Gesetz, zu dessen Zustandekommen alle - oft genug freilich nur alle Besitzenden - beigetragen haben und dem die Obrigkeit selber als Dienerin untergeordnet ist. Der Begriff des Untertans geht in den Begriff des Staatsbürgers über.

Daß diese Änderung der gesamten sittlichen Anschauungen alle Verhältnisse beeinflussen mußte, ist natürlich. Wie schroff der Gegensatz zwischen einst und heute ist, kann das bekannte typische Beispiel der Lehenspflicht zeigen: dem Dienstmannen des Feudalherren war es Gewissenspflicht, alles zu tun, was diesem zum Nutzen gereichen konnte und wenn sie wie z. B. HAGEN und du CHATEL nach unseren Begriffen feigen Mord verübten; es gereichte ihnen damals zum Lob. Der Lehensherr hatte ebenfalls die Pflicht, den Dienstmannen gegen die Folgen solcher Taten zu schützen; ihn der Rache des Verletzten preisgeben, hätte ihm ehrlos geheißen. Heute dagegen würde man die gleichen Handlungen von beiden Seiten ebenso verurteilen, wie man sie damals verherrlichte.

Allein, wenn die Änderung der Lebensverhältnisse die Hingabe an ein allen gleiches Gesetz anstelle der Hingabe an Personen gesetzt hat, so konnte dieser Gedanke doch nicht in dem Maße praktisch werden, wie er in der Theorie aufgestellt ist. Die heutigen Lebensverhältnisse bedingen praktisch nicht so starkt eine Abhängigkeit von einem Allen gerecht werdenden Gesetz, als eine Abhängigkeit vom Besitz. Und dieser Besitz ist in seiner heutigen Enwicklung, wo er immer mehr zum Kapitalbesitz wird, zu einer Fähigkeit geworden, die Nichtbesitzenden in ihrer gesamten Existenz abhängig von sich zu machen. Dabei hat der Besitz, bzw. die Abhängigkeit von ihm, eine zwieschlächtige Natur. Einerseits hängt der Kapitalbesitz genauso wie der frühere Feudalbesitz an einzelnen Personen, welche durch ihn eine Macht über das Leben ihrer Mitmenschen gewinnen. Andererseits aber greifen die Fäden, durch welche diese Einzelnen ihre Kapitalmacht äußern, derart ineinandert, daß die Abhängigkeit in vielen, vielleicht in den meisten Fällen gar nicht als persönliche Abhängigkeit sichtbar wird, oder daß doch, wo dies der Fall ist, der sichtbaren Abhängigkeit vom Einzelnen die Abhängigkeit vom gesamten kapitalistischen Betriebe bestimmend zugrunde liegt.

Dieses Verhältnis wirkt denn auf die sittlichen Anschauungen der verschiedenen Bevölkerungskreise in hohem Maße bestimmend ein. Der Besitzende ist direkt oder indirekt der Arbeitgeber und damit der Brotherr des Nichtbesitzenden. Hierdurch ist er in ziemlich weitem Umfang der Herr überhaupt, der sich vielfach nicht damit begnügt, seine Arbeiter zu beschäftigen und zu bezahlen, sondern auch von ihnen fordert, daß sie sich seinen Ansichten unterordnen und sich ihnen gemäß betätigen. Fast noch mehr aber findet sich diese Abhängigkeit der Überzeugungen in dem mehr indirekten Verhältnis der kleinen Handwerker, Kaufleute usw. zum reichen Manne, der denen seine Gunst und Kundschaft zuwendet, welche in politischer oder religiöser Beziehung oder in sonstigen Angelegenheiten seine willigen Helfer sind; und vielleicht ebensosehr wirkt der Druck des Besitzes auf die Menge derjenigen, welche die gesellschaftlichen Beziehungen mit dem Besitzenden oder der Gunst des Mäzens bedürfen.

Dadurch ist ein eigentümlicher Zwiespalt in die Moral der mittleren und oberen Volksklassen gekommen. Auf der einen Seite soll der echte Mann frei nach seiner Überzeugung an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten mitwirken, auf der anderen Seite aber wird ihm schon mit Rücksicht auf seine Angehörigen zur Pflicht gemacht, nichts zu tun und zu sagen, was sein Fortkommen beeinträchtigen kann und es ist nur zu natürlich, daß die Mehrzahl der Menschen in einem häufigen Konflikt zwischen beiden Forderungen nicht der Idealmoral, sondern der "praktischen" Moral Heerfolge leistet, ja diese geradezu als Grundsatz aufstellt.

Dieses durch den Druck des Besitzes hervorgebrachte Verhältnis kann jedoch keineswegs mit dem alten Lehensverhältnis und den daraus erwachsenden Verpflichtungen verglichen werden. Es liegt kein persönliches Verhältnis der Untertänigkeit, sondern ein rein sachliches Verhältnis der Abhängigkeit vor. Auch wo noch Untertänigkeitsverhältnisse bestehen, haben sie ihren moralischen Halt nur ausnahmsweise im Gefühl der Anhänglichkeit und Lehenstreue gegen eine Person, in den meisten Fällen nur im Gefühl der Abhängigkeit vom Besitz. Um Vorteile zu erreichen, Nachteilen zu entgehen, huldigt man der in bestimmten Personen verkörperten Macht des Besitzes. NIcht die Mannentreue, sondern die Korruption ist darum der moralische Faktor, welcher infolgedessen die Welt beherrscht und das Volksgewissen in außerordentlich weitem Umfang vergiftet. Der Tanz um das goldene Kalb findet sich nicht bloß an der Börse, auch nicht bloß da, wo direkt bestochen wird, er ist überall vorhanden, wo irgendwie die Rücksicht auf persönlichen Vorteil und Nachteil der freien Entfaltung und Betätigung der Überzeugung hindernd im Weg steht. Wo der Reiche nicht wegen des Wertes seiner Person, sondern nur wegen der Macht seines Besitzes umworben wird, hat er oft eine mehr als sinnbildliche Bedeutung.

Dieser Korruption, das Wort im weitesten Sinne genommen, steht als zweiter herrschender Faktor das Gefühl der Empörung gegenüber, das bereits ungemein weit und tief flutet. Die industriellen Arbeiter sind es wesentlich, unter denen es sich, sobald ihnen das Wesen des kapitalistischen Systems klar geworden ist, mit Macht verbreitet, aller Schutzdämme spottend, die Staatsklugheit dagegen aufrichten mag. Welche Nebenmotive diese Empörung erzeugen und fördern helfen und welche Schäden sie selber erzeugen mag, das zu untersuchen würde hier ebenso zu weit führen, wie wenn wir verfolgen wollten, welche besonderen Wirkungen die Korruption in Bezug auf Betrügerei, Diebstahl, Verfälschung des Ehelebens, Prostitution und dgl. im Gefolge hat. Wir müssen hier nur das feststellen, was als Hauptwirkung des gegebenen Systems zutage tritt. Daß nur in ihm die Hauptursache der Empörung liegen kann, daß alle anderen Motive sekundärer Natur sind, das muß jedenfalls festgehalten werden. Neid, Mißgunst, Begehrlichkeit und was man sonst alles als Motive der großen Bewegung im nichtbesitzenden Teil des Volkes hinstellen mag: sie mögen hier und da mitwirken; sie sind aber nicht die Ursache. Denn diese Kräfte waren von jeher da und sind in allen Ständen vorhanden. Wenn ihnen die Schuld am heutigen Sozialismus gegeben werden soll, so bliebe die Frage zu beantworten, warum derselbe heute von so ungeheurem Einfluß auf die Gemüter werden konnte. Erst die Antwort hierauf gäbe, auch im Fall daß jene Vorwürfe uneingeschränkt anzuerkennen wären, die eigentliche Ursache an. Und diese Antwort kann schwerlich anders gegeben werden, als dahin, daß die unabwendbare Entwicklung des alten Besitzverhältnisses zum Kapitalismus, d. h. zur Herrschaft über die Früchte fremder Arbeit diese Bewegung erzeugt hat.

Und nun wäre die Frage zu stellen, ob der Sozialismus, sollten wirklich die gegenwärtig wirksamen ökonomischen Faktoren mit Notwendigkeit auf ihn hindrängen, prinzipiell eine höhere sittliche Stufe in Aussicht stellen kann.

Diese Frage ist praktisch überaus schwer zu beantworten. Denn es handelt sich dabei ganz wesentlich um die Umstände, unter denen er, um die Reinheit, in der er, um die Entwicklungsstufe der Menschen, durch die er in die Wirklichkeit übergeführt wird. Immerhin wird man, auch ohne Prophet zu sein, behaupten dürfen, daß auch dieser Zustand das Himmelreich auf Erden nicht verwirklichen wird. Der Teufel wird auch in die idealste Ordnung sein Kuckucksei legen; menschliche Schwächen werden es ausbrüten und künftigen Geschlechtern Stoff zu neuen Kämpfen geben.

Immerhin darf uns das nicht hindern, rein prinzipiell die Frage zu beantworten, ob eine Gemeinschaftsordnung, welche die Produktionsmittel aus dem Besitz der Einzelnen in den der Gemeinschaft überführt und dem entsprechend die Produktion regelt, Gewähr für eine höhere oder eine niedere sittliche Entwicklungsstufe in sich trägt.

Stellen wir die Frage so, dann wird sich die Antwort nach dem Vorausgegangenen von selber ergeben.

Eine Ordnung kann nur dann sittigend und sittlich verpflichtend wirken, wenn sie selber nach den Prinzipien einer Ordnung für  alle  gestaltet ist, soweit das aufgrund der gegebenen Lebensbedingungen möglich ist. Eine Ordnung, welche einen Faktor in sich enthält, der mit Notwendigkeit Benachteiligung der einen durch die anderen, Unsicherheit der Existenz, Auflösung aller festen Grundlagen des Lebens zur Folge haben muß, wird, sobald das allgemein erkannt ist, nicht mehr als sittliche Ordnung zu gelten vermögen. Sie wird naturnotwendig zu einer Neuordnung drängen.

Diese Neuordnung kann nun auf zweierlei Art stattfinden. Sie wird dann, wenn die Erkenntnis der treibenden wirtschaftlichen und sittlichen Kräfte mangelt oder unzureichend ist, das Ergebnis eines blinden Spiels der Kräfte sein. Nach einer Periode des Chaos wird sich allmählich das Gleichgewicht wiederherstellen und eine zeitlang wird die so geschaffene Zufallsordnung, wenn wir sie so nennen dürfen, einer neuen, vielleicht besseren, vielleicht auch schlechteren sittlichen Entwicklung zur Grundlage dienen. Besteht aber eine ausreichende Kenntnis der Grundlagen der gegebenen unzureichenden Ordnung, vermag die Gesellschaft die Bedingungen wissenschaftlich zu beherrschen, unter denen sie lebt, so wird sie mit einiger Wahrscheinlichkeit die nötige Änderung der Ordnung zustande bringen, ohne daß ein Chaos und eine neue Zufallsgemeinschaft die Folge ist. Sie wird vielmehr die Bürgschaften friedlicher und geordneter Weiterentwicklung zu geben vermögen.

Dies erkannt zu haben und einen Aufbau der Gesellschaft nach bewußten Prinzipien der Gerechtigkeit als erste sittliche Forderung aufzustellen, ist das Verdienst der modernen sozialen Bewegung. Mag man im Übrigen noch so gering von derselben denken, ihre Agitation mißbilligen, ihr Zukunftsideal für verfrüht oder für gänzlich unausführbar halten: egal! Ein tiefer sittlicher Kern liegt dennoch in dieser Bewegung. Zum erstenmal seit der Entstehung des Christentums weist eine große und geschlossene Richtung klar bewußt darauf hin, daß sich die menschliche Sittlichkeit nur auf einer sittlichen Ordnung erbauen läßt. Wenn das Christentum in einem  Reich  Gottes das  Prinzip  einer Weltverfassung findet, dessen Idee sich der Mensch unterordnen muß: so zieht der Sozialismus nur die richtige Konsequenz, wenn er verlangt, daß dieses Prinzip auch wirklich der  Welt verfassung zugrunde gelegt werden muß.

Nur so kann in der Tat dem unseligen Zwiespalt ein Ende gemacht werden, der aus dem Widerspruch zwischen den Forderungen eines vollkommenen jenseitigen Reiches und einer unvollkommenen Ordnung der Welt sich fast für  jeden  ergibt. Das "Video meloria proboque, deteriora sequor" [Ich sehe das Bessere und heiße es gut, dem Schlechteren folge ich. - wp] entspringt durchaus nicht immer, ja nicht einmal in den meisten Fällen, dem individuellen Gelüst und der Machtlosigkeit des Fleisches besserer Einsicht gemäß zu handeln. Wohl ebenso oft, vielleicht öfter entspringt es der Unfähigkeit, ja Unmöglichkeit, diejenigen Forderungen, welche die gegebene Lebensordnung gebieterisch an uns stellt, mit denen in Einklang zu bringen, welche das Bewußtsein des Gottesreiches der Vollkommenheit, oder sagen wir einfacher, unser Rechtsbewußtsein an uns stellt. Die Beispiele ließen sich in Fülle geben. Sehen wir von dem fast berüchtigt gewordenen Beispiel des Offiziers ab, der sich schlagen muß, trotzdem ihm sein sittliches Bewußtsein den Zweikampf verbietet, weil er dann seine Stellung verlöre und die Pflicht gegen seine Angehörigen verletzte, die ihm höher steht. Nehmen wir planere Fälle! Nehmen wir den Richter, der den Bettler aufgrund des gegebenen Gesetzes einsperren muß. Er kann nicht anders, wenn er sich auch zehnmal sagt, dessen Sünde sei die Sünde der Gesellschaft. Nehmen wir den Fabrikanten, welcher wohl einsieht, daß eine Entlassung von Arbeitern so und so viele Familien elend macht, manche Glieder derselben dem Bettel, dem Verbrechen, der Prostitution auf immer in die Arme treibt: er kanns nicht ändern, er muß sie entlassen, weil er sonst zusammenbräche und dann - wenn er auch gar nicht an sich dächte - vielleicht die zehnfache Zahl gleichem Los preisgeben müßte. Statt dieser wenigen Beispiele ließen sich hunderte mit nicht schwerer Mühe ausfindig machen, in denen eine gebieterische Forderung der bestehenden Ordnung zu tun zwingt, was vor dem Richterstuhl des Ideals absolut verwerflich ist und diesem Ideal zum Trotz getan werden  muß. 

Daß von hier aus, ohne alles Beiwerk betrachtet, die sozialistische Grundanschauung höher als die bisherigen steht, darf nicht verkannt werden. Es ist ein hoher, der Begeisterung werter Gedanke, daß wir uns in Bezug auf die Ordnung der Gesellschaft nicht mehr von unberechenbaren wirtschaftlichen Gewalten leiten lassen, die wir durch mühselige Kompensationsversuche vergeblich ins Gleichgewicht zu bringen suchen: sondern daß wir dieselbe mit Kenntnis der Naturgesetze der Gesellschaft planmäßig zu gestalten streben. Solches Streben kann  prinzipiell  nur im reinsten Sinne als sittlich bezeichnet werden und war in dem Sinne, daß es einen entschiedenen sittlichen Fortschritt gegenüber den bisher geltenden praktisch-sittlichen Grundsätzen, vor allem dem unsittlichen, im schlimmsten Sinne materialistisch zu nennenden laissez-faire! [Drauf los gemacht - wp] gegenüber darstellt. Die bisherigen sittlichen Gewalten würden sich dem nur zu ihrem, zu der Gemeinschaft Schaden verschließen können. Allein sie werden es schwerlich auf die Dauer können. Denn alles deutet darauf hin, daß sich der sozialistische Grundgedanke im Bewußtsein und den Gemütern der Zeitgenossen immer mehr festsetzt. Er ist schon heute durchaus nicht mehr ausschließlch auf die Parteirichtung beschränkt, die sich ausdrücklich als sozialdemokratisch bezeichnet. Wie die Bewegung auch im Einzelnen verlaufen und wie sich die spätere Weltordnung im Besonderen gestalten möge: das Endergebnis dürfte in einer solchen Gestaltung der rechtlichen und sittlichen Grundlagen der Gesellschaft bestehen, welche allen Menschen gleichere gesellschaftliche  Grundbedingungen  der Existenz, der Kultur, der Sittlichkeit verbürgen kann, als es heute der Fall ist.

Wer dies erkennt und anerkennt, dem wird es zunächst nicht so sehr darauf ankommen, die große Zeitfrage mit Kritik von Einzelheiten, die an den gegenwärtigen Zuständen erhaltenswert und an utopischen Zukunftsvorstellungen verfehlt sein mögen, abzutun. Weit wichtiger ist es, die intellektuellen und sittlichen  Kräfte  wachzurufen, welche bewirken können, daß die notwendige Wandlung sich vollziehe, ohne daß die Welt mit Blut und Elend erfüllt werde.

Intellektuell ist es notwendig, die Lebensbedingungen zu erforschen, auf denen unter den gegebenen Voraussetzuzngen eine neue Ordnung zu ruhen vermag. Sittlich aber ist die Überwindung des Egoismus zu erstreben, welcher sich stets unbequemen Neuerungsstreben mit der ganzen Breispurigkeit hochmütiger Selbstgenügsamkeit entgegenstemmt und oft nur zu wirksam in die Maske der Ordnungsliebe, der Vaterlandsliebe, des Strebens nach Erhaltung der von den Vätern überkommenen Heiligtümer verkleidet. Dem gegenüber ist die Gesinnung wahrer Gerechtigkeit und Menschenliebe, die jedem Menschen die gleichen Grundlagen der Existenz gerne gewähren will, zu erwecken. Freilich, die Hoffnung, diese Gesinnung könnte heute allgemein werden, wäre utopisch. Eine Ordnung des wirtschaftlichen Faustrechts, welche fast notwendig die Gesinnungen des Mißtrauens, der Hinterhältigkeit, der rücksichtslosen Verfolgung des eigenen Vorteils erzeugt, kann nicht diejenigen sittlichen Früchte erzeugen, deren unumgängliche Voraussetzung eine Ordnung ist, in der Eigeninteresse und Interesse des Ganzen sich decken. Man muß zufrieden sein, wenn es gelingt, auch nur Wenige aus den besitzenden Klassen, eine größere Zahl der Gebildeten derjenigen sittlichen Grundidee dienstbar zu machen, welche die Zeit bei Strafe des Herinbruchs wilder, gesetzloser Zunstände gebieterisch fordert. Schon solcher Erfolg kann, wie F. A. LANGE mit Recht sagt, die Geburtswehen der neuen Zeit erheblich mildern und abkürzen.

Vor allem aber muß man sich vor der immer etwas pharisäisch klingenden Predigt an die Besitzlosen hüten, diese sollten, ehe sie weltbewegende Pläne fassen, erst an der eigenen sittlichen Besserung arbeiten. Das muß auf diese Leute nur verbitternd wirken und man darf sich nicht wundern, wenn es mit Zorn, ja mit Hohne zurückgewiesen und den Sittenpredigern das Wort in die Zähne geschleudert wird: Welches Recht habt ihr zu solcher Predigt, so lange ihr damit einen Rechtszustand verteidigt, der gerade das Gegenteil von den sittlichen Eigenschaften bei euren Standesgenossen erzeugt, die ihr so salbungsvoll von uns verlangt? Erst dann wird die Predigt wirksam sein, wenn sie nicht mehr wie nach dem bekannten Lied UHLANDs dahin ausläuft: "Hier innen Brüder alle! Da draußen Herr und Knecht!" - wenn sie nicht nur in der bekannten Formel sich auflöst: "Es ist ja vieles faul, vieles zu bessern, aber ..." - Wir müssen vielmehr ehrlich den Finger auf die Wunde legen, das  prinzipiell Unsittliche und Unhaltbare  unserer jetzigen wirtschaftlichen Ordnung zeigen, welches im Umstand liegt, daß der Besitz die Fähigkeit verleiht, ja die Notwendigkeit erzeugt, die Arbeit des Nichtbesitzenden auszubeuten und daß der größte Besitz unabwendbar den kleineren Besitz im Konkurrenzkampf teils völlig vernichtet, teils von sich abhängig macht.

Die erste aller sittlichen Aufgaben liegt darum nicht darin, den Menschen Besserung zu predigen, sondern die Vorbedingungen einer Ordnung schaffen zu helfen, einen Boden, in welchem das Saatkorn so einer Predigt Wurzel zu fassen vermag. Denn geschaffen werden muß diese Ordnung, geschaffen durch sittliche Menschenkraft. Sie wird weder gleich dem jenseitigen Gottesreich ohne Zutun der Menschen für sie geschaffen werden, noch von selber durch den Einfluß des wirtschaftlichen Getriebes entstehen. Sie wird freilich nicht geschaffen werden, wie man eine Maschine macht, indem man sie sich fertig im Kopf konstruiert, um dann die Materialien auszuwählen und zu bearbeiten, aus denen man sie zusammensetzt. Denn die Materialien sind gegeben und organisch erwachsen. Nur durch Erkenntnis und allmähliche bewußte Umbildung derselben zur höheren sittlichen Ordnung wird eine gedeihliche Entwicklung möglich sein.

In diesem Gedanken - den übrigens auch der sozialdemokratische Sozialismus nicht leugnet und nicht leugnen könnte, ohne fatalistisch zu werden und seine ganze Wirksamkeit zu verurteilen - liegt das Element, welches über die blanke Wirksamkeit materieller, ökonomischer Faktoren hinausführt. Hier ergänzt sich der Materialismus bewußt oder unbewußt durch den Idealismus. Die soziale Frage hört hier auf, wissenschaftlich eine ökonomische, praktisch eine Magenfrage zu sein. Sie wird eine sittliche Frage, wenngleich nicht in dem Sinne, daß sie eine unter vielen sittlichen Fragen wäre. Wenn man nicht auf diese oder jene vereinzelten Fälle, wo sich Menschen auch in der schlechtesten Ordnung sittlich bewähren, sondern auf die Gesamtheit der Individuen schaut, so muß man zugeben, daß die Sittlichkeit der Individuen abhängig ist von der Ordnung der sittlichen Gemeinschaft. Somit ist die Frage nach deren Ordnung der Kern und der Schwerpunkt aller sittlichen Fragen. Die soziale Frage ist die sittliche Grundfrage.

Von ähnlichen Gesichtspunkten aus hat bereits vor 25 Jahren F. A. LANGE die soziale Frage betrachtet. Hat er das Problem auch nicht so formuliert, ist er auch in seinen praktischen Forderungen heute überholt, so wird ein aufmerksamer Leser der Arbeiterfrage schwerlich leugnen können, daß er sie unter dem Gesichtspunkt solcher Formulierung betrachtet hat. Und so möchten wir eine treffliche Biographie dieses herrlichen Menschen, die ELLISSEN kürzlich veröffentlicht hat, in diesem Sinne beleuchten. Eine Besprechung von THEOBALD ZIEGLERs neuestem Buch: "Die soziale Frage ist eine sittliche Frage", welches trotz mancher Bedenken, die wir dagegen erheben müssen, doch ein erfreuliches Zeichen vom Eindringen sozialistischen Geistes ist, möge sich ihm anreihen.

LITERATUR - Franz Staudinger, Die sittliche Frage eine soziale Frage, Philosophische Monatshefte, Bd. 29, Berlin 1893