![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() | |||
Hat Kant Humes Treatise gelesen? Eine Frage als Überschrift verspricht gewöhnlich die Lösung eines Problems. Hier verhält es sich umgekehrt: während man allgemein die Annahme, daß KANT HUMEs Hauptwerk nicht gelesen hat, als feststehendes Resultat der Forschung ansieht, sind die folgenden Mitteilungen vielleicht geeignet, nicht für die Wahrscheinlichkeit, aber doch für die Möglichkeit der entgegengesetzten Annahme Raum zu schaffen und so jenem scheinbar gesicherten Resultat vorläufig wieder ein kleines Fragezeichen anzuhängen. Es gibt zwei sehr auffallende Parallelen zwischen KANT und HUMEs "Treatise". Auf die erste hat schon BENNO ERDMANN (1) aufmerksam gemacht, ohne jedoch durch sie in der Überzeugung irre zu werden, daß KANT den Treatise nicht gelesen hat; die andere ist meines Wissens bis jetzt noch nicht beachtet worden. Gleich im Anfang der kantischen Schrift über den "Einzig möglichen Beweisgrund etc." (1763) steht ein Abschnitt, der die Überschrift führt: "Das Dasein ist gar kein Prädikat oder Determination von irgendeinem Ding". Die hier entwickelte und kurz darauf noch einmal wiederholte Ansicht stimmt in so überraschender Weise mit Ausführungen des "Treatise" überein, daß ERDMANN in dem schon erwähnten Aufsatz (Seite 228) drei fast gleichlautende Äußerungen beider Philosophen nebeneinander setzen konnte. Sogar das von KANT gewählte Beispiel (Julius Cäsar) steht schon im "Treatise". ERDMANN selbst hält einen tatsächlichen Zusammenhang für ausgeschlossen. Hier sei nur vorläufig erwähnt, daß einer seiner Gründe, nämlich der Hinweis auf die Verschiedenartigkeit der ganzen Argumentation, in der sich die so merkwürdig analogen Stellen finden, mir hier nicht zwingend zu sein scheint. Wenn er sagt (Seite 223), nur für den Kompilator [Plünderer - Autor, dessen Arbeit im Wesentlichen aus dem Sammeln oder Zusammenstellen von Werken oder Zitaten anderer Autoren besteht. - wp] seien Gedanken wie Papierstreifen, die lediglich das Gedächtnis aneinanderklebt, so wird man dem doch entgegenhalten dürfen: aber Gedanken, die einmal das Interesse erregt haben, in einen anderen, neuen Zusammenhang zu verflechten, eben das ist Sache des schöpferischen Geistes. Bei der zweiten Parallele handelt es sich um KANTs Ozeangleichnis, durch das er das Verhältnis von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus so glücklich verdeutlicht hat: der dogmatische Philosoph fährt unvorsichtig hinaus in das "uferlose Meer", den "weiten und stürmischen Ozean"; der Skeptiker wagt sich überhaupt nicht aufs Wasser; der Kritiker aber besteigt sein wohlausgerüstetes Schiff und fährt besonnen den Küsten des Landes entlang. Dieses Gleichnis scheint zuerst 1763 in der Vorrede zum "Einzig möglichen Beweisgrund" aufzutreten, wo KANT die Metaphysik einen "bodenlosen Abgrund" und eine "finsteren Ozean ohne Ufer und ohne Leuchttürme" nennt; es wiederholt sich dann später in mancherlei Variationen (vgl. Vaihingers Kommentar I, Seite 39f). In der Einleitung der (Prolegomena) wird nun das Bild speziell auf den Skeptizismus angewendet (Schulz 36f) und da sagt KANT, daß HUME (er nennt direkt seinen Namen) noch nichts von der Möglichkeit des Kritizismus geahnt hat, "sondern sein Schiff, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand (den Skeptizismus) setzte, da es dann liegen und verfaulen mag." HUME selbst aber führt im Treatise am Schluß des ersten Buches (Edition von Green und Grose I, 544) aus, ehe er sich weiter in "those immense depth of philosophy" [unendlichen Tiefen der Philosophie - wp] hinauswagt, halte er Umschau, und da komme er sich vor wie ein Mensch, der schon an mancher Sandbank aufgefahren und beim Passieren einer Meerenge mit knapper Not dem Schiffbruch entronnen ist, nun aber trotzdem in demselben leckgewordenen Boot die Erdumseglung anzutreten wagt. Diese Überlegung könne ihn fast dazu bringen, "lieber auf dem kahlen Felsen zugrunde zu gehen, auf dem er sich gegenwärtig befindet" ("gegenwärtig" - d. h. am Schluß des erkenntnistheoretischen Teils), "als sich auf den grenzenlosen Ozean hinauszutrauen, der sich ins Unermessene ausdehnt." ("to perish on the barren rock, on which I am at present, rather than venture myself upon that boundlesse ocean, which runs out into immensity"). Dieses Gleichnis wird im "Essay" nicht wieder aufgenommen - nur an einer Stelle (Essays, ed. von Green und Grose II, Seite 84) wird ganz allgemein von einem "boundless ocean" des Zweifels und der Ungewißheit (in Fragen der metaphysischen Theologie) gesprochen. Und BEATTIE, an den man in erster Linie denken könnte, weist zwar in seinem "Versuch über die Natur und Unveränderlichkeit der Wahrheit" (deutsch 1772) auf das packende Gleichnis HUMEs hin (Seite 196), variiert auch das Bild von der Meerfahrt an zwei anderen Stellen (Seite 109, 352), ohne aber die oben angeführte spezielle Anwendung zu bringen, die ja allein als auffallend bezeichnet werden muß. Für einen Leser, der nur im Allgemeinen von der engen Beziehung zwischen KANTs und HUMEs Philosophie unterrichtet wäre, würde nun wohl kaum ein Zweifel bestehen, daß hier ein direkter Zusammenhang vorhanden ist. In Wahrheit liegt aber die Sache so, daß sehr schwerwiegende Gründe gegen KANTs Lektüre des Treatise angeführt worden sind. Wenn diese Gründe volle Beweiskraft besitzen, so kann in jenen starken Analogien selbstverständlich bloß ein (allerdings merkwürdiger) Zufall erblickt werden. Es scheint mir aber, daß die Argumente, die man vorgebracht hat, doch nicht so unerschütterlich sind, um dem Hinweis auf die beiden Parallelen alles Interesse zu nehmen. Es sind vor allem zwei Gründe, auf die man sich gestützt hat. Erstens wird es bezweifelt, ob KANT überhaupt englisch verstanden hat (JAKOBs Verdeutschung des Treatise erschien erst 1790). ERDMANN glaubt seine Unkenntnis des Englischen sogar zur Gewißheit erheben zu können (a. a. O., Seite 63f).
Viel schwächer ist aber die Position des zweiten Hauptgrundes den man z. B. bei RIEHL ("Kritizismus I", Seite 69) entwickelt findet. KANT, sagt man, hat nicht nur die allein im Treatise behandelte Substanztheorie HUMEs ignoriert, sondern es auch direkt ausgesprochen (Prolegomena, ed. Schulz, Seite 31, vgl. 35, 91),
Wie dem auch sei, jedenfalls ist es bemerkenswert, daß KANT an der oben angeführten Stelle sagt, HUME sei "hauptsächlich" von einem einzigen Begriff der Metaphysik ausgegangen. Noch viel bemerkenswerter aber ist es, und damit komme ich zu meinem Hauptbedenken, daß BEATTIEs Streitschrift, mit der KANT vertraut war, wiederholt mit großer Lebhaftigkeit und einmal mit ausführlichen Zitaten auf HUMEs Kritik des Substanzbegriffs eingeht, wobei sowohl die "Bündeltheorie" als auch die "Flußlehre" (um kurz die beiden Hauptgedanken zu bezeichnen) zur Darstellung kommen (a. a. O., 203f; vgl. 60, 63, 67f, 349). Man hat BEATTIEs Schrift herangezogen, um Kenntnisse KANTs zu erklären, die er sonst nur aus dem Treatise hätte haben können (vgl. Vaihingers Kommentar I, 347); hier aber müssen wir sagen: wenn die Kenntnis BEATTIEs KANT nicht an dem oben geschilderten Verhalten gehindert hat, so ist dieses Verhalten auch kein zwingender Beweis gegen die Lektüre des Treatise selbst. Ich komme so zu dem Resultat, daß die Möglichkeit von KANTs Kenntnis von HUMEs Hauptwerk nicht vollständig ausgeschlossen ist, und daß infolgedessen jene Analogien doch einiges Interesse verdienen. Mehr zu behaupten liegt mir fern. Vielleicht können genauere Kenner der Literatur meine Bedenken mit geringer Mühe beiseite schieben, und der Erfolg dieser kurzen Mitteilung würde dann eben darin liegen, daß die bisher geltende Überzeugung auf noch zuverlässigere Grundlagen gestellt würde. Vorläufig aber scheint es mir angezeigt, das Problem als noch nicht endgültig gelöst zu betrachten. ![]()
1) Benno Erdmann, "Kant und Hume um 1762", Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 1, 1888. |