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GUSTAV SCHILLING
Das niedere Geistesleben

"Wenn mehrere und verschiedene äußere Einwirkungen auf ein oder mehrere Sinnesorgane gleichzeitig oder schnell nacheinander stattfinden, so zeigen sich auch mehrere und verschiedene bewußte Zustände gleichzeitig oder nahezu gleichzeitig, die zum Teil Empfindungen, zum Teil Empfindungsvorstellungen sind. Allein sie sind nicht jede isoliert, nicht jede von jeder anderen getrennt und für sich ein Bewußtes, sondern sie sind alle zusammen und gemeinschaftlich bewußt, sie bilden nur  ein Bewußtsein." 

"Wie das Kind mit den ihm zugänglichen Gegenständen erst längere Zeit spielt, und sie dann, wenn es kann, zerstört, so betrachtet auch der Erwachsene dasjenige, was ihm neu ist, verweilend, und unterwirft es verschiedenen Versuchen. So gelangen wir einesteils zur Kenntnis der verschiedenen Merkmale eines Dings, anderenteils gewinnen die den einzelnen Merkmalen entsprechenden Vorstellungen erst während einer längeren Beschäftigung damit eine beträchtliche Stärke und verbinden sich infolge ihrer größeren Klarheit desto fest und inniger untereinander."

"Bei uns werden die Kinder von Eltern und Lehrern zum Zählen angeleitet; dennoch machen sie darin oft nur zu langsame Fortschritte; manche Wilde kommen in ihrem ganzen Leben nicht über die Zusammenzählung sehr weniger Glieder hinaus. Auch hier ist es nur das Gezählte, was sich Jedermann vorstellt; die Zahl aber und die Zahlenreihe sind nur Gegenstände wissenschaftlicher Abstraktion und Betrachtung."


Dritter Abschnitt
§ 18.
Die verschiedenen Arten der Empfindungen

Nachdem die Bedingungen für die Entstehung der  Empfindungen  im Allgemeinen angegeben sind, ist jetzt zuerst die äußerst große Mannigfaltigkeit der letzteren zu betrachten, die sich abhängig zeigt von der Verschiedenheit der affizierten Sinnesorgane und dessen, was und wie es sie anregt. Den Affektionen des Gehörgangs entsprechen Töne, Laute, Klänge, Schalle und Geräusche. Die Tätigkeit des Sehorgans wird von den Empfindungen der Farben und Beleuchtsgrade begleitet. Das Geschmacksorgan ruft die Empfindungsarten des Süßen, Sauern, Bittern, Herben, Salzigen, Fetten usw. hervor. Die Gerüche werden nicht durch eigentümliche Worte bezeichnet, sondern nach Geschmäcken, wie süß, sauer; oder nach den Dingen, die auf das Geruchsorgan wirken, wie Rosen-, Veilchengeruch; oder nach Zuständen und Veränderungen, in denen sich jene Dinge während der Einwirkung befinden, wie faulig, moderig. Durch eine Erregung des Organs der Haut entstehen die Gefühle des Widerstandes und der Temperatur, von denen die erstere Gattung mehrere verschiedene Empfindungsarten befaßt, wie das Stumpfe und Spitze, das Rauhe und Glatte, das Weiche und Harte. Die Empfindlichkeit der Haut, verschieden an verschiedenen Körperstellen, ist am feinsten an den Spitzen der Finger, Zehen und Zunge. Die dadurch vermittelten Gefühle nennt man Tastempfindungen, mit Bezug auf die große Beweglichkeit dieser Organe. Schließlich ist noch eine Gruppe von Empfindungen zu bemerken, die den wechselnden Vorgängen und Zuständen im Inneren des Leibes entsprechen, und Gemein-, oder Lebens- oder Vitalgefühle genannt werden. Bei den Gefühlen des Hungers, Durstes, Zahnwehs, Kitzels, der Beklemmung, Ermüdung, Abgeschlagenheit usw. scheint sich der Körper mehr leidend zu verhalten, und zwar entweder in einzelnen seiner Teile oder allgemein. Die Gefühle, die wir von den bewegten Muskeln haben, die Gefühle von Gesundheit und Rüstigkeit verraten mehr eine Tätigkeit, die wiederum auf einzelne Stellen des Körpers beschränkt oder in allen verbreitet ist.

Die Qualität oder das eigentümliche  Was  der Empfindungen ist nicht in allen Arten gleich bestimmt und scharf zu erfassen. Darum können auch die gradweisen Verschiedenheiten und feinen Übergänge der Empfindungen je einer Art nicht überall gleich genau bemerkt werden. Am meisten ist dies noch bei den Tönen und Farben der Fall, in etwas geringerem Maße bei den Selbstlauten und Beleuchtungsgraden, noch weniger bei den Tastempfindungen. Dies bezeugen die, nur zum Teil künstlichen Zusammenstellungen, die man nach dem Grad der Verwandtschaft namentlich von den Tönen, Farben und Selbstlauten gemacht hat, um die qualitativen Abstufungen der zu diesen Arten gehörigen Empfindungen zu veranschaulichen. Diejenigen, welche miteinander verglichen am wenigsten von einander verschieden, oder (was dasselbe bedeutet) am meisten einander gleich sind, kommen am nächsten bei einander zu stehen. So denkt man sich die Töne in einer Reihe zusammengeordnet, die Farben in mehreren Reihen, die NEWTON zu einem Farbendreieck zusammenschloß, das jedoch nicht alle Farben befaßt. Durch Übung und Aufmerksamkeit lernt man übrigens mit der Zeit geringere qualitative Abstufungen, als man anfangs vermag, in ihrer Bestimmtheit auffassen. Ein ungeübtes Ohr unterscheidet nur Vierteltöne, ein geübtes aber Achteltöne. Obwohl sich nun von diesem Hinausdrücken der Grenze für die Unterscheidbarkeit sehr nahestehender Empfindungen in allen Arten Beispiele finden, so bleibt doch nur den Empfindungen der zuvor herausgehobenen Arten ihre bestimmte Auffassung und Unterscheidbarkeit auch dann noch, wenn mehrere gleichartige zugleich vorkommen; sie treten dann in räumlicher und zeitlicher Form auseinander, und bilden so das Material zu den Anschauungen. Darum nennt man jene Empfindungen  reine  oder  gesonderte  und hält sie wegen ihrer Unzerlegbarkeit für  einfache.  Dagegen werden die Klänge, Geräusche, Geschmäcke, Gerüche,, Gemeingefühle nebst den äußeren Gefühlen, mit Ausnahme der Tastempfindungen, im Allgemeinen ihrer Qualität nach nur sehr unbestimmt erfaßt. Sie sind vorzugsweise durch das in ihnen liegende Angenehme oder Unangenehme charakterisiert, und es gelingt nicht dieses aus ihnen herauszusondern, und eine von ihm freie gleichgültige Qualität anzugeben. Treten mehrere dergleichen Empfindungen aus ein und derselben Art nacheinander auf, so können sie noch ziemlich gut voneinander unterschieden werden, aber gleichzeitig aufgefaßt, verwirren sie sich meistens und geben ein Gemischtes, Mittleres, dessen Elemente nicht mehr zu unterscheiden sind. Schon dadurch wird es wahrscheinlich, daß jede einzelne dieser Empfindungen zusammengesetzt ist, und daß sie den Namen  gemischte  oder  Gesamtempfindungen  mit Recht tragen. Nach all dem ist die Anzahl der qualitativ verschiedenen Empfindungen, die sich unter Voraussetzung der nötigen Umstände in der Seele erzeugen, eine sehr große.


§ 19.
Empfindungsvorstellungen. Einheit des Bewußtseins.
Vorläufige Auseinandersetzung über Wahrnehmung,
Anschauung und Vorstellung.

Hört die Einwirkung eines Gegenstandes auf ein Sinnesorgan auf, so bricht wenigstens die zugehörige Empfindung nicht sofort ab, sondern sie wird nur allmählich schwächer, und pflegt er nach einiger Zeit gänzlich unmerklich zu werden. Dergleichen Zustände, die nach Aufhebung ihrer äußeren Bedingungen doch in der Seele noch als bewußte zurückbleiben, wenn auch sich abschwächend, nennt man  Empfindungsvorstellungen  oder auch bloß  Vorstellungen.  Dann ist aber das Wort  Vorstellung  in einem erweiterten Sinn gebraucht, so nämlich, daß abgesehen wird sowohl von der Entstehung der inneren Zustände und ihren Bedingungen, als auch von der Beziehung auf ein vorstellendes Subjekt, und auf vorgestellte äußere Gegenstände. Wenn mehrere und verschiedene äußere Einwirkungen auf ein oder mehrere Sinnesorgane gleichzeitig oder schnell nacheinander stattfinden, so zeigen sich auch mehrere und verschiedene bewußte Zustände gleichzeitig oder nahezu gleichzeitig, die zum Teil Empfindungen, zum Teil Empfindungsvorstellungen sind. Allein sie sind nicht jede isoliert, nicht jede von jeder anderen getrennt und für sich ein Bewußtes, sondern sie sind alle zusammen und gemeinschaftlich bewußt, sie bilden nur  ein Bewußtsein.  Die Einheit und Einfachheit der Seele erklärt das genügend. Denn in allen ihren Vorstellungen ist sie das Tätige (§§ 15 - 17); dadurch sind alle vereinigt. Vom Kind müssen daher anfänglich alle gleichzeitig gegenwärtigen Empfindungen und Vorstellungen als ein ungeteiltes Ganzes aufgefaßt werden, welches sich jedoch alsbald teilt in Folge der Bewegungen sowohl der Dinge als auch des Kindes. Nach einiger Erfahrung, die freilich nur mit Hilfe der Reproduktion zustande kommt, muß demnächst die Umgebung aufgefaßt werden als bestehend aus mehreren Gruppen von Empfindungen und Vorstellungen, die immer oder meistens zusammenbleiben. Inzwischen bilden und befestigen sich auch die räumlichen und zeitlichen Auffassungen, und der Kreis des nur innerlich Empfundenen und Vorgestellten wird wirklich als Umgebung, d. h. als Äußeres gesetzt. Es muß ferner die Gebundenheit irgendwie bemerkt werden, wonach die Entstehung, Qualität und Gruppierung der Empfindungen unserem Beliebem entzogen ist. Das Bindende muß, wenn auch mit noch so geringer Bestimmtheit und bewußter Entschiedenheit in die äußeren Umstände zerlegt werden, näher bestimmt in Etwas, das unabhängig von uns und außer uns existiert, auf uns einwirkt, dadurch Ursache der Empfindungen wird, und in ihnen seine Beschaffenheit zu erkennen gibt. Erst wenn der Mensch seine Empfindungen und ihre Gestaltung auf ein unabhängiges Äußeres bezieht, und dieses durch und in seinem Empfindungen so zu fassen und zu nehmen glaubt, wie es sich gibt und ist, macht er  Wahrnehmungen Ist es dann schließlich dahin gekommen, daß sich die eintretenden Wahrnehmungen im Bewußtsein sowohl einander selbst gegenüberstellen, als auch denjenigen Vorstellungen, auf welche sie treffen (§ 7), so sind sie zu  Anschauungen  geworden. Denn in der Anschauung liegt einerseits eine Beziehung auf ein anschauendes Subjekt, andererseits ein Abheben und Unterscheiden einer Anschauung von anderen. Hört die Sinnesaffektioni bei solchen Anschauungen auf, so bleiben  eigentliche  Vorstellungen im Bewußtsein zurück, d. h. Abbilder von äußeren Gegenständen und Ereignissen, die das Subjekt vor sich hinstellt. Wiewohl nun Wahrnehmen, Anschauen und Vorstellen in diesem Sinne für jeden Erwachsenen sehr gewöhnliche und gemeine Tätigkeiten sind, so ist doch durch das eben Erörterte klar geworden, daß sie ziemlich zusammengesetzte Prozesse sind, und auf verwickelten Bedingungen ruhen, die zuvor einzeln erfaßt und erklärt sein wollen. Schon das dabei vorkommende räumliche und zeitliche Auseinanderbreiten und Ordnen vieler gleichzeitig oder nacheinander eintretender gesonderter Empfindungen verlangt zu seiner Erklärung noch mancherlei einfachere Vorbereitungen, die leichter an die Betrachtung einiger anderer geistiger Tatsachen angeknüpft werden können.


§ 20.
Enge des Bewußtseins. Verschiedenheit
und Wechsel der Klarheit des Bewußten.

Es ist eine durchgreifende Tatsache, daß die Menge der gleichzeitig bewußten Zustände der Seele in jedem Augenblick ziemlich gering ist. Diese sogenannte  Enge des menschlichen Bewußtseins  zeigt sich darin recht auffällig, daß wir inmitten einer zahllosen Menge von Dingen und Ereignissen nur sehr wenig auf einmal davon auffassen und wahrnehmen können. Freilich haben schon die Sinnesorgane eine solche Einrichtung, daß unter Umständen oder für immer Vieles von der Einwirkung auf sie ausgeschlossen ist. Dennoch finden auch so noch viele Sinneserregungen wirklich statt, denen nichts Bewußtes entspricht; und zwar ist dies der Fall, teils wenn bereits andere und öfter ganz fremdartige Vorstellungen den Menschen beschäftigen oder gar aufgeregt haben, teils wenn der sinnliche Eindruck nicht die genügende Stärke oder Dauer besitzt. Was das Letztere anlangt, so überhören wir z. B. ein zu leises Geräusch, und übersehen zu wenig beleuchtete Gegenstände. Wachsen aber Geräusch und Licht, dann erfolgen auch bei irgendeinem Grad anfangend die Wahrnehmungen, und nimmt von da an die Stärke des sinnlichen Eindrucks immer noch weiter zu, so wird auch die sinnliche Wahrnehmung stärker bis zu einer gewissen Grenze, die sie nicht überschreiten kann. Man wird es hiernach natürlich finden, daß die gleichzeitig bewußten Zustände sehr verschiedene Grade der Klarheit und Helligkeit zeigen; vom Gesehenen pflegt z. B. dasjenige am klarsten zu sein, dessen entsprechende Gegenstände in der Mitte des Gesichtsfeldes liegen, das Übrige hat eine in verschiedenen Graden geringere Klarheit. Selbst wenn während einer etwas längeren Dauer derselben sinnlichen Eindrücke die entsprechenden Wahrnehmungen eine Zeitlang im Bewußtsein verweilen und sonst nichts verändernd eingreift, behalten sie doch ihre Klarheit nicht im anfänglichen Verhältnis. Man betrachte z. B. während einer Minute oder noch länger dasselbe Gesicht, und fixiere dabei mit unverrückten Augen die Nasenspitze. Dann treten bald Augen und Stirn, bald Mund und Kinn, bald die recht oder die linke Seite des angeschauten Gesichts lebhafter im Bewußtsein hervor, wechselnd ohne bemerkbare Regel. Während die einen der gleichzeitigen Wahrnehmungen an Klarheit gewinnen, oder, wie man sich bildlich ausdrückt, im Bewußtsein  steigen,  werden die anderen dunkler und verlieren an Klarheit, oder sie  sinken  im Bewußtsein. Beides, sinken und Steigen, wird, ebenfalls bildlich,  Bewegung  genannt. Nicht etwa bloß die Wahrnehmungen, sondern alles, was im Bewußtsein vorgeht, ist dem Wechsel der Klarheit unterworfen; jedoch ist er nur selten ein eigentlich oszillierender.


§ 21.
Vergessen. Unmittelbar und
mittelbare Erinnerung

Wenn wegen der Bewegungen und Veränderungen der Dinge und des Menschen die äußeren Einwirkungen anders werden, so treten entsprechend auch andere Wahrnehmungen im Bewußtsein auf. Das eben zuvor Wahrgenommene dagegen bleibt zwar gewöhnlich auch noch im Bewußtsein, aber mit abnehmender Klarheit, so daß es sehr bald alle Klarheit oder Bewußtheit verliert und schließlich aus dem Bewußtsein verschwindet, oder, wie man es nennt,  vergessen  wird. Die an seine Stelle getretenen neuen Wahrnehmungen erlangen ihrerseits schneller oder langsamer eine immer größere Klarheit, und verlieren sie ebenso wieder beim Fortschritt zu neuen Wahrnehmungen, die demselben Schicksal entgegengehen. War etwas eine Zeitlang vergessen, so erscheint es, wenn die Wahrnehmung zu ihm zurückkehrt, abermals im Bewußtsein, so jedoch, daß es als ein schon Bekanntes auftritt, und als dasselbe  wiedererkannt  wird, welches auch früher schon ein (oder mehrere) Mal wahrgenommen war. Indem sich so der Gedanke eines Zeitverlaufs zwischen jener und dieser Wahrnehmung mehr oder weniger bestimmt eindrängt, ist ein solches durch die gegenwärtige Wahrnehmung hervorgerufenes Andenken an frühere gleichartig eine  unmittelbare Erinnerung.  Dabei bleibt es jedoch in den meisten Fällen nicht, sondern mit dem unmittelbar Erinnerten werden auch gewisse andere, eben noch vergessen gewesene Vorstellungen wiederum bewußt, nämlich die Vorstellungen von Umständen und Ereignissen, die ehemals mit jenem Erinnerten gleichzeitig oder ihm nachfolgend aufgefaßt sind. Das Wiederbewußtwerden derselben lediglich infolge des unmittelbar Erinnerten ist  mittelbare Erinnerung.  Treffen wir z. B. auf einer Reise unvermutet einen Freund, der seit Jahren fern von uns gelebt hat, so erkennen wir nicht nur ihn selbst gewöhnlich sofort wieder, sondern wir denken nun auch an unseren früheren gemeinschaftlichen Aufenthaltsort, an unsere Erlebnisse selbst, an gemeinsame Bekannte usw. Derlei Erinnerungen sind von sehr verschiedenen Graden der Klarheit, deren Höhepunkt bald schneller bald langsamer erreicht wird; manche bleiben verhältnismäßig in einem schwachen Dämmerlicht zurück, oder es tritt nur Einzelnes davon etwas klarer hervor, und dient dann oft als Anknüpfungspunkt, um auch Anderes heller aufleuchten zu machen. Auch die Wiedererkennung geschieht nicht immer sofort und wie auf einen Schlag. Haben wir etwa den Freund sehr lange nicht gesehen, und den äußeren wie den inneren Verkehr mit ihm längst abgebrochen, dann erhebt sich in uns sein Bild aus der Vergangenheit nur langsam und mit Mühe. Es zeigt begreiflicherweise, da die Zeit nicht spurlos am Freund vorübergegangen sein wird, Verschiedenheiten gegen die jetzige Wahrnehmung; nur Einiges, nur gewisse Gesichtszüge sind in beiden dieselben, an ihnen wird der Betrachtete schließlich wiedererkannt. Während hier das alte Bild aus der früheren Wahrnehmung als eine besondere Vorstellung erscheint, und von der neuen Wahrnehmung bequem zu unterscheiden ist, fällt eine solche Unterscheidung schwer oder geradezu in das Gebiet der Unmöglichkeit, wenn der Gedanke an die frühere Wahrnehmung schnell hervorspringt und das Wahrgenommene jetzt und früher nahezu oder gänzlich gleich ist.


§ 22.
Disparate Vorstellungen, Komplikation.
Entgegengesetzte Vorstellungen, Hemmung.

Sollen die bisher vorgeführten geistigen Tatsachen erklärt werden, so liegt darin die Forderung, sie als Erbfolge der Tätigkeiten der Seele zu betrachten, sie somit in Zusammenhang mit denjenigen metaphysischen Begriffen aufzufassen und zu denken, welche in dieser Beziehung bereits in §§ 15 - 18 gewonnen sind. Dazu ist aber nötig jene Begriffe selbst weiter auszubilden.

Alle Vorstellungen eines Menschen sind Tätigkeiten seiner einfachen Seele. Geht man also aus, wie man muß, von den unzerlegten einfachen Vorstellungen (§§ 18 und 19), so werden alle gleichzeitigen wegen der Einfachheit der Seele ohne weiteres vereinigt, wenn in ihnen selbst keine Hindernisse liegen. So geschieht es mit den ungleichartigen,  disparaten  Vorstellungen. Denn die Vorstellungen aus verschiedenen Arten, z. B. ein Ton, eine Farbe, ein Geschmack, ein Gefühl, zeigen aufeinander bezogen nur reine Verschiedenheit, aber keinen Gegensatz; zusammen stören sie deshalb einander nicht. Ihre Vereinigung nennt man  Komplikation.  Naheliegende Beispiele davon aus der Erfahrung sind die mehrerwähnten Gruppen disparater Merkmale in unseren Vorstellungen der Dinge, und die Verbindung jedes Gedankens mit den Vorstellungen der ihn bezeichnenden Laute und Schriftzüge, eine Verbindung, die so innig ist, daß sie die Meinung veranlaßt hat, als wäre ein Denken ohne Worte unmöglich.

Dagegen sind die Vorstellungen ein und derselben Art immer einander  entgegengesetzt,  zwar so, daß der Grad oder die Größe des Gegensatzes zwischen einem Paar stets eine bestimmte ist, jedoch nur bei den Farben und Tönen mittels ihrer (§ 18) erwähnten Zusammenordnung zu Reihen genauer angegeben werden kann. Nimmt man nämlich an, daß die äußersten Glieder einer Reihe, wie reines Rot und reines Blau, oder diejenigen eines sich öfter wiederholenden Abschnittes in der Reihe, wie Grundton und Oktave, ohne alle Verwandtschaft oder Gleichheit sind, so ist ihre Ungleichheit oder ihr Gegensatz ein  vollkommene  und  = 1  zu setzen. Dann ist der Gegensatz, in welchem jede Farbnuance zwischen jenen Grenzen zum reinen Rot, oder jeder tiefere Ton zum Grundton steht, kleiner als  1,  also ein echter Bruch, und zwar umso kleiner, je näher er in den betreffenden Reihen dem reinen Rot oder dem Grundton steht. Zwischen unendlich nahe stehenden oder gleichen einfachen Vorstellungen derselben Art ist der Gegensatz unendlich klein oder  = 0.  Wenn nun mehrere entgegengesetzte Vorstellungen gleichzeitig in der einfachen Seele zusammentreffen, so müssen sie gegeneinander streiten oder wirken wie entgegengesetzte Kräfte. Dadurch wird, wie die Erfahrung lehrt, ihre Qualität nicht geändert; die Vorstellungen fließen nicht etwa in Eine von mittlerer Qualität zusammen, sondern jede erscheint in ihrer eigentümlichen Qualität neben der anderen. Dagegen fällt ihre Klarheit, der Grad ihrer Bewußtheit der Verminderung und selbst der Vernichtung anheim. Denn je mehr entgegengesetzte Vorstellungen zugleich vorhanden sind, umso weniger Klarheit besitzt jede einzelne, und die früher gegebenen verschwinden bald gänzlich, wenn immer neue dazu kommen. Also ist Verminderung der Klarheit die Wirkung ihres Kampfes gegen einander. Wollte man jedoch weiter behaupten, daß dadurch auch das Bestehen der Vorstellungen aufgehoben, und mit ihrer Klarheit im Bewußtsein zugleich ihr Vorhandensein überhaupt vermindert oder vernichtet würde, weil Klarheit und Bestehen der Vorstellung, wenn nicht ein und dasselbe, so doch untrennbar wären, so erhebt die Erfahrung dagegen Einspruch. Allerdings ist die nächste erfahrungsmäßige Kunde vom Vorhandensein einer Vorstellung an ihr Erscheinen im Bewußtsein, an ihre Klarheit geknüpft. Allein vergessene Vorstellungen tauchen in der Erinnerung wieder auf (§ 21), oszillierende (§ 20) kommen wieder zu größerer Klarheit, ohne daß die äußeren Bedingungen der Entstehung dieser Vorstellungen als Empfindungen vorhanden wären. Ihre Wiederbelegbung ist also keineswegs eine wiederholte Erzeugung, weil dazu die Bedingungen fehlen, sondern die vergessenen Vorstellungen müssen - darauf deutet die Erfahrung hin - irgendwie in der Seele fortbestanden haben, um unter günstigen Umständen der Vergessenheit entrinnend wieder bewußt zu werden. Klarheit der Vorstellungen und ihr Bestehen können somit weder ein und dasselbe, noch auch unabtrennlich voneinander sein. Dazu kommt, daß ein Widerstreit unter Vorstellungen nur stattfinden kann, wenn sie bestehen. Noch mehr, die Vorstellungen sind Tätigkeiten der Seele oder Vorgänge, die wirklich geschehen (§ 17); weil aber das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann, so können sie auch nie vernichtet werden. Sondern sie bleiben, wenn das zu ihrem ersten Entstehen nötige Kausalverhältnis aufhört, wie die Erfahrung dies vor Augen legt; sie müssen auch bleiben, wenn sie gegen einander wirken. In letzterem Fall aber muß man die Tätigkeit des Vorstellens als Tätigkeit unterscheiden von ihrem ersten und natürlichen Erfolg, der Klarheit der Vorstellung im Bewußtsein. Jene bleibt immer bestehen, diese allein kann durch das Gegeneinanderwirken der Vorstellungen teilweise oder gänzlich aufgehoben werden.

Dies alles sichert den Satz: gleichzeitig zusammentreffende entgegengesetzte Vorstellung beschränken einander in ihrer Klarheit, und soweit sie sich verdunkeln, insoweit verwandeln sie sich in bewußtlos fortbestehende Zustände der Seele.

Mit dem Wort  Hemmung  bezeichnet man das Gegeneinanderwirken entgegengesetzter Vorstellungen samt seinem Erfolg, ihrer teilweisen oder gänzlichen Verwandlung in bewußtlose Zustände der Seele.


§ 23.
Bestimmte Größe der Hemmung. Gleichgewicht unter sich
hemmenden Vorstellungen, ihre Annäherung an dasselbe.

Da sich der Kampf unter gleichzeitigen Vorstellungen an ihrem Gegensatz entzündet, und in seinem Verlauf, wie sich von selbst versteht, die Stärke der Kämpfenden in Anspruch genommen wird, so muß die Hemmung unter gegebenen bestimmten Vorstellungen stets eine bestimmte Größe haben, die nur von der Anzahl der gegeneinander streitenden Vorstellungen, von der Größe des unter ihnen paarweise stattfindenden Gegensatzes und von der eigentümlichen Stärke der Vorstellungen abhängen kann. Also erleidet jede einzelne der kämpfenden Vorstellungen in einem bestimmten Grad Verdunkelung oder Verminderung der Klarheit. Ist sie nur teilweise verdunkelt, so ist sie damit nicht in zwei Stücke geteilt, deren eines verdunkelt und bewußtlos wäre, während das andere klar und bewußt vorgestellt würde. Sondern weil die Vorstellung ein Intensives und Unheilbares ist, kann nur die  ganze  Vorstellung in einem gewissen Grad verdunkelt sein, und ebenso nur die  ganze  in einem andern (jenen ersten zur Einheit ergänzenden) Grad klar bleiben. Da der Streit unter den Vorstellungen ein gegenseitiger ist, so ist ebenso ihre Verdunkelung gegenseitig; ihr kann sich keine der im Streit befindlichen gänzlich entziehen, wäre sie auch noch so stark. Offenbar aber werden die stärkeren Vorstellungen einer Hemmung verhältnismäßig stärkeren Widerstand leisten, also weniger Verdunkelung erleiden; die schwächeren aber können sich einer verhältnismäßig größeren Hemmung nicht erwehren. Die letzteren werden also mehr verdunkelt, und da sie anfänglich schon eine verhältnismäßig geringe Klarheit im Bewußtsein besitzen, so wird es sehr leicht geschehen können, daß ihrer viele durch wenige stärkere gänzlich verdunkelt werden. Damit ist das Vergessen nebst der Enge des Bewußtseins erklärt (§ 20f). Von den unzählig vielen in der Seele nach und nach entstandenen Vorstellungen, von den erworbenen Kenntnissen kann in jedem Augenblick verhältnismäßig immer nur äußerst wenig bewußt sein, das Übrige ist durch das Gegenwärtige verdrängt.

Sind nun von den im Kampf befindlichen Vorstellungen nicht bloß die schwächeren ganz verdrängt, sondern auch die übrigen, sich im Bewußtsein noch haltenden, jede soweit verdunkelt, als es ihr nach Maßgabe der wirkenden Kräfte gebührt, so ist zu weiterer Hemmung kein Grund mehr vorhanden, und die Vorstellungen sind in  Ruhe  oder im  Gleich gewicht; jede hat ihren  Gleichgewichtspunkt  erreicht. Aber dieses Gleichgewicht, in welchem einige Vorstellungen gänzlich, andere bis auf einen bestimmten Grad verdunkelt sind, wird nicht plötzlich oder in Sprüngen gewonnen, sondern nur durch stetige Übergänge. Denn es hängt ab vom Gegeneinanderwirken der Vorstellungen; je mehr aber ihrem Streit durch verhältnismäßige Verdunkelung der einzelnen bereits Genüge geschehen ist, umso weniger scharf und kräftig stehen sie sich ferner noch entgegen. Der lässigere Kampf bringt auch nur eine geringere Nötigung zu weiterer Verdunklung mit sich. Diese Nötigung wird im Verlauf des sich immer mehr abschwächenden Kampfes sogar unendlich klein werden, aber eben darum wird ihr Ziel, die absolute Ruhe, in keiner Zeit ganz erreicht sein. Die streitenden Vorstellungen verdunkeln sich demnach anfangs zwar ziemlich beträchtlich und schnell, späterhin aber nur noch ewnig und langsam, indem sie immer in einem leisen Schwanken und Schweben bleiben. In der Tat findet man bei der Selbstbeobachtung nie etwas durchaus Feststehendes und Stillhaltendes. Zudem pflecht der Fortschritt der äußeren Wahrnehmung bald genug neue Vorstellungen herbeizuführen, die mit den vorhandenen, dem Gleichgewicht bereits nahe gekommenen in verschiedenen Gegensätzen stehen können, und sie alsdann in neue Hemmungen mit neuen Gleichgewichtspunkten verwickeln, infolge deren sie sich alle zusammen anfänglich wieder mit schleunigeren Bewegungen den neuen Zielen annähern. So ist die Klarheit jeder Vorstellung immer wechselnden Veränderungen unterworfen und kann daran von der sich stets gleichbleibenden Stärke der Vorstellung unterschieden werden. Die Stärke einer Vorstellung ist nämlich nichts anderes, als die ganze in ihr wirksame Tätigkeit des Vorstellens (§ 22), die ihrer Intensität nach hauptsächlich von der Stärke des sinnlichen Eindrucks beim ersten Entstehen abhängt (§ 20). Verschiedene Vorstellungen haben allerdings eine sehr verschiedene Stärke; die Stärke ein und derselben Vorstellung bleibt sich trotz aller Veränderungen ihrer Klarheit im Bewußtsein so lange gleich, als nicht durch erhöhte Gewalt des zugehörigen Sinneseindrucks eine Verstärkung herbeigeführt wird.


§ 24.
Verschmelzung

Durch die Hemmung geschieht dem Gegensatz Genüge, und wieviel Klarheit von den entgegengesetzten Vorstellungen im Bewußtsein zurückbleibt, soviel ist von ihnen gleichzeitig miteinander verträglich, und muß sich wegen der Einfachheit der Seele miteinander verbinden. Derlei Vereinigungen entgegengesetzter Vorstellungen zu einer Gesamttätigkeit nennt man  Verschmelzung zur Unterscheidung von den Komplikationen disparater Vorstellungen. Der Name  Assoziation  umfaßt beide Arten von Verbindung. Die Verschmelzungen können nur  unvollkommene  Vereinigungen sein; denn entgegengesetzte Vorstellungen vereinigen sich immer bloß in denjenigen  geringeren Graden, welche unangetastet von der Hemmung gleichzeitig  im Bewußtsein zurückbleiben, oder wie man es kurz ausdrückt, nur durch ihre ungehemmt bleibenden  Reste.  Hingegen wird die Komplikation disparater Vorstellungen eine  vollkommene  Verbindung sein, wenn die sich verbindenden nicht schon anderweitig gehemmt sind. Da somit der Gegensatz nur eine unvollkommene Vereinigung der entgegengesetzten Vorstellungen zuläßt, so zeigt er sich insofern als Grund der relativen Sonderung im gleichzeitigen Vorstellen, das außerdem nur einen ungeschiedenen Gesamtzustand erzeugen würde. Übrigens können die Komplikationen und die Verschmelzungen als vereinigte Tätigkeiten dem Sinken und Steigen nur gemeinschaftlich unterworfen sein.


§ 25.
Streben vorzustellen.

Der natürliche und ursprüngliche Zustand jeder Vorstellung ist, daß sie bewußt erscheint oder Klarheit besitzt. Die Klarheit ist in der vorstellenden Tätigkeit an und für sich, in ihrer Natur begründet. Hemmung dagegen liegt in keiner Vorstellung an und für sich allein oder in ihrer Natur, sondern sie komt ihr nur zufällig zu, wenn sie mit entgegengesetzten zusammengerät. Jedoch besteht in der Hemmung noch die Tätigkeit des Vorstellens, nur daß sie gehindert ist denjenigen Erfolg im Bewußtsein hervorzubringen, den sie haben würde, wenn sie allein ihrer Natur nach wirkte ohne Beschränkung durch entgegengesetzte. Also muß sich dieser Erfolg auch sofort wieder zeigen, wenn und soweit durch eine Aufhebung der Beschränkung die Tätigkeit des Vorstellens in ihren natürlichen Zustand wieder zurückversetzt wird, somit dasjenige wieder hergestellt ist, was die Klarheit begründet. Man wird hiernach eine Vorstellung, soweit sie gehemmt ist, am besten als ein  Streben vorzustellen  bezeichnen. Denn darin liegt, daß die Tätigkeit des Vorstellens fortbesteht, aber gehindert ist ihre Wirksamkeit im Bewußtsein zu zeigen, was sie ohne die Behinderung unfehlbar tun würde, oder anders gefaßt, was sie wirklich tut, falls die Behinderung wegfällt. Sind also Vorstellungen gehemmt, so ist ihr Streiten und Streben gegen einander, durch welches sie sich von der Hemmung möglichst fern zu erhalten suchen, zugleich eine  Zurückstreben zu einer unbehinderten Klarheit.  Offenbar kann das Gegeneinanderstreben gehemmter Vorstellungen und ihr Wiederaufstreben zur Klarheit nicht innerlich wahrgenommen werden; denn es kommt ihnen nur zu, sofern sie gehemmt, d. h. der Bewußtheit beraubt sind. Wie aber das Fortbestehen der Vorstellungen, ohne daß sie bewußt sind, im Denken angenommen werden muß, um dasjenige, was bewußt ist, begreifen zu können, ebenso und aus gleichem Grund muß der Zustand gehemmter Vorstellungen durch jene Begriffe gedacht werden.


§ 26.
Reproduktion, unmittelbar und mittelbare.
Vorstellungsreihen.

Gänzlich gehemmte Vorstellungen sind vergessen. Nach dem eben Erörterten wird das Vergessene, kraft des in ihm liegenden Wiederauftretens zur Bewußtheit, wiederum in uns klar werden, wenn und soweit es von der Hemmung befreit wird. Sein Wiederaufleben oder die Produktion der Vorstellung unter den bezüglichen äußeren Bedingungen (§§ 17 und 18), sondern es ist nur ein Wiederbewußtwerden der schon bestehen, aber gehemmten Vorstellung. Darum nennt man es  Reproduktion,  und die Tatsachen der unmittelbaren und mittelbaren Erinnerung (§ 21) finden hier ihre teilweise Erklärung. Werden nälich die dem Vergessenen entgegenstehenden Vorstellungen irgendwie zum Weichen gebracht, so ist damit das Vergessene von der Hemmung befreit, und reproduziert sich wirklich. Die zwei Arten der Erinnerung lehren zweierlei Weisen kennen, auf welche das dem Vergessenen Entgegenstehende zum Weichen gebracht werden kann. Die erste ist, daß infolge des Wiedereintritts der äußeren Bedingungen eine der gehemmten gleiche Vorstellung wirklich wieder neu erzeugt, oder, wie man sagt, in wiederholter Wahrnehmung frisch  gegeben  wird. Dann hemmt diese neu erzeugte Vorstellung das, was im Bewußtsein ihr, mithin auch der ihr gleichen älteren, aber eben ganz verdunkelten entgegengesetzt ist. So ist die gleiche ältere Vorstellung von der Hemmung befreit und tritt nun von selbst, durch eigene Kraft wieder klar ins Bewußtsein hervor. Sie ist eine  frei steigende,  mit welchem Ausdruck an solche Vorstellungen bezeichnen kann, die nach Wegfall der Hemmung kraft des eigenen Wiederaufstrebens (§ 25) sich ins Bewußtsein emporheben. Aber, gleich der neu erzeugten, wie sie ist, fällt sie sofort auch mit dieser in  einen  Akt des Vorstellens zusammen. Daher rührt die (§ 21 am Ende) bemerkte Schwierigkeit beide voneinander zu unterscheiden. Die besprochene Reproduktion nennt man  unmittelbare.  Ist nun eine unmittelbar reproduzierte Vorstellung mit einer anderen entgegengesetzten oder disparaten verbunden, so kann auch diese mittels jener wieder zum Bewußtsein gelangen. Da nämlich verbundene Vorstellungen vereinigte oder Gesamttätigkeiten sind, so muß die unmittelbar reproduzierte auch die mit ihr verbundene in das Bewußtsein zu heben suchen. So bekommt das Streben der letzteren eine Unterstützung oder  Hilfe  und ist diese nur groß genug, so wird die dadurch unterstützte Vorstellung etwa vorhandene, ihr besonders entgegenstehende Vorstellungen zum Weichen bringen und selbst wieder zur Klarheit gebracht werden. Dann ist sie eine durch fremde Kraft  gehobene  Vorstellung. Die Größe einer solchen Hilfe richtet sich hauptsächlich nach der Stärke der hilfeleistenden Vorstellung und nach der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Verbindung. Ist die unmittelbar reproduzierte Vorstellung mit der anderen vollkommen oder ganz verbunden, so hilft sie auch mit ihrer ganzen Kraft; im anderen Fall ist ihre Hilfe umso kleiner, je kleiner der Rest ist, der von ihr mit der anderen verbunden ist. Je größer aber eine Hilfe ist, umso  schneller  kann sie ein Werk vollführen. Dies ist die zweite Weise, das dem Vergessenen Entgegenstehene zum Weichen zu bringen; die hiernah eintretende Reproduktion heißt die  mittelbare.  Auf ihr beruth die mittelbare Erinnerung, in der freilich gewöhnlich Mehreres nacheinander bewußt wird. Mit Rücksicht auf diesen Umstand muß man annehmen, daß die erste mittelbar reproduzierte Vorstellung mit einer zweiten verbunden ist, die zweite mit einer dritten, die dritte mit einer vierten usw. Kurz es sind  Reihen  von Vorstellungen anzunehmen, wie sie nach Reihen von Wahrnehmungen sich zu erzeugen nicht umhin können. Alsdann wird die Reproduktion, wenn sie irgendwo in der Reihe unmittelbar begonnen hat, zu den folgenden Gliedern fortlaufen. Um den wirklichen Erinnerungen Erwachsener in der Erklärung noch näher zu kommen, hat man anstatt der einfachen Vorstellungen, wie bisher geschehen, schon zusammengesetzt anzunehmen, und auf sie das Gesagte anzuwenden. Die Vorstellung eines Zeitverlaufs, die sich hierbei einstellt, kann erst später (§ 32) ihre Erklärung finden.


§ 27.
Ergänzung und Auslegung der
Sinneswahrnehmung durch Reproduktion.

Wie das Kind mit den ihm zugänglichen Gegenständen erst längere Zeit spielt, und sie dann, wenn es kann, zerstört, so betrachtet auch der Erwachsene dasjenige, was ihm neu ist, verweilend, und unterwirft es verschiedenen Versuchen. So gelangen wir einesteils zur Kenntnis der verschiedenen Merkmale eines Dings, anderenteils gewinnen die den einzelnen Merkmalen entsprechenden Vorstellungen erst während einer längeren Beschäftigung damit eine beträchtliche Stärke und verbinden sich infolge ihrer größeren Klarheit desto fest und inniger untereinander. Wo eine Reihe sich drängender Gegenstände und Ereignisse dargeboten ist, da ergibt die nur einmal und flüchtig gestattete Wahrnehmung, die nicht alle Merkmale der Dinge erfassen kann, von den Gliedern der Reihe nur unvollständige und schwache Vorstellungen, wie das durch die Unvollständigkeit und Schwäche der später etwa erfolgenden Reproduktion belegt wird. In diesem Fall können wiederholte Wahrnehmungen das Lückenhafte vervollständigen und das Schwache verstärken. Ist nun etwas auf die eine oder andere Weise allseitig und gehörig aufgefaßt und verbunden, so wird, nachdem es eine Zeitlang aus dem Bewußtsein gänzlich verdrängt war, bei einer wiederholten, flüchtigen und unvollständigen Wahrnahme desselben die Reproduktion sehr wirksam, indem die neu erzeugte Vorstellung durch die entsprechende reproduzierte von innen her bedeutend verstärkt und vervollständigt, und it ihr vereinigt wird. Es genügt uns z. B. ein bekanntes Ding nur oberflächlich zu  sehen,  um es sofort auch nach seinen anderen Merkmalen vorzustellen. Oder wir  hören  im Zimmer ein gewöhnliches Geräusch, das von der Straße hereinschallt; sogleich steigt das Bild eines sichtbaren Gegenstandes in uns auf samt dem seiner Umgebung, worin er das Geräusch verursacht. Das Reproduzierte dient somit zur Erklärung des Wahrgenommenen. Im Erwachsenen bleibt keine isoliert gegebene Sinnesempfindung ohne eine derartige Erklärung oder Auslegung. Denn sie reproduziert die schon vorhandene gleiche Vorstellung unmittelbar und die mit ihr verbundene mittelbar, und in diese reproduzierte Gruppe oder Reihe versetzt, wird die Empfindung auf Dinge und ihre Veränderungen bezogen. Da sich so etwas für jede Sinnesempfindung ereignet, so schreibt man es häufig der Sinnesfunktion selbst zu, deren unmittelbar Wirkung jedoch lediglich die isolierte Empfindung selbst ist.


§ 28.
Sinnestäuschung. Sinnenvikariat.

Durch die im vorigen Paragraphen besprochene Reproduktion werden nicht selten auch irrtümliche Auslegungen veranlaßt. Sehen wir z. B. von fern einen Fremden, dessen Gesicht wir noch nicht genau wahrnehmen können, der aber eine beinahe gleiche Statur und Haltung hat wie ein Bekannter, und eine Kleidung trägt ungefähr wie dieser, so glauben wir gar oft wirklichk den Bekannten wahrzunehmen; unseres Irrtums innewerdend sagen wir, das  Auge  habe uns  getäuscht.  Nämlich durch eine wiederholte Wahrnehmung wird, genauer betrachtet, nicht nur die ganz gleiche ältere Vorstellung und die damit verbundenen reproduziert, sondern auch solche, die nur teilweise gleich, nur mehr oder weniger ähnlich sind, nebst ihren assoziierten. Denn dem Ähnlichen als einem teilweise Gleichen stehen ebendieselben Vorstellungen hemmend entgegen, die durch die Wahrnehmung unwirksam gemacht werde. Werden nun die mittelbar reproduzierten Vorstellungen, die nur zu dem teilweise Gleichen gehören, auf die gegenwärtige Wahrnehmung als Auslegung bezogen, so entsteht eine sogenannte  Sinnestäuschung,  die in Wahrheit nur auf einer fälschlich angewandten Reproduktion beruth. Nur ein krankes Sinnesorgan könnte veränderte Wahrnehmungen bieten. Wird aber die Wahrnehmung nachher verschärft und vervollständigt, dann dient sie zur Prüfung, und wo es nötig zur Verbesserung, d. h. zu einer teilweisen Zurückdrängung und Hemmung des Reproduzierten. Im obigen Beispiel sind die Vorstellungen, die sich auf die ähnliche Statur, Haltung und Kleidung des Bekannten beziehen, das unmittelbar Reproduzierte, alles übrige sein Bild Vervollständigende ist nur mittelbar reproduziert. Aber gerade dadurch, daß dieses Letztere auf die gegenwärtige Wahrnehmung bezogen wird, erfolgt die Täuschung, die so lange bleibt, bis wir näher kommend das fremde Gesicht usw. wahrnehmen, wodurch das Reproduzierte teilweise gehemmt wird.

Während für die Sehenden die Gesichtswahrnehmungen in Bezug auf die Außenwelt eine hervorragende Wichtigkeit haben, und die übrigen Merkmale der Dinge an sich angeknüpft erscheinen, treten beim Blinden die Tast- und Gehörswahrnehmungen mehr in den Vordergrund. Der Mangel des ein oder anderen Sinnes veranlaßt nicht nur feinere Unterscheidungen der durch die übrigen gegebenen Wahrnehmungen, sondern auch eine beziehungsweise größere Stärke und innigere Verbindung der gewonnenen Empfindungsvorstellungen. Dadurch kommt es zu einer Art Übertragung des Mangelnden, die  Sinnenvikariat  genannt wird, aber vom eigentlichen Ersatz weit entfernt bleibt.


§ 29.
Tatsachen in Bezug auf die Wahrnehmungen und
Vorstellungen des Räumlichen, Zeitlichen und Gezählten.

Um die Dinge als  räumliche,  außer uns vorhandene, und die Begebenheiten als  zeitliche  aufzufassen, bedarf es nicht der Vorstellungen des leeren Raumes und der leeren Zeit oder der Begriffe von Raum und Zeit; vielmehr erzeugen sich diese tatsächlich viel später, als die Wahrnehmungen und Vorstellungen des Räumlichen und Zeitlichen, und sind überhaupt nur das Eigentum von Erwachsenen, die in irgendeinem Grad wissenschaftlich gebildet sind. Was wirklich als Räumliches oder Zeitliches wahrgenommen und vorgestellt wird, das ist, wie die innere Erfahrung lehrt, immer nur ein Endliches, in gewisse Grenzen Eingeschlossenes, innerhalb deren sich die in jedem Augenblick gegebene bestimmte Menge von Wahrnehmungen und Vorstellungen ausbreitet. Und auch so noch zeigt die Auffassung des Räumlichen und Zeitlichen sehr verschiedene Grade der Ausbildung je nach der erreichten Stufe geistiger Entwicklung. Das Körperliche mit der dritten Dimension kann als solches nicht von Anfang an wahrgenommen sein; denn das Gesehene und Bestastete, welches räumlich ausgebreitet erscheint, bildet immer nur Flächen. Selbst in der Ebene werden Größen und Entfernungen erst nach einiger Übung mit steigender Genauigkeit erfaßt, und das Verhalten der Kinder in ihrer ersten Lebenszeit bietet nicht den mindesten Grund zu der Annahme, als sei ihnen eine besondere Anlage für die Wahrnehmungen des Räumlichen und Zeitlichen angeboren. Blindgeborene kommen durch den Tastsinn im Ganzen zu derselben Kenntnis des Räumlichen, wie Vollsinnige, nur langsamer und unbequemer. Glücklich operiert sehen sie das Farbige durchaus nicht sofort nach drei Dimensionen geordnet, sondern ohne Sonderung, Gestaltung und Entfernung scheint es ihnen wie ein Chaos auf den Augen zu liegen, und nur allmählich nimmt es eine räumliche Ordnung an, die erst nach Monaten vollendet wird, nicht ohne mannigfache Versuche, Mißgriffe und Übungen. Was das Zeitliche anlangt, so bleiben Viele auf die rohesten Unterscheidungen des Vorher und Nachher, des Schneller und Langsamer beschränkt, während Andere kurze und lange Zeitabschnitte und ihren bunten Wechsel in Rhythmus und Takt scharf erfassen.

Mit dem Schätzen und Messen der Raumgrößen, sowie dem Zusammenfassen gesonderter Gegenstände und Ereignisse stellt sich das  Zählen  ein. Bei uns werden die Kinder von Eltern und Lehrern dazu angeleitet; dennoch machen sie darin oft nur zu langsame Fortschritte; manche Wilde kommen in ihrem ganzen Leben nicht über die Zusammenzählung sehr weniger Glieder hinaus. Auch hier ist es nur das Gezählte, was sich Jedermann vorstellt; die Zahl aber und die Zahlenreihe sind nur Gegenstände wissenschaftlicher Abstraktion und Betrachtung.
LITERATUR - Gustav Schilling, Lehrbuch der Psychologie, Leipzig 1851