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HELMUT GIPPER
Der Beitrag einer inhaltlich
orientierten Sprachwissenschaft


"Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung sagt und statt Boden Landbesitz, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Worten ihre faule Mystik."- BERTOLT BRECHT

In dem berühmten fiktiven Brief des Lord Chandos an FRANCIS BACON verleiht HUGO von HOFMANNSTHAL der Verzweiflung eines Dichters über die Unzulänglichkeit seiner Sprache mit folgenden Worten erschütternden Ausdruck:
"Mein Fall, ist in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sic doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte Geist,  Seele  oder  Körper  nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen.

Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze... Mein Geist zwang mich, alle Dinge ... in einer umheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich,

So ging es mir mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt ..." (1)
Schon sieben Jahre vor diesem Bekenntnis (1895) finden sich bei HOFMANNSTHAL in anderem Zusammenhang die folgenschweren Sätze:
"(Denn) für gewöhnlich stehen nicht die Worte in der Gewalt des Menschen, sondern die Menschen in der Gewalt der Worte ... Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit." (2)
Ähnliches hat auch GOTTFRIED BENN empfunden. Auch er leidet unter der Abnutzung der Sprache durch den ständigen Sprachgebrauch. Nur zwei ‘verbale Transzendenzen’ scheinen ihm noch möglich:
"die mathematischen Lehrsätze und das Wort als Kunst. Alles andere ist Bierbestellung". Das Geschwätz des Alltags ist  ontologische Leere.  Doch kann der Dichter aus der belastenden Tradition auch Nutzen ziehen: Das Wort ist durch seine Geschichte auch vielfältig  sinn- und stimmungsgeschwängert, seltsam geladen, real und magisch,  ein moderner Totem(3).

"Worte, Worte - Substantive! - Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug. Nehmen Sie Anemonenwald, also zwischen Stämmen feines, kleines Kraut, ja über sie hinaus Narzissenwiesen, aller Kelche Rauch und Qualm, im Ölbaum blüht der Wind und über Marmorstufen steigt, verschlungen in eine Weite die Erfüllung - oder nehmen Sie die Olive oder Theogonien - Jahrtausende entfallen ihrem Flug. Botanisches und Geographisches, Völker und Länder, alle die historisch und systematisch so verlorenen Welten hier ihre Blüte, hier ihr Traum - aller Leichtsinn, alle Wehmut, alle Hoffnungslosigkeit des Geistes werden fühlbar aus den Schichten eines Querschnitts von Begriff."(4)
Wesensverwandt, wenn auch ganz anders motiviert, ist die radikale Sprachskepsis BERT BRECHTs: dem politisch engagierten Dichter erscheint die von den herrschenden Klassen geprägte Sprache als Mittel zur Ausbeutung der Arbeiterklasse:
"Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung sagt und statt Boden Landbesitz, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Worten ihre faule Mystik."(5)
Den drei genannten Spracherlebnissen moderner Dichter ist bei aller Verschiedenheit der künstlerischen Herkunft und Zielsetzung gemeinsam, daß die überkommene Sprache als wirklichkeitsverstellend und wahrheitsverhüllend empfunden wird. Diese entschiedene Sprachskepsis ist kennzeichnend für die Bewußtseinsstufe unserer Spätkultur. In ihr offenbart sich eine ebenso einschneidende Wandlung des Verhältnisses von Mensch und Sprache. Die Sprache erscheint hier nicht mehr, wie es in noch jungen Kulturen selbstverständlich zu sein pflegt, als adäquater Ausdruck einer objektiv gegebenen Wirklichkeit, sondern vielmehr als abgenutztes Werkzeug, das nicht mehr zur Erfassung der gewandelten Gegenwart taugt.

Uns geht es hier nicht um die Frage, die sich dem Dichter aufdrängen muß: Wie läßt sich mit der alten Sprache, die in aller Munde ist, Neues und Individuelles sagen? - Uns sollen auch nicht die möglichen Antworten beschäftigen: resignierendes Verstummen, Erneuerung durch Verfremdung oder metaphysische Aufladung durch ungewohnten Einsatz des Alten in neuer Umgebung. - Vielmehr dient uns das Lord-Chandos-Erlebnis der Dichter dazu, um eine Dimension der Sprache sichtbar zu machen, die für unser Thema entscheidend wichtig ist: eine Dimension, die sowohl bei den derzeit vorherrschenden strukturalistischen Methoden der modernen Sprachwissenschaft übersehen zu werden pflegt als auch bei den philosophischen Formen der analytischen Sprachkritik.

Gemeint ist die geschichtlich gewachsene geistig-inhaltliche Seite der natürlichen Sprachen und deren transzendental-hermeneutischer Aspekt; das heißt zugleich: alle mit dem Prozeß der Spracherlernung vorgegebenen Voraussetzungen der Möglichkeit menschlichen Denkens. Was allerdings im tragischen Erlebnis der Dichter so eindrucksvoll zutage tritt, wird ins Positive zu wenden sein, um es für unser Thema fruchtbar zu machen.

Zwei HUMBOLDT-Zitate sollen an die zentralen Begriffe heranführen, welche die sprachlichen Bedingungen menschlichen In-der-Welt-Seins vor Augen führen können:  sprachliche Weltansicht  und  sprachliche Zwischenwelt. 

"Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schonerkannte Welt darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. Die Summe des Erkennbaren liegt, als das von dem menschlichen Geiste zu bearbeitende Feld, zwischen allen Sprachen, und unabhängig von ihnen, in der Mitte; der Mensch kann sich diesem rein objectiven Gebiet nicht anders, als nach seiner Erkennungs- und Empfindungsweise, also auf einem subjectiven Wege, nähern." (6)

"Wenn in der Seele wahrhaft das Gefühl erwacht, dass die Sprache nicht bloss ein Austauschmittel zu gegenseitigem Verständnis, sondern eine wahre Welt ist, welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innre Arbeit seiner Kraft setzen muß, so ist sie auf dem wahren Wege, immer mehr in ihr zu finden und in sie zu legen." (7)
Es geht um die folgenschwere Einsicht, daß die natürlichen Sprachen keineswegs nur Mittel der Verständigung und der Mitteilung sind, wie meist gesagt wird, sondern  Weltansichten,  d. h. daß sie vielschichtige kategorial gegliederte geistige Systeme darstellen, mit denen die einzelnen Sprachgemeinschaften die erfahrene und erlebte Wirklichkeit erfassen und schöpferisch gestalten. Die Sprachen sind also nicht bloße  catalogi mundi,  keine Reservoire von Namenetiketten, die einer außersprachlichen Welt der Sachen und Fakten angeheftet würden, sondern spracheigentümliche Begriffs- und Beziehungsnetze, in denen bestimmte Menschengruppen das ihnen bedeutsam Scheinende aus der Anonymität ins Bewußtsein heben, indem sie es sagbar und damit greifbar machen.

Außersprachliche Ordnungen werden dabei dem Erkenntnisvermögen der Gruppe anverwandelt und zugleich werden schöpferisch geistige Gliederungen entwickelt, die kein greifbares außermenschliches Korrelat besitzen. Diese Schicht der Sprachinhalte schiebt sich gleichsam zwischen den Sprecher und das, worüber er spricht, wobei das  Zwischen  als bestimmte Form der Vermittlung zu verstehen ist. Dieser Tatbestand muß in seiner ganzen elementaren Bedeutsamkeit für die menschliche Existenz erkannt werden:

Hier liegen alle Voraussetzungen bewußten Denkens, Fühlens und Handelns. Hier geht es um eine primäre Welterschließung, die jedem individuellen Denkbeginn vorausliegt. Die geschichtliche Welterfahrung einer Menschengruppe ist hier gleichsam  in Sprache geronnen  (K.0. APEL). Man darf von einem  transzendentalen Sinn-Apriori des Weltverstehens,  von einer  Synthesis a priori  von Welt in den Denkformen der natürlichen Sprachen’ sprechen (K.0. APEL) (8).

Soziologisch und anthropologisch stehen wir vor einem entscheidenden Faktum: der Bedingung der Möglichkeit jeglichen Weltverstehens, jedes Weltentwurfs, jeder schöpferischen Denkleistung.

Infolgedessen ist dieser Tatbestand auch von höchster philosophischer Relevanz, liegt hier doch die unumgängliche Ausgangsbasis allen philosophischen Denkens.

Was aber ist in den Einzelsprachen an gedanklicher Leistung vorgegeben?

1. Eine völlige kategorial geprägte Durchgliederung der gesamten Gegenstands- und Erscheinungswelt. Der Wortschatz jeder Sprache ist zu sehen als ein weites Netz artikulierter Begriffsfelder, in denen alles, was als bemerkenswert gilt, eingefangen ist. Die Ausgliederung nach  Wortarten  gibt dabei an, als was ein Gegenstand aufzufassen ist.

Substantive z.B. erheben recht heterogene Erscheinungen zu Gegenständen, denen wirkliches oder gedankliches Eigendasein zuerkannt werden darf.

Dabei kommt es zu sprachspezifischen Umwandlungen, zu Personifizierungen, Hypostasierungen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] usw., die unsere Sehweisen mitbestimmen: von  Tisch  und  Stuhl  über  Wind  und  Sturm  bis zu  Gott  und  Geist.  Besondere Wortbildungsmöglichkeiten zeigen an, was und wie etwas in den Begriff erhoben werden kann.

Mit der kategorialen Ausprägung sind zugleich bestimmte Möglichkeiten der Prädikation vorgegeben: Der zum Gegenstand hypostasierte Wind kann etwas tun, kann Träger (Subjekt) einer Handlung werden, z. B. blasen oder wehen. Der personifizierte Wirbelsturm kann den Vornamen Betty erhalten. Der zur Person erhobene Gott wird Träger von Kräften und Handlungen, ihm können Eigenschaften zugeschrieben werden, und er vermag in ein Du-Ver-hältnis zum gläubigen Menschen zu treten.

2. Was als ein  Wer,  als ein  Was,  als  Wie  und  Wo  begriffen werden kann, wird von der Sprachordnung vorgegeben. Logische Begriffsverhältnisse wie Gattung und Art (genus proximum und differentia specifica) stecken vor jeder logischen Analyse im gedanklichen Aufbau des Wortschatzes der Sprachen.

3. Nicht nur das  Was,  sondern auch das  Wann  und das  Warum,  das  Wenn-dann,  das  Woher  und  Wozu  wird in den Untersystemen der Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen vorentworfen. Kategorien wie Raum und Zeit sind in jeder Sprache auf eigentümliche, nicht vorhersagbare Weise ins System verwoben: in Gestalt von Orts- und Zeitadverbien, substantivierten Zeitbegriffen und -intervallen, Präpositionalgefügen, bestimmten Tempussystemen, Aspekten und Aktionsarten kann Räumliches und Zeitliches im morphologischen und syntaktischen Gefüge einer Sprache impliziert sein.

4. Art und Möglichkeit von Aussage und Urteil, von Frage und Antwort, von Wunsch und Befehl, von Modalität, von über- und Unterordnung, von Verknüpfung und Trennung sind in den Satzbauplänen (Satzmodellen, pattern) der Sprachen vorgegeben.

Hier liegen dichte Netze gedanklicher Beziehungen vor, in denen logische Merkmale wie Identität und Diversität, Grund und Folge, Widerspruch usw. mit eingeflochten sind: und zwar nicht in systematisch strenger Ordnung, sondern in historisch bedingter Streuung und Schichthaftigkeit (9).

Mit der Spracherlernung wird dieses vielschichtige Gefüge mit all seinen menschlichen Sehweisen und Wertungen im Individuum aufgebaut und bestimmt hinfort den Verstehenshorizont, lange bevor eigenverantwortliches Denken und Handeln einsetzen kann.

Wird dies in seiner ganzen Tragweite gesehen, dann erscheint es nicht mehr zu kühn, tatsächlich von einem anthropologischen Apriori mit historischer Bedingtheit zu sprechen.

In diesem historischen  Prozeß des Wortens der Welt  (LEO WEISGERBER), des Umschaffens von Erfahrenem, Erdachtem und Erwünschtem in das  Eigentum des Geistes  (WILHELM von HUMBOLDT) geht es um das Mündigmachen der sprachlosen Welt, um das Erheben der anonymen Fülle der Dinge und Erscheinungen in den Begriff und ins Bewußtsein. Im Lauf einer langen Geschichte haben einzelne Sprachgemeinschaften auf diese Weise das, was ihnen Gefühl und Neigung, Verstand, Wille und Vorstellungskraft eingab, in die Sprachstrukturen aufgenommen und dabei Irrtum und Weisheit gleichermaßen bewahrt.

Wie in den Sprachen allmählich die einzelnen Weltbezirke und Lebensbereiche erobert worden sind, das läßt sich in historisch ausgerichteten Einzeluntersuchungen bestimmter Ausschnitte des Wortschatzes aufzeigen. So ist etwa die sprachlich-gedankliche Eroberung des menschlichen Körpers abzulesen an den überlieferten Denkmälern der antiken und neueren Anatomie, deren Entwicklung sich in einer steten Verfeinerung der Begriffsnetze und in einer wachsenden terminologischen Anpassung an die erkennbaren Zusammenhänge ausdrückt.

Aufschlußreich ist hier ein Vergleich etwa der ägyptischen Terminologie der Medizin mit Traktaten des Mittelalters und der Neuzeit bis zu den in Basel, Jena und Paris erarbeiteten anatomischen Nomenklaturen. Eindrucksvoll läßt sich die sprachliche Leistung auch am Beispiel der sprachlichen Erschließung des Reiches der Zahlen, der Pflanzen- und Tierwelt bis hin zu den feinmaschigen Fachterminologien der heutigen Mathematik, Botanik und Zoologie sichtbar machen.

Für den Philosophen von besonderem Interesse ist das Werden der Verstandesbegriffe und ihrer jeweils geltenden Ordnungen sowie Entstehung und Wandlung der Wertskalen auf ästhetischem und ethischem Gebiet. Hervorzuheben ist nun, daß in diesem schöpferischen Wandlungsprozeß der Sprachen vorgegebene Kategorien und Distinktionen beim Reflexionsprozeß ins Bewußtsein umspringen können und dabei zu neuen Impulsen für das philosophische und wissenschaftliche Denken werden. Es kommt auf diese Weise zu einem Herausfiltern von in der Sprachstruktur eingelagerten Merkmalen und Eigenschaften, die anschließend in schöpferischer Weiterentwicklung der Systematisierung zugeführt werden. Das grammatische Beziehungsnetz unserer indoeuropäischen Sprachen darf in dieser Sicht als ein Skelett logischer Beziehungen aufgefaßt werden, das durch Reflexion abgehoben und zum Aufbau logischer Systeme verwandt werden kann.

Hierbei gewinnt, wie verschiedene Beobachter richtig bemerkt haben, z.B. der indoeuropäische Satztypus von Subjekt und Prädikat bzw. Agens und Actio oder Thema und Rhema eine zentrale Bedeutung. Das Verbum ‘sein’ schafft als Mittel der Existenzaussage und der Prädikation in den sogenannten Kopulasätzen zusätzlich bestimmte Voraussetzungen für das logische und ontologische Denken. Hier ist die zweiwertige Aristotelische Logik verankert: sie darf, recht verstanden, als aus Vorgegebenheiten der griechischen Sprache herausgefiltert gelten.

Ähnliches gilt etwa für die scholastische Philosophie, die unbeschadet möglicher Einflüsse aus dem Arabischen ihre letzten Wurzeln im Kategoriennetz der lateinischen Sprache hat. Selbst in der nominalistischen Ablösung des als Namen verstandenen Wortes vom angeblich intuitiv erfaßten Gegenstand erweist sich dieses Denken noch der Sprache verpflichtet. Ebenso bleibt DESCARTES von bestimmten Möglichkeiten der französischen, KANT von solchen der deutschen Sprache, insonderheit auf dem Gebiete der Begriffsbildung und der Aussageformen, mitbestimmt.

Wichtige Oppositionen wie  Körper und Geist, Verstand und Vernunft, Denken und Fühlen, Wissen, Wollen, Erkennen  usw. sind bereits in der Sprache vorgebildet, bevor sie in philosophische Systeme eingehen. Dies kann und darf indessen nicht in dem Sinne verstanden werden, als solle das Denken zum Sklaven der Sprache gemacht werden. Vielmehr ist ein Weiterdenken von sprachlichen Prämissen aus, möglicherweise auch im Kampf gegen die angetroffene und als mangelhaft empfundene sprachliche Ordnung, nicht nur möglich, sondern sogar nötig: der Fortschritt der Wissenschaft darf geradezu als ein ständiger Ausbau der Terminologien, nicht selten gegen überkommene Sprachsichten und Wertungen interpretiert werden. Althergebrachte Wendungen wie  Die Sonne geht auf, Das Gras ist grün  usw. erfahren so eine angemessenere Deutung, ohne deshalb ihren Wert für die alltägliche Sehweise des Menschen zu verlieren.

Reflexion auf einzelne Sprachmittel
Hier mag eine alltägliche Beobachtung als Beispiel dienen: Ein Kind ruft: "Vati, sieh mal, die Dampfwalze!" Der Vater schaut hin, aber von Dampf ist weit und breit keine Spur: das eindrucksvolle Fahrzeug fährt mit einem Dieselmotor.

Hier hat sich die Sache gewandelt, aber die alte Bezeichnung ist geblieben: die Diskrepanz zwischen Wort und Sache bleibt normalerweise unbemerkt. Die Analyse deutscher Komposita macht auf viele Eigentümlichkeiten dieser Art aufmerksam.

Vor allem ist häufig eine Diskrepanz festzustellen zwischen dem Sinn der Bildungselemente, die zur Zeit der Schaffung der Zusammensetzung dem Gegenstand angemessen gewesen sein mögen, und der heutigen Gesamtgeltung, die auf den gewandelten heutigen Gegenstand zielt (Aschenbecher, Eierbecher, Bleistift, Tintenfaß, Bahnhof; Chauffeur: eigentlich Heizer eines Feuerkessels). Spracheigentümliche Beurteilungen von Tieren und Pflanzen zeigen Bezeichnungen wie Marienkäfer (positive Wirkung), Ohrwurm (negative Wirkung). Volksetymologische Anschlüsse verdienen hier ihrer Häufigkeit wegen ebenfalls Erwähnung: Maulwurf und Maultier haben beide nichts mit Maul zu tun, woran die meisten Sprecher diese Wörter aber anschließen.

Schon an diesen wenigen Beispielen wird deutlich, wieviel Sprachgeschichte in unserem heutigen Wortschatz aufbewahrt bzw. im HEGELschen Sinne  aufgehoben  ist. Bei näherer Prüfung zeigt sich das gesamte Wortgut unserer Sprache von Sinnelementen durchsetzt, die z.T. den Inhalt erläutern und präzisieren, z.T. aber auch nicht mehr zur heutigen Geltung des Gesamtausdrucks passen wollen.

Ähnliches zeigt sich auch bei komplexeren sprachlichen Fügungen: In Wendungen wie  mit Kind und Kegel,  wobei niemand mehr an die alte Bezeichnung des unehelichen Kindes  kegel  denkt, oder  unter aller Kanone,  wobei kaum jemand die alte Zeugnisbewertung  sub omne canone  "unter jeder Regel/Norm" vor Augen hat, verstehen wir tradierten Sinn, obwohl die ursprünglichen Zusammenhänge in Vergessenheit geraten sind. Nur der ununterbrochene situationsbezogene Sprachgebrauch hat diese erstaunliche Verstehenskonstanz bei gleichzeitigem Invergessenheitgeraten des Ursprungssinnes ermöglicht.

Die Tatsache, daß wir oft verstehen, ohne uns darüber Rechenschaft ablegen zu können, weshalb, wird auch durch die Betrachtung der für philosophisches Denken wichtigen abstrakten Begriffe bestätigt: Ausdrücke wie  Absicht, Ansicht, Aussicht, Einsicht, Hinsicht, Übersicht  sind dem anschaulichen Ursprungsbereich des Visuellen ferngerückt.  Auffassung, Behauptung, Darstellung, Vorstellung, Wahrnehmung  tragen ebenso verblaßte anschauliche Elemente in sich wie  Verstand  und  Vernunft,  ja wie der Begriff des Begriffes selbst.

JEAN PAULs Ausspruch, jede Sprache sei "in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern", enthält also eine durchaus richtige Einsicht. Allerdings muß auch hier wieder vor einer naheliegenden Gefahr gewarnt werden, nämlich davor, die historischen Elemente überzubewerten oder gar zum Beurteilungsmaßstab sprachlicher Erscheinungen zu machen.

Tut man dies dennoch, dann wird das Urteil über den inhaltlichen Aufbau einer Sprache angesichts der zahlreichen, wörtlich verstanden fehlleitenden Sinnelemente allzu leicht negativ ausfallen. Die Ausdrücke können dann tatsachlich "systematically misleading" werden, während sie im normalen Sprachgebrauch wie auch GILBERT RYLE zugibt, durchaus ihren Zweck erfüllen.

Entscheidend ist, und dies muß betont werden, der geltende Sinn. Auch an dieser für unser Thema wichtigen Stelle können inhaltliche Gesichtspunkte wichtig werden: Die Sprachinhaltsforschung hat mit der sogenannten Feldbetrachtung J. TRIERs und LEO WEISGERBERs eine Methode bereitgestellt, um die tatsächliche Geltung sprachlicher Gliederungen in synchroner Zusammenschau zu erfassen.

Der Kerngedanke, der schon bei WILHELM von HUMBOLDT, dann aber besonders bei FERDINAND de SAUSSURE vorliegt, ist folgender: Jede Sprache ist ein gegliedertes Ganzes. Kein Sprachmittel steht isoliert, sondern jedes ist eingefügt in ein Feld benachbarter Inhalte, die seine Geltung mitbestimmen. So hat jeder Begriff Eigenwert und Stellenwert. Zunächst überraschend muß nun die Beobachtung wirken, daß oft der Stellenwert für die tatsächliche Geltung entscheidend ist, ja, daß dieser den Eigenwert völlig neutralisieren kann.

Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür liefern unsere Monatsbezeichnungen September, Oktober, November, Dezember. Jeder, der etwas Latein gelernt hat, sieht leicht, daß in ihnen die lateinischen Zahlwörter für sieben, acht, neun und zehn stecken. Sie bezeichnen aber den neunten, zehnten, elften und zwölften Monat des Jahres, d.h. sie sind, wörtlich verstanden, eindeutig falsch, werden aber trotzdem als  richtig  im heutigen System empfunden.
LITERATUR - Helmut Gipper, Der Beitrag der inhaltlich orientierten Sprachwissenschaft in Hans-Georg Gadamer (Hrsg), Das Problem Sprache, Achter Deutscher Kongress für Philosophie, München 1967
    Anmerkungen
  1. Vgl. Hugo v. Hofmannsthal, Ein Brief. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa 11. Frankfurt a. M. 1951, Seiten 12f., 14
  2. Vgl. Hugo v. Hofmannsthal, Eine Monographie. "Friedrich Mittenwurzer", von Eugen Guglia ("Die Zeit", 1895), Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa 1, hrsg. von H. Steiner, Frankfurt a. M. 1950, S. 267. Vgl. hierzu auch den vorzüglichen Aufsatz von Hans-Joachim Mähl: Die Mystik der Worte - Zum Sprachproblem in der modernen deutschen Dichtung. Wirkendes Wort 13, 1963, Seiten 289-303
  3. Gottfried Benn, Essays, Reden, Vorträge. Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. von D. Wellershoff. Wiesbaden 1959-1961, Bd. 1, S. 389f.; Bd. 4, 1961, S. 156; vgl. Ruth Römer, Benns Auffassung von der Sprache. Muttersprache 72, 1962, Seiten 107-112
  4. Gottfried Benn, Gesammelte Werke, Bd. 1, 1959, S. 513
  5. Bert Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit (1934). Versuche 20/21. Berlin 1952, S. 94
  6. Vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium ... Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königl. Preuß. Akad. der Wiss. Berlin 1903-1936, Bd. IV, 23
  7. Vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ... Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königl. Preuß. Akad. der Wiss. Berlin 1903-1936, Bd. VII, Seite 177
  8. Vgl. Karl Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico. Bonn 1963 (Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 8), Seite 39ff
  9. Vgl. Hans Glinz, Die Begründung der abendländischen Grammatik durch die Griechen und ihr Verhältnis zur modernen Sprachwissenschaft. Wirkendes Wort 7, 1956/57, Seiten 129-135