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HELMUT ARNTZEN
Sprachdenken und Sprachkritik
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"Der journalistische Sprachgebrauch als völlig instrumentalisierte Sprache..."

Saussure

Daß wenige Jahrzehnte später FERDINAND de SAUSSUREs Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, die überdies ein rekonstruiertes Werk sind, ein solche Initialwirkung auf die moderne Linguistik bekamen, ist zwar aus der Erwartung nach praktikablen Modellen verständlich, nicht aber aus einer sprach- als erkenntnistheoretischen Bemühung.

Hier begegnet eine eher schlichte Dichotomie (Zweiteilung), die sich zum Beispiel in der Bemerkung zeigt: "Der amerikanische Linguist" (nämlich WHITHEY) "scheint uns recht zu haben: die Sprache ist eine Übereinkunft, und die Natur des Zeichens, bezüglich dessen man übereingekommen ist, ist indifferent".

SAUSSURE kommt damit ohne weiteres auf Ansichten zurück, deren erste etwa HERDERschon an CONDILLAC als evidente Aporie gerügt hatte: Wie sollte es vorsprachliche Übereinkünfte über Sprache geben? Und wie unbefriedigend in jeder Hinsicht ist die Auffassung vom arbiträren Zeichen, die in einer völlig veränderten geschichtlichen Situation die Position des vorkantischen Rationalismus wiederholt. Aber diese Ansichten sind die Voraussetzung für die Trennung der Sprache in "langue" und "parole" und des Verständnisses der "langue" als eines Zeichensystems, jenseits dessen das "Bezeichnete" als für den Linguisten Irrelevantes bleibt (soweit es anderes als ein Relationsbegriff ist). Damit ist ein Reduktionismus hinsichtlich eines fundamentalen Problems eingeführt, der die Sprachwissenschaft als Linguist sowohl verengt als auch jeder Wissenschaftstendenz adaptierbar macht.

Selbst ein so konventikelhaftes (geheimniskrämerisches) Denken wie das des Anthroposophen RUDOLF STEINER begreift da mehr von der Fundamentalität des Sprachproblems. Er weist in seinen Vorträgen, in denen er übrigens FRITZ MAUTHNER, HUGO von HOFMANNSTHAL, FRIEDRICH MAX MÜLLER und auch KARL KRAUS nennt, wieder auf die Sprache als Organismus hin, was zwar nicht das ganze Problem erfaßt, aber - in Rückbindung an HUMBOLDT - bessere Voraussetzungen für das Verständnis des Sprachproblems schafft als die instrumentelle Interpretation.

Denn die Sprache als Zeichensystem zu beschreiben und sie instrumentell zu verstehen, vermag den Sprachskeptizismus nicht aufzuheben, sondern vertagt die aus ihm resultierenden Folgen nur, indem das Semantische der Sprache auf sich beruhen bleibt bzw. nur als Strukturmoment berücksichtigt wird. Die Dissoziation von Form und Inhalt der Sprache läuft auf ein Ideal der "Wohlgeformtheit" von nichts hinaus.


Sprachskepsis und Journalismus

Der Sprachskeptizismus dagegen ist in der Tat eine authentische Gestalt des Sprachproblems als des fundamentalen Erkenntnis- und Wirklichkeitsproblems der Neuzeit. Der Anspruch des Sprachskeptizismus, prinzipielle skeptizistische Aussagen über die Sprache zu machen, ist andererseits nicht aufrechtzuerhalten, da er unauflösbare Aporien einschließt. Es muß daher die historische Qualität des Sprachskeptizismus, wie er an der Jahrhundertwende manifest wird, erfragt werden.

Deutlich wird schnell, daß er als eine Reaktion auf den Positivismus und dessen Dichotomie von Faktum und Beschreibung zu sehen ist. Das Faktum als bloßes Faktum ist niemals durch sprachliche Zeichen bestimmbar. Aber gerade diese positivistische Annahme wird zu einer der beiden Grundvoraussetzungen der sich im 19. Jahrhundert endgültig herausbildenden Tagespresse als des ersten großen neuzeitlichen Nachrichtenmediums.

Gleichzeitig begreift sich die Zeitung als Meinungsmedium, das heißt als Urteilsdarstellung der Subjektivität. Gerade aber in der Zeitung wird täglich die Problematik von Nachricht und Meinung als Konkretisierung des Sprachproblems sichtbar. Wie die Annahme von vorsprachlichen Tatsachen fragwürdig ist, so ist es die Annahme einer Unmittelbarkeit des Urteils, einer ganz persönlichen Meinung, unabhängig von der Sprache als Konvention.

Daß die Presse von Idealen der objektiven Nachricht und der subjektiven Meinung ausgeht, macht sie von vornherein blind gegenüber dem Sprachproblem, über das sie ständig gewissermaßen hinwegspricht. Indem sie die Sprache aber für die Zwecke von Nachricht und Meinung zu instrumentalisieren sucht, entsteht das Sprechen, das den Sprachkritikern der Jahrhundertwende vor allem anderen als konkrete und herrschende Sprache vor Augen und im Ohr ist und auf das sie sich beziehen, wenn sie von der Sprache handeln.

HUGO von HOFMANNSTHAL kaschiert das zwar in seiner Fiktion eines englischen Briefschreibers aus dem frühen 17. Jahrhundert. Doch Lord Chandos nennt genau die Hauptthemenbereiche der Zeitungsnachrichten am Ende des 19. Jahrhunderts, an denen ihm die Unmöglichkeit weiter zu sprechen, der Zerfall der Worte erfahrbar wird:
"Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen."
MAUTHNER ist viel direkter. Er, der seine Spracherfahrung jenseits der Alltagssprache zu einem großen Teil als Journalist gemacht hat, behandelt das journalistische Sprechen am Ende des Kapitels über die "Wortkunst", die ihm als der einzige sinnvolle Sprachgebrauch erscheint. Ihr konfrontiert er Rhetorik, als deren gegenwärtige Verwirklichung er den Journalismus sieht. Zwar akzeptiert er, der noch an den Positivismus der Tatsachen glaubt, "den ehrenhaften Nachrichtendienst". Aber alles, was darüber hinausgeht, qualifiziert er als "Worthandel" und "gedrucktes Geschwätz", das schlimmer sei als das "gesprochene Geschwätz der dummen Leute". Das journalistische Sprechen ist ihm ein "Schwatzvergnügen", also kommunikatives Geräusch. Darin aber als dem Gegenteil des zu fordernden Schweigens zeigt sich für MAUTHNER am stärksten die Nichtigkeit der Sprache.

Es hat viel Wahrscheinlichkeit, daß die Verbreitung der Sprachskepsis um die Jahrhundertwende nicht nur auf eine erkenntnisgeschichtliche Konsequenz deutet, sondern auch und in besonderer Weise die vielfach unbewußte Reaktion auf die Erfahrung des Journalismus als des herrschenden öffentlichen Sprachgebrauchs ist.

Das wird wiederum bei HOFMANNSTHAL deutlich, der diese Reaktion zunächst - im Brief - in einer historisierenden Fiktion austrägt und später, nach seiner sozialen Wendung, zwar zu einer aktuellen Reaktion kommt, aber nun - seiner ganzen Tendenz entsprechend - das Problematische als Lösung behauptet.

In dem wichtigen Vortrag Der Dichter und diese Zeit sieht er wie MAUTHNER einen Zusammenhang von "Wortkunst" (als Dichtung) und Journalismus. Aber anders als für MAUTHNER besteht für HOFMANNSTHAL dieser Zusammenhang nicht als Opposition, sondern so, daß dem zeitgenössischen Leser der Journalist zur zeitgenössischen Inkarnation des Dichters wird.

Auch auf den "elendsten Zeilenschreiber" falle "etwas vom Glanz der Dichterschaft" (...), einfach dadurch, daß er sich (...) des wundervollsten Instrumentes bedient: einer lebendigen Sprache". Sprache wird also hier apostrophiert als journalistischer Sprachgebrauch, und in einem kühnen Zirkel wird dieser Sprachgebrauch wieder durch die Sprache gerechtfertigt, die nun - in völligem Gegensatz zum Brief - als ein höchster Wert gesetzt wird, der allerdings bezeichnenderweise nun als "Instrument" erscheint.

In HOFMANNSTHALs Verfahren kulminiert die Verdrängung, die das Sprachdenken der Zeit, soweit es Sprachskeptizismus ist, kennzeichnet. Man redet skeptisch von der Sprache und verdrängt, daß es sich in Wahrheit um die Ontologisierung eines historischen Problems: nämlich des journalistischen Sprachgebrauchs handelt. Diese Verdrängung hat mehrere Gründe; der wichtigste aber ist wahrscheinlich in der Weigerung zu sehen, die Dominanz dieses Sprachgebrauchs und damit gleichzeitig anzuerkennen, daß ein bloßes Medium an die Stelle der universellen Vorstellungen früherer Epochen getreten ist: Mythos, theologisch fundierte Religion, Philosophie, Wissenschaft.


Kraus

Einzig KARL KRAUS geht vom Bewußtsein dieser Universalität des Journalismus aus und gelangt allein aus der Reflexion dieses Sprachgebrauchs und des ihm entgegengesetzten der Dichtung zu seiner Vorstellung von Sprache.

Dieser Ansatz, obwohl so konkret wie erkenntnisgeschichtlich gerechtfertigt, macht aber bis heute das Mißverständnis möglich, Kraus sei ein normorientierter Sprachpfleger, dessen Normen überdies sprachwissenschaftlich ganz unzulänglich seien.

Wenn KRAUS sagt, daß die Presse nicht der "Bote", sondern das "Ereignis" sei - 50 Jahre vor McLUHAN und genauer als dieser, der vom Medium nur als der "Botschaft" spricht -, dann hebt das nicht nur auf den Zusammenhang von Sprache und Faktum, sondern auch auf den von Sprache und Sprachgebrauch (Sprechen) ab und schließlich darauf, daß dieser Zusammenhang ein völlig neu zu bestimmender in dem Augenblick wird, da der öffentliche Sprachgebrauch durchweg medial ist.

Sprache als Vermittlung schlechthin, das heißt als die Weise, in der sich für Menschen Wirklichkeit konstituiert (was eben nur geschichtlich denkbar ist, indem Sprache als Sprachgebrauch, als Sprechen identifiziert wird) - Sprache als Vermittlung wird im 19. Jahrhundert zur Sprache als Medium, als Instrument aus Zeichen. In der wissenschaftlichen Phase ist das noch mit dem Anspruch verbunden, immerhin, wenn auch mit willkürlichen Zeichen, auf die Sache zu zeigen.

Diesen Anspruch zersetzt Sprachskepsis. Mit der Durchsetzung des Journalismus wird dieser Anspruch zwar nicht aufgegeben, vielmehr noch mit der Demutsformel verknüpft, die Presse übermittle ja nur die Sache. Doch gerade indem die Presse sich und damit ihr Sprechen im ganzen als bloßes Mittel vorstellt, das als Medium keine eigenen Objekte nennen könne, fällt die scheinhafte Dichotomie von Sprache und Sache, Zeichen und Bezeichnetem in sich zusammen.

Der journalistische Sprachgebrauch als völlig instrumentalisierte Sprache, die aber mangels einer eigenen Gegenständlichkeit nur an sich interessiert ist, produziert nun Faktum und Meinung so, wie es ihm entspricht: journalismusgemäß. Welt als Realität und Bewußtsein journalisieren sich. Davon spricht KARL KRAUS, indem er die Weltgeschichte als "Sprachgeschichte" und diese - seit dem Ende 19. Jahrhunderts - als Geschichte journalistischen Sprachgebrauchs begreift.

Wenn KRAUS sich immer nur um den einzelnen Satz kümmert, so nicht, weil er diese geschichtliche Veränderung beweist, sondern weil jeder Satz faktisch zu einer durch und durch instrumentalisierten Weltsicht beiträgt und, da sprachliche Sicht und Welt für uns untrennbar sind, eine durch und durch instrumentalisierte Welt mit hervorbringt. KRAUS nennt dieses instrumentalisierte und selbstzweckhafte Sprechen "Phrase". Und wenn er davon spricht, daß "die Phrase und die Sache" im Journalismus "eins" seien, dann heißt das explizit, daß die behauptete Differenz des Positivismus zwischen Zeichen und Bezeichnetem wieder eingezogen ist, nun aber zugunsten eines Sprachgebrauchs, für den Zeichen und Bezeichnetes gänzlich medial sind, insofern sie auf die Prinzipien des Journalismus hin reflektiert werden.

Tatsache ist nun nicht mehr eine behauptete Gegenständlichkeit, sondern der (methodische) Ursprung von Nachricht als Text. So ist für den Journalismus alles nur noch Nachricht und Meinung und wird es für den Rezipienten um so mehr, jemehr der journalistische Sprachgebrauch herrschend wird. Auch hier erscheint ein Sprachuniversalismus, ist alles Sprache, aber Sprache vermittelt nichts mehr, sie verwandelt alles - Geschehen, Denken, Fühlen - in Journalismus, macht es zur Phrase.

Diese journalistische Welt zerfällt in Phrase und in Gewalt als das Zersetzungsprodukt sprachlos gewordener Sache. Der Erste Weltkrieg ist für KRAUS der Beginn der totalen Herrschaft von Phrase und Gewalt, da Krieg nun als das ständige Nebeneinander von Totschlag (als der Intention von Gewalt) und automatisiertem Gerede (als der Intention von Phrase) erscheint.

Aber wie für KRAUS der journalistische Sprachgebrauch Sprache als Phrase und damit als Zerstörung humaner Welt, ja als Zerstörung selbst von deren Vorstellung ist, ist der Sprachgebrauch der Dichtung Sprache als Sinn und damit Aufbau humaner Welt als Aufbau ihrer Vorstellung. Dies nicht, weil Dichtung schöne oder erhabene Vorstellungen lieferte, vielmehr weil sie allein noch Sprache als Vermittlung begreift: Dichtung benutzt Sprache nicht, um anderer, sogenannter außersprachlicher, etwa gesellschaftlicher Zwecke willen, erst recht nicht um des journalistischen Zwecks willen, Welt medial zur Phrase zu machen; Dichtung denkt und fühlt in Sprache, sie stellt sprachlich die Welt als sprachliche dar, indem sie Figuren, Handlungen, Gedanken, Gefühle etc. als Sätze konstituiert, von denen jeder aber nicht ein syntaktisches Beispiel, sondern die Erscheinung von Sinn ist.

Die KRAUSsche Sprachauffassung ist die einzige, die - sicher auf der Grundlage des Sprachdenkens zwischen HAMANN und HUMBOLDT, aber ohne genaue Kenntnis dessen und in veränderter geschichtlicher Situation - die offenkundigen Aporien des Sprachskeptizismus und die versteckteren der neueren Linguistik überwindet, indem KRAUS das Sprachproblem als ein Problem des geschichtlichen Augenblicks begreift und Sprachkritik daher als Kritik an bestimmten Sprachgebräuchen versteht.

Deren Kriterien gewinnt er durch den ständigen ex- und impliziten Vergleich von Presse und Dichtung. In diesem Vergleich bildet sich allmählich das Sprachverständnis heraus, das hier nur sehr abstrakt skizziert wurde. Phrase der Presse und Gedanke der Dichtung sind bei KRAUS nicht das Vorauszusetzende, das dann exemplifiziert wird, sie machen die Dialektik der Sprache als menschlicher Geschichte aus und damit die konkrete Verknüpfung von Katastrophe und Rettung.

LITERATUR - H. Arntzen in Horst Albert Glaser (Hrsg.), Deutsche Literatur - eine Sozialgeschichte, Bd. 8, Reinbek 1982
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