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GEORG BRANDES
Friedrich Nietzsche
- eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus -
[4/4]

"Ob Nietzsche reaktionär ist? Was tut es! Joseph de Maistre war noch viel reaktionärer und ist doch ein wertvoller Mensch. Ob er zynisch ist? Was schadet es? Zynismus kann sehr wohltuend sein, und wir wollen Nietzsche ja nicht nachplappern. Daß er ein Dilettant der exakten Wissenschaften ist? Sehr möglich. Es gibt aber Dilettanten, die mehr Ideen bei uns in Bewegung setzt als die gründlichsten Fachmänner. Daß er weit mehr Künstler als Denker ist! Wir leugnen es nicht, können aber den Künstler nicht vom Denker trennen und haben unseren Spaß an beiden, nicht am wenigsten, wenn der Künstler grübelt und der Denker träumt. Wir sind ja nicht Kinder, die Belehrung, sondern Skeptiker, die Menschen suchen, und uns freuen, wenn wir einen Menschen gefunden haben - das Seltenste, was es gibt."

"Es scheint mir mehr am Mut, am Stärkegrad seines Mutes gelegen, was ein Mensch bereits für  wahr hält oder doch nicht. Ich habe nur selten den Mut zu dem, was ich eigentlich weiß."


Nachschrift
(1893)

Seit der obenstehende Aufsatz geschrieben wurde, ist in NIETZSCHEs persönlichem Schicksal leider keine günstige Wendung eingetreten, in seinem Schicksal als Schriftsteller hat sich indessen eine vollständige Umwandlung vollführt. Aus dem fast unbekannten, selten genannten Denker ist in wenigen Jahren der Modephilosoph des Tages geworden. Von Deutschland aus ist sein Ruhm in alle Länder verbreitet. Selbst in dem gegen fremde, zumal deutsche, Einflüsse so spröden Frankreich wird er dargestellt, widerlegt, verspottet, gepriesen. In Deutschland und außerhalb Deutschlands hat er eine Art von Schule gebildet; man beruft sich auf ihn und kompromittiert ihn nicht selten dabei recht stark, wenn auch unfreiwillig; von gegnerischer Seite bekämpft man gleichzeitig leidenschaftlich seine Ideen und seinen Einfluß, bald ernsthaft, in würdiger, wenn auch etwas zu pädagogischer Weise, bald mit gemeinen Waffen und der falschen Überlegenheit gesinnungstüchtiger Mittelmäßigkeit.

Unter den mir vor Augen gekommenen Aufsätzen über NIETZSCHE sind die Mitteilungen von Frau LOU ANDREAS-SALOMÉ in der "Freien Bühne", der polemische Aufsatz LUDWIG STEINs in der "Deutschen Rundschau" und die Vorreden PETER GASTs zu den neuen Ausgaben der Werke NIETZSCHEs mit als die lehrreichsten erschienen. Frau ANDREAS hat NIETZSCHE im Jahr 1882 persönlich nahe gestanden und hat eine Reihe neuer Aufklärungen über die Entwicklungsstufen seines Gedankenlebens in den entscheidenden Jahren gegeben; Professor STEIN hat mit in der Regel musterhafter Haltung ohne Gehässigkeit auf die vermeintlichen Gefahren aufmerksam machen wollen, welche die Lebensanschauung NIETZSCHEs für die Jugend und die kommenden Geschlechter mit sich führt. Herr PETER GAST spricht wie der Schüler, der dem Meister am nächsten gestanden, ihn am besten kennt und am meisten bewundert.

Die Resultate der von LOU von SALOMÈ mitgeteilten Aufklärung lassen sich wie folgt zusammenfassen:

NIETZSCHE war, solange er noch in der Entwicklung begriffen war, als Mensch, als Temperament durch und durch eine Künstlernatur. Zu erkennen hieß für ihn, sich erschüttern zu lassen. Von einer Wahrheit sich zu überzeugen hieß für ihn, von einem Erlebnis überwältigt zu werden. Sein Bedürfnis, sich geistig zu verwandeln, war durch sein Bedürfnis, gemütlich erregt und bewegt zu werden - sein Gedankenleben überhaupt durch sein Gemütsleben ganz und gar bedingt.

Was ihn fesseln und dauernd festhalten sollte, durfte sich nicht erklären oder vollständig erraten lassen. War er über eine Sache oder eine Persönlichkeit völlig im Klaren, so war das Interesse an dem Gegenstand für ihn damit erschöpft. Deshalb hat in seinem geistigen Leben zuletzt die Mystik den Sieg davongetragen.

Er entwickelt sich durch einen plötzlichen Gesinnungswechsel, und der entscheidende Schritt ist für ihn immer die Losreißung vom Alten, nicht die Erfassung der neuen Wahrheit. Denn die Losreißung ist eine Selbstüberwindung mit allen Qualen einer solchen, die ihn ganz in Beschlag nimmt, dagegen empfängt er anfangs mit einer gewissen Unselbständigkeit, weiblich passiv, den Gedankenkreis, der den früheren ablöst.

Auf seiner ersten Stufe ist er Metaphysiker, ein Schüler SCHOPENHAUERs, ein Lehrjunge WAGNERs. 1876 erscheint "Richard Wagner in Bayreuth", eine Schrift, in welcher diese Geistesrichtung ihren Höhepunkt erreicht.

Schon im folgenden Jahr tritt NIETZSCHE mit "Menschliches-Allzumenschliches" in einer neuen Phase als Positivist und Gegner aller SCHOPENHAUER-WAGNERischen Metaphysik auf. Er hatte in PAUL RÈE einen ausgesprochenen Positivisten persönlich kennengelernt. Eine fast unbekannt gebliebene kleine Schrift dieses Denkers "Psychologische Betrachtungen" (im Stil LAROCHEFOUCAULDs) hatte einen starken Eindruck auf ihn gemacht und ihm vermutlich zuerst die Vorliebe für die aphoristische Form eingeflößt. Ein reiner, selbstloser Charakter, ein klarer, etwas trockener Kopf machte RÈE eine scharfte, nicht überbrückbare Trennung zwischen dem Empfindungsleben und der Gedankenwelt des Denkers. Er hielt das Logische vom Psychologischen ganz rein und fern. Er war der reine Theoretiker, für den die Wahrheit der Lehre alles, ihre Anwendbarkeit im Leben gar nichts bedeutete, ein Mensch ohne eigentliche schriftstellerische Begabung, ohne Ursprünglichkeit wie ohne Eitelkeit, ein ganz unkünstlerisches, rein logisches Naturell, ein Gegenpol NIETZSCHEs.

Eben wie dieser im Begriff stand, sich von der metaphysischen Richtung seiner Jugend loszureissen, gab ihm die Bekanntschaft mit RÈE, den er erst überschätzte und idealisierte (um sich später gegen ihn zu wenden) ein neues Idealbild des erkennenden Menschen, das er über sein früheres Idealbild des künstlerischen und sittlichen Genies stellen konnte. Und nun folgt eine kleine Reihe von Schriften, in denen die Geringschätzung aller Urteile und Schätzungen, die dem Gefühls- und Triebleben entstammen, zu Wort kommt. Die Überlegenheit des Denkes über den Menschen, des Verstandesartigen über das Instinktive wird mit der Leidenschaft des Neubekehrten behauptet. Der Hochmut desjenigen, der sich als Ausnahme vom Allgemeinen gebärdet, wird gelästert, das Recht der hochmütigen Selbstisolierung bestritten. NIETZSCHE hebt nicht wie früher (und später) den Rangunterschied zwischen den Menschen hervor, stellt sie im Gegenteil alle auf  eine und zwar eine recht niedrige Stufe. Die Erkenntnis der Wahrheit ist jetzt ihm wie RÈE das einzige Ziel. Lieber möge die Menschheit zugrunde, als die Erkenntnis zurückgehen!

Jeder dieser Grundsätze war für NIETZSCHE eine Selbstüberwindung, eine Kriegserklärung gegen früher (und später) gehegte Lieblingsansichten.

Angelegt wie er war, seine Wünsche und Herzenstriebe in seiner Gedankenwelt zu befriedigen, immer als ganzer Mensch zu fühlen und zu denken, und mit ungestümer Selbstliebe sich selbst in die Ideale seiner Spekulation hineinzulegen, brachte er durch seinen Übergang zum Positivismus, durch die Verherrlichung der Wahrheit auf Kosten der lebenserhaltenden Instinkte, überhaupt durch die herabsetzende Behandlung des Instinktiven ein Opfer, das er nicht lange zu bringen vermochte, legte sich einen Zwang auf, gegen welchen die Reaktion in seinem Innern schnell und gewaltsam folgen mußte. Um sich geistig ganz auszuleben, mußte NIETZSCHE über alle Erfahrungswissenschaft und alles strenge Denken fort in die Welt seiner Ahnungen und Träume hineinfliehen. Zwei Bücher, "Die Morgenröte" und "Die fröhliche Wissenschaft" bezeichnen den Standpunkt, wo er noch nicht mit der Erfahrungswissenschaft gebrochen, die allgemein wissenschaftliche Denkweise nur selbständig und persönlich ausgeformt hat.

Das innige Verhältnis zu PAUL RÈE und die darauf folgende Entfremdung von seiner Denkart, das der früheren Jüngerschaft RICHARD WAGNER gegenüber und der Losreißung von ihm wie eine schwache Parallele entspricht, hat sich auf weit stillere Weise, den Augen der Öffentlichkeit viel ferner abgespielt. Der Zauber war lange nicht so mächtig gewesen, deshalb war der Bruch nicht so aufregend und schmerzhaft.

Auf seiner dritten und letzten Stufe fühlte NIETZSCHE nach jener kurzen kritischen Periode wieder das Bedürfnis, sich zur Erkenntnis der letzten und höchsten Dinge zu erheben. Er war bisher in Sachen der Erkenntnistheorie zu einer abschließenden Ansicht gekommen, jetzt strebte er in seiner Weise über KANT hinauszukommen, indem er die Frage mit der gewaltsamen Behauptung durchzuhauen versuchte, daß die tiefsten Probleme nicht durch den Verstand allein, nur mit Hilfe des Trieb- und Gemütslebens, durch religiöse und künstlerische Intuition, gelöst werden konnten.

Er leugnete noch immer die metaphysischen Wahrheiten als für uns nicht existierend, definierte indessen die wahre Philosophie als ein Mittel, Ersatz für dieselben zu schaffen, eine Welt zu gestalten, vor der wir knien können. Er suchte jetzt alles Intellektuelle auf ursprüngliche Instinkt-Eindrücke zurückzuführen. Das Intellektuelle wurde ihm nur die Zeichensprache der Instinkte, das Denken ein gewisses Verhalten der Triebe zueinander. Er versuchte, die in seinem eigenen Wesen vorkommende Abhängigkeit des Gedankenlebens vom Gemütsleben zu verallgemeinern, einen theoretischen Ausdruck dafür zu finden. In der "Götzendämmerung" ist NIETZSCHE so weit gekommen, daß erst mit ihm "die wahre Welt" erschaffen wird: Ein mächtigerer Lebenswille vermag zu jeder Zeit das vom früheren schwächeren Lebenswillen erschaffene Weltbild umzuformen; wenn man sich einen Philosophen denkt, bei dem der Kraft-Extrakt des Daseins Philosophie geworden ist, so wird in seinem Weltbild das Leben gerechtfertigt und erklärt sein; wenn die Denker stattdessen meistens übel vom Dasein gesprochen und Askese gepredigt haben, so bezeichnet dies nur, daß die lebenserhaltenden Instinkte in ihnen durch einen kränklichen Zustand erschlafft waren.

Der Wille des selbstgewissen Individuums ist nicht SCHOPENHAUERs metaphysischer Wille, denn geworden ist er; er ist aber mystischer Art, denn er bildet mystisch die Naturbedingungen um, denen er entsprang. Er kann nicht aus der Zeit und den Umgebungen abgeleitet werden, er entstammt nur der Persönlichkeit selbst und ist insofern frei.

In der positivistischen Periode NIETZSCHEs war ihm der vornehmste Mensch derjenige, der an der Spitze der Zeit stand; jetzt wurde ihm der moderne Mensch der unvornehme im Vergleich mit den Geistern, in denen von alter Zeit her Gesammeltes und Aufgespartes als lebendige Willensmacht hervorbricht. Ein Genie, in dem alles wirksam wäre, was jemals im menschlichen Bewußtsein gelebt und gewirkt hat, der also die Vorzeit überschauen und zusammenzufassen vermöchte, würde auch den Weg, das Ziel, die Zukunft der Menschheit zu offenbaren vermögen.

NIETZSCHE kam zuletzt so weit, daß er diesen Übermenschen als in sich mystisch eingeschlossen betrachtete. Als menschliche bedingte Persönlichkeit betrachtete NIETZSCHE sich zwar als kranken Mann; seinem ewigen Wesen nach sah er sich jedoch als  Zarathustra, als Genius der Menschheit, als das Medium, durch welches das in den Zeiten Ewige sich seiner Bedeutung bewußt wurde.

Während Frau ANDREAS sich besonders bemüht hat, die Entwicklungsstadien NIETZSCHEs auseinanderzusetzen, hat LUDWIG STEIN sich besonders bestrebt, gegen ihn zu warnen. Ob er für seine Befürchtung, daß sich allmählich eine recht unerträgliche Nietzsche-Schule bilden wird, gute Gründe hat, vermag der Deutsche nicht zu entscheiden; ich gestehe, daß es mich auch sehr wenig interessiert. Es gibt Männer, deren erster Gedanke, wenn sie etwas lesen, der ist: Ist dies nun richtig oder nicht richtig? Es gibt andere, denen dieser Gedanke erst in zweiter Linie kommt, und die sich vor allem fragen: Ist der Mann, der dies geschrieben hat, interessant, bedeutend, wert zu kennen, oder nicht? Wenn er es ist, so ist die Richtigkeit seiner Ansichten, wenn auch wichtig, doch immerhin sekundär. Reifere Leser werden ja überhaupt nicht NIETZSCHE mit dem Hintergedanken studieren, seine Ansichten annehmen, noch weniger mit dem, für sie Propaganda machen zu wollen; es ist ihnen sogar verhältnismäßig unwichtig, ob eine größere oder geringere Zahl seiner Sätze als widerlegbar zu betrachten sind. Sie fühlen die Befriedigung, eine ureigene, mächtige Persönlichkeit getroffen zu haben. Ob NIETZSCHE reaktionär ist? Was tut es! JOSEPH de MAISTRE war noch viel reaktionärer und ist doch ein wertvoller Mensch (wenn auch lange nicht so wertvoll). Ob er zynisch ist? Was schadet es? Zynismus kann sehr wohltuend sein, und wir wollen NIETZSCHE ja nicht nachplappern. Daß er ein Dilettant der exakten Wissenschaften ist? Sehr möglich. Es gibt aber Dilettanten, die mehr Ideen bei uns in Bewegung setzt als die gründlichsten Fachmänner. Daß er weit mehr Künstler als Denker ist! Wir leugnen es nicht, können aber den Künstler nicht vom Denker trennen und haben unseren Spaß an beiden, nicht am wenigsten, wenn der Künstler grübelt und der Denker träumt. Wir sind ja nicht Kinder, die Belehrung, sondern Skeptiker, die Menschen suchen, und uns freuen, wenn wir einen Menschen gefunden haben - das Seltenste, was es gibt.

Es erschreckt uns nicht, wenn LUDWIG STEIN den von NIETZSCHE bewunderten HENRY BEYLE [= Stendhal - wp] "den wegen seiner zügellosen Frivolität berüchtigten Zyniker Stendhal" nennt. Wir geben zwanzig artige und tugendhafte Schriftsteller für den einen BEYLE. Und wenn STEIN uns nochmals versichert, daß STENDHAL "für den raffiniertesten Genußmenschen und frivolsten Zyniker seiner Zeit gegolten hat", so ahnt dieser Verfasser augenscheinlich nicht, wie wenig solche Leser, wie sie NIETZSCHE sich wünschte, sich um das kümmern, wofür einer bei der Lesewelt oder dem Lesepöbel  gilt. Die Männer und Frauen, die BEYLE und NIETZSCHE verehren, sehen diese Schriftsteller nicht von einem Familienvater- oder Tanten-Standpunkt an.

Herr PETER GAST hebt den Grundwillen NIETZSCHEs zu unausgesetztem Wachstum, zur Höherentwicklung und Machtausbreitung hervor. Er zeigt wie die äußeren Verhältnisse (sein Amt, seine Philologie) und die inneren (seine Heroldstellung zu SCHOPENHAUER und WAGNER) sein Wachstum hemmten. Die Natur bereitete den Weg zu seiner Selbstbefreiung, indem er krank und immer kränker wurde. Die Erkrankung und nur in zweiter Linie die Bekanntschaft mit RÉE führte die Ernüchterung herbei, die seine zweite Periode kennzeichnet.

Mit Stärke hebt GAST gewisse bleibende Eigentümlichkeiten bei NIETZSCHE hervor, die ihn zu jeder Zeit von RÈE trennen mußten. Seine Grundansicht ging immer auf die Verteidigung der wertvollen Menschen gegen die Massen. RÈE, der nicht das Gefühl hatte, Ausnahme zu sein, interessierte sich in der Moral nur für die Regel. NIETZSCHE hat nie die Voraussetzung des Utilitarismus angenommen, daß, was dem niederen Menschen nützt, auch dem höheren nützen muß, oder daß gut, nützlich für alle gleich  gut sein soll. Er hat immer an eine natürliche Rangordnung der Menschen geglaubt und die Moral ist ihm die Lehre von dieser Rangordnung.

Es dürfte zweifelhaft sein, ob NIETZSCHE die Folge seiner Morallehre ziehen würde, welche sein Schüler zieht:
    "Die herrlichste, straffste, männlichste Einrichtung unserer plebejisch und merkantilisch effeminierten [verweiblichten - wp] Zeit ist das Militär. Da gilt der Mann vor allem nach seinem biologischen Wert."
NIETZSCHE hat, glaube ich, seine Lobpreisung des männlichen Genius geistiger verstanden haben wollen.

Aber unzweifelhaft hat GAST Recht, wenn er einen Satz wie den des Amerikaners JOHN WILLIAM DRAPER "Große Menschen könne ja dürfte es nicht mehr geben" als einen Gegenstand der ganzen Abscheu und Verachtung NIETZSCHEs hervorhebt, und wenn er umgekehrt in einigen Worten GOETHEs über HERDERs "Ideen" NIETZSCHEs Grundansicht vorweggenommen sieht. Sie lauten: "Siegt diese Art Humanität, dann, fürchte ich, wird endlich die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter". NIETZSCHE hat in der immer gepredigten Lehre des Altruismus die Gefahr der Abwärtsentwicklung gesehen. Eine Zeit, wo es als größte Tugend gilt, sich zu verlieren und zwar an Niedrigere, Leidende sich zu verlieren, muß den Menschen schwächen und herabsetzen. Eine Zeit, wo das Mitleid immer verherrlicht wird, obwohl am Leiden selbst durch Mitleid nur in den gröbsten Fällen etwas zu ändern ist, wird durch die Forderung, daß die Gesunden mit den Kranken leiden sollen, alle Lebenskraft und Lebensfreude untergraben, indem sie nur die Summe des Leidens tausendfach vermehrt. NIETZSCHE warnt deshalb seines Gleichen gegen das Mitleid. Eben weil der Zarathustra-Mensch dem Mitleid am zugänglichsten ist, muß er es sich verbieten.

Sehr scharf und klar hat GAST den - stark exaltierten - Eindruck, den Nietzsche vom Zeitalter empfing, in den Worten wiedergegeben: Alle streben nach dem Glück der Faulen und Unwürdigen - statt nach höchster Kraftanspannung und Selbstbezwingung.

Zum Schluß sei es mir erlaubt, bei meinem ganz persönlichen Verhältnis zu NIETZSCHE einen Augenblick zu verweilen:

Unsere Beziehungen fingen damit an, daß er mir sein Buch "Jenseits von Gut und Böse" sandte. Ich las es, erhielt einen wenn auch starken, doch nicht einfachen oder bestimmten Eindruck und reagierte auf die Sendung nicht, zum Teil schon deshalb, zum Teil weil ich täglich zu viele Bücher erhalte um mich bedanken zu können. Da aber im folgenden Jahr die "Genealogie der Moral" mir vom Verfasser zugeschickt wurde und dieses Buch nicht nur an und für sich viel klarer war, sondern auch das vorhergehende für mich in eine neue Beleuchtung rückte, dankte ich dem Autor mit einigen Zeilen, infolge deren sich ein Briefwechsel entspann, der durch die Krankheit NIETZSCHEs dreizehn Monate später unterbrochen wurde.

Die Briefe, die er mir in seinem letzten gesunden Lebensjahr schrieb, scheinen mir von zu großem Interesse für seine Biographie, um die die Hauptstellen darin seinem so stark gewachsenen Leserkreis vorzuenthalten.

1. Nizza, den 2. Dezember 1887
Verehrter Herr, ein paar Leser, die man bei sich selbst in Ehren hält und sonst keine Leser - so gehört es in der Tat zu meinen Wünschen. Was den letzten Teil meines Wunsches angeht, so sehe ich freilich immer mehr, daß er unerfüllt bleibt. Umso glücklicher bin ich, daß zum  satis sunt pauci [es gibt wenige - wp] mir die  pauci nicht fehlen und nie gefehlt haben. Von den Lebenden unter ihnen nenne ich (um solche zu nennen, die Sie kennen werden) meinen ausgezeichneten Freund  Jakob Burckhardt, Hans von Bülow, M. Taine, den Schweizer Dichter  Keller; von den Toten den alten Hegelianer  Bruno Bauer und  Richard Wagner. Es macht mir eine aufrichtige Freude, daß ein solcher guter Europäer und Kulturmissionar, wie Sie es sind, fürderhin unter sie gehören will; ich danke Ihnen vom ganzen Herzen für diesen guten Willen.

Freilich werden Sie dabei Ihre Not haben. Ich selber zweifle nicht daran, daß meine Schriften irgendwo noch "sehr deutsch" sind: Sie werden das freilich viel stärker empfinden, verwöhnt, wie Sie sind, durch sich selbst, ich meine durch die freie und französisch-anmutige Art, mit der Sprache umzugehen (eine geselligere Art im Vergleich zu der meinen). Viele Worte haben sich bei mir mit anderen Salzen inkrustiert und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern: das kommt hinzu. In der Skal meiner Erlebnisse und Zustände ist das Übergewicht auf Seiten der selteneren, ferneren, dünneren Tonlagen gegen die normalen mittleren. Auch habe ich (als alter Musikant zu reden, der ich eigentlich bin) ein Ohr für Vierteltöne. Endlich - und das wohl am meisten macht meine Bücher dunkel - es gibt in mir ein Mißtrauen gegen Dialektik, selbst gegen Gründe. Es scheint mir mehr am Mut, am Stärkegrad seines Mutes gelegen, was ein Mensch bereits für "wahr" hält oder doch nicht ... Ich habe nur selten den Mut zu dem, was ich eigentlich weiß. [...]

Wie weit mich diese Denkweise schon in Gedanken geführt hat, wie weit sie mich noch führen wird - ich fürchte mich beinahe, mir dies vorzustellen. Aber es gibt Wege, die es nicht erlauben, daß man sie rückwärts geht, und so gehe ich vorwärts, weil ich vorwärts  muß.

Damit ich meinerseits nichts versäume, was Ihnen den Zugang zu meiner Höhle, will sagen Philosophie erleichtern könnte, so mein Leipziger Verleger Ihnen meine früheren Schriften  en bloc übersenden. [...]

Soeben gibt man ein Chorwerk mit Orchester von mir heraus, einen "Hymnus an das Leben". Derselbe ist bestimmt, von meiner Musik übrig zu bleiben und einmal "zu meinem Gedächtnis" gesungen zu werden; angenommen, daß sonst genug von mir übrig bleibt. Sie sehen, mit was für posthumen Gedanken ich lebe. Aber eine Philosophie, wie die meine, ist wie ein Grab - man lebt nicht mehr mit.  Bene vixit qui bene latuit [Glücklich lebte, wer sich gut verborgen hielt. - wp] - so steht auf dem Grabstein des  Descartes. Eine Grabschrift, kein Zweifel!

2. Nizza, den 8. Januar 1888
[...] Sie sollten sich gegen den Ausdruck "Kulturmissionar" nicht wehren. Womit kann man dies heute mehr sein, als wenn man seinen Unglauben an Kultur "missioniert"? Begriffen zu haben, daß unsere europäische Kultur ein ungeheures Problem und durchaus keine Lösung ist - ist dieser Grad von Selbstbesinnung, Selbstüberwindung nicht eben heute die Kultur selbst? [...]

Inzwischen mag es mir gestattet sein, Ihnen ein verwegenes Kuriosum mitzuteilen, über das kein Verleger zu verfügen hat, ein  ineditum von mir, das zum Persönlichsten gehört, was ich vermag. Es ist der vierte Teil meines  Zarathustra; sein eigentlicher Titel im Hinblick auf das, was vorangeht und was folgt, sollte sein:

Die Versuchung Zarathustras.
Ein Zwischenspiel.

Vielleicht beantworte ich so am besten Ihre Frage in Betreff meines Mitleids-Problems. Außerdem hat es überhaupt einen guten Sinn, gerade durch diese Geheimtür den Zugang zu "mir" zu nehmen: vorausgesetzt, daß man mit Ihren Augen und Ohren durch die Tür tritt. Ihre ... erinnerte mich wieder, wie alles, was ich von Ihnen kennenlernte ... auf das Angenehmste an Ihre Naturbestimmung, nämlich für alle Art psychologischer Optik. Wenn Sie die schwierigeren Rechenexempel der  âme moderne [moderne Seele - wp] nachrechnen, sind Sie damit ebensosehr in Ihrem Element wie ein deutscher Gelehrter damit aus seinem Element zu treten pflegt. Oder denken Sie vielleicht günstiger über die jetzigen Deutschen? Mir scheint es, daß Sie Jahr für Jahr  in rebus psychologicis [in psychologischer Hinsicht - wp] plumper und viereckiger werden (recht im Gegensatz zu den Parisern, wo alles Nuance und Mosaik wird), daß Ihnen alle tieferen Ereignisse entschlüpfen. Zum Beispiel mein "Jenseits von Gut und Böse" - welche Verlegenheit hat es Ihnen gemacht! Nicht ein intelligentes Wort habe ich darüber zu hören bekommen, geschweige denn ein intelligentes Gefühl. Daß es sich hier um die lange Logik einer ganz bestimmten philosophischen  Sensibilität handelt und nicht um ein Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien, ich glaube, davon ist auch meinen wohlwollendsten Lesern nichts aufgegangen. man hat nichts dergleichen "erlebt"; man kommt mir nicht mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegen. Ein "Immoralist!" Man denkt sich gar nichts dabei. [...]

Sie haben recht mit dem "Harangieren [verlangweilen - wp] des Erdbebens" (11), aber eine solche Don-Quichoterie gehört zum Ehrwürdigsten, was es auf dieser Erde gibt.

3. Nizza, den 19. Februar 1888
[...] Sie haben mich auf das Angenehmste mit Ihrem Beitrag zum Begriff "Modernität" verpflichtet; denn gerade diesen Winter ziehe ich in weiten Kreisen um diese Wertfrage ersten Ranges herum, sehr oberhalb, sehr vogelmäßig und mit dem besten Willen, so unmodern wie möglich auf das Moderne herunterzublicken. [...]

Ich habe mir für meine nächste Reise nach Deutschland vorgesetzt, mich mit dem psychologischen Problem  Kierkegaard zu beschäftigen, insgleichen die Bekanntschaft mit Ihrer älteren Literatur (12) zu erneuern. Dies wird für mich, im besten Sinn des Wortes, von Nutzen sein - und wird dazu dienen, mir meine eigene Härte und Anmaßung im Urteil "zu Gemüte zu führen". [...]

Machen Sie, verehrter Herr, eine gute Miene zum "bösen Spiel", ich meine zu dieser Nietzsche'schen Literatur.

Ich selber bilde mir ein, den "neuen Deutschen" die reichsten,  erlebtesten und unabhängigsten Bücher gegeben zu haben, die sie überhaupt besitzen! ebenfalls selber für meine Person ein kapitales Ereignis in der Krise der Werturteile zu sein. Aber das könnte ein Irrtum sein; und außerdem noch eine Dummheit - ich wünsche, über micht nichts glauben zu  müssen.

Ein paar Bemerkungen noch: sie beziehen sich auf meine Erstlinge (- die Juvenilia und Juvenalia):

Die Schrift gegen  Strauß, das böse Gelächter eines "sehr freien Geistes" über einen solchen, der sich dafür hielt, gab einen ungeheuren Skandal ab: ich war damals schon Prof. ordin., trotz meiner 24 Jahre somit eine Art von Autorität und etwas  Bewiesenes. Das Unbefangendste über diesen Vorgang, wo beinahe jede "Nobilität" Partei für oder gegen mich nahm und eine unsinnige Masse von Papier bedruckt worden ist, steht in  Karl Hildebrands "Zeiten, Völker und Menschen", Band 2. Daß ich das altersmüde Machwerk eines außerordentlichen Kritikers verspottete, war nicht das Ereignis, sondern daß ich den deutschen Geschmack bei einer kompromittierenden Geschmacklosigkeit  in flagranti ertappte: er hatte  Straußens "alten und neuen Glauben" einmütig, trotz aller religiös-theologischer Partei-Verschiedenheit, als ein Meisterstück von Freiheit und Feinheit des Geistes (auch des Stils!) bewundert. Meine Schrift war das erste Attentat auf die deutsche Bildung (- jene "Bildung", welche, wie man rühmte, über Frankreich den Sieg errungen hat -); das von mir formulierte Wort "Bildungsphilister" ist aus dem wütenden Hin und Her der Polemik in der Sprache zurückgeblieben.

Die beiden Schriften über  Schopenhauer und  Richard Wagner stellen, wie mir heute scheint, mehr Selbstbekenntnisse, vor allem Selbstgelöbnisse über mich dar als etwa eine wirkliche Psychologie jener mir ebenso tief verwandten wie antagonistischen Meister (- ich war der Erste, der aus beide eine Art Einheit destillierte; jetzt ist dieser Aberglaube sehr im Vordergrund der deutschen Kultur: alle Wagnerianer sind Anhänger  Schopenhauers. Dies war anders als ich jung war. Damals waren es die letzten Hegelinge, die zu  Wagner hielten, und "Wagner und Hegel" lautete die Parole noch in den fünfziger Jahren).

Zwischen den "Unzeitgemäßen Betrachtungen" und "Menschliches, Allzumenschliches" liegt eine Krise und Häutung. Auch leiblich: ich lebte Jahre lang in der nächsten Nachbarschaft des Todes. Dies war mein großes Glück: ich vergaß mich, ich überlebte mich ... das gleiche Kunststück habe ich noch einmal gemacht. -

So haben wir also nacheinander Geschenke überreicht: ich denke, ein paar Wanderer, die sich freuen, einander begegnet zu sein. [...]

4. Nizza, den 27. März 1888.
[...] ich wünschte sehr, Ihnen für einen so reichen und nachdenklichen Brief schon früher gedankt zu haben: aber es gab Schwierigkeiten mit meiner Gesundheit, so daß ich in allen guten Dingen arg verzögert bin. An meinen Augen, anbei gesagt, habe ich einen Dynamometer meines Gesamtbefindens: sie sind, nachdem es in der Hauptsache wieder vorwärts, aufwärts geht, dauerhafter geworden als ich sie je geglaubt habe, - sie haben die Prophezeiungen der allerbesten deutschen Augenärzte zu Schanden gemacht. Wenn die Herren  Gräfe et loc genus omne [und Konsorten - wp] Recht behalten hätten, so wäre ich schon lange blind. So bin ich - schlimm genug! - bei Brille Nr. 3 angelangt,  aber ich sehe noch. Ich spreche von dieser Misere, weil Sie die Teilnahme zeigten, mit danach zu fragen, und weil die Augen in den letzten Wochen besonders schwach und reizbar waren. -

Sie dauern mich in Ihrem diesmal besonders winterlichen und düsteren Norden; wie hält man da eigentlich seine Seele aufrecht? Ich bewundere beinahe jedermann, der unter einem bedeckten Himmel den Glauben an sich nicht verliert, gar nicht zu reden vom Glauben an die  Menschheit, an die  Ehe, an das  Eigentum, an den  Staat ... In Petersburg wäre ich Nihilist: hier glaube ich, wie eine Pflanze glaubt, an die Sonne. Die Sonne Nizzas - das ist wirklich kein Vorurteil. Wir haben sie gehabt, auf Unkosten vom ganzen Rest Europas. Gott läßt sie mit dem ihm eigenen Zynismus über uns Nichtstuer,  Philosophen und Grecs [Griechen - wp] schöner leuchten als über dem so viel würdigeren militärisch-heroischen  Vaterland. -

Zuletzt haben auch Sie mit dem Instinkt des Nordländers das stärkste Stimulans gewält, das es gibt, um das Leben im Norden auszuhalten, den Krieg, den aggressiven Affekt, den Wikinger-Streifzug. Ich errate aus Ihren Schriften den geübten Soldaten; und nicht nur die  Mittelmäßigkeit, noch mehr vielleicht die Art der selbständigeren und eigeneren Naturen des nordischen Geistes mag Sie beständig zum Kampf herausfordern. Wie viel  Pfarrer, wieviel Theologie ist all diesem Idealismus noch rückständig! ... Dies wäre für mich schlimmer noch als bedeckter Himmel, sich über Dinge entrüsten zu müssen,  die einen nichts angehen! [...]

So viel für diesmal. Ihre "deutsche Romantik" hat mich darüber nachdenken machen, wie diese ganze Bewegung eigentlich nur als Musik zum Ziel gekommen ist (Schumann, Mendelssohn, Weber, Wagner, Brahms); als Literatur blieb sie ein großes Versprechen. Die Franzosen waren glücklicher. - Ich fürchte, ich bin zu sehr Musiker, um nicht Romantiker zu sein. Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrtum. [...]

5. Turin, den 10. April 1888.
[...] Was die Abfassungszeiten der einzelnen Bücher betrifft, so stehen sie auf dem Titelrückblatt von "Jenseits von Gut und Böse". Vielleicht haben Sie das Blatt nicht mehr.

"Die Geburt der Tragödie" wurde zwischen Sommer 1870 und Winter 1871 abgefaßt (beendet in Lugano, wo ich zusammen mit der Familie des Feldmarschall  Moltke lebte).

Die "Unzeitgemäße Betrachtungen" zwischen 1882 und Sommer 1885 (es sollte 13 werden; die Gesundheit sagte glücklicherweise Nein!).

Was Sie über "Schopenhauer als Erzieher" sagen, macht mir große Freude. Diese kleine Schrift dient mir als Erkennungszeichen; wem sie nichts  Persönliches erzählt, der hat wahrscheinlich auch sonst nichts mit mir zu tun. Im Grunde steht das Schema darin, nach dem ich bisher gelebt habe; sie ist ein strenges  Versprechen.

"Menschliches, Allzumenschliches", samt seine zwei Fortsetzungen, Sommer 1876-1879. Die "Morgenröte" 1880. Die "Fröhliche Wissenschaft" Januar 1882. Zarathustra 1883-1885 (jeder Teil in ungefähr 10 Tagen. Vollkommener Zustand eines "Inspirierten". Alles unterwegs, auf starken Märschen, konzipiert: absolute Gewißheit, als ob jeder Satz einem zugerufen wäre. Gleichzeitig mit der Schrift größte körperliche Elastizität und Fülle - ).

"Jenseits von Gut und Böse", Sommer 1885 im Oberengadin und den folgenden Winter in Nizza.

Die "Genealogie" zwischen dem 10. und 30. Juli 1887 beschlossen, durchgeführt und druckfertig an die Leipziger Druckerei geschickt. (Natürlich gibt es auch  Philologica von mir. Das geht aber uns beide nichts mehr an.)

Ich mache eben einen Versuch mit Turin, ich will hier bis zum 5. Juni bleiben, um dann ins Engadin zu gehen. Winterlich hart, böse bis jetzt. Aber die Stadt superb ruhig und meine Instinkte schmeichelnd. Das schönste Pflaster der Welt. [...]

6. Turin, 4. Mai 1888
[...] Was Sie mir erzählen, macht mir großes Vergnügen und mehr noch, daß ich's gestehe - Überraschung. Seien sie überzeugt davon, daß ich's Ihnen "nachtrage"; Sie wissen, alle Einsiedler sind "nachträgerisch"? [...]

Inzwischen wird, wie ich hoffe, meine Photographie bei Ihnen angelangt sein. Es versteht sich von selbst, daß ich Schritte tat, nicht gerade um mich zu photographieren (denn ich bin gegen Zufallsphotographien äußerst mißtrauisch), sondern um jemanden, der eine Photographie von mir hat, dieselbe zu  entfremden. Vielleicht ist mir's gelungen; denn noch weiß ich es nicht. Im andern Fall will ich meine erste Reise nach München (wahrscheinlich diesen Herbst) benutzen, um mich wieder zu versinnbildlichen.

Der "Hymnus auf das Leben" wird dieser Tage seine Reise nach Kopenhagen antreten. Wir Philosophen sind für nichts dankbarer, als wenn man uns mit den Künstlern  verwechselt. Man versichert mir übrigens von Seiten der ersten Sachverständigen, daß der Hymnus durchaus aufführbar,  singbar und in Hinsicht auf Wirkung sicher sei (- "rein im Satz": dieses Lob hat mir am meisten Freude gemacht). Der vortreffliche Hofkapellmeister  Mottl von Karlsruhe (Sie wissen, der Dirigent der Bayreuther Festaufführungen) hat mir eine Aufführung in Aussicht gestellt. -

Aus Italien meldet man mir eben, daß die Gesichtspunkte meiner zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung" in einem Bericht über deutsche Geschichtsliteratur sehr zu Ehren gebracht sind, den ein Wiener Gelehrter Dr.  von Zackauer im Auftrag des Florenzer  Archivio storico gemacht hat. Der Bericht läuft in dieselben aus. -

Diese Wochen in Turin ... sind mir besser geraten als irgendwelche Wochen seit Jahren, vor allem philosophischen. Ich habe fast jeden Tag ein, zwei Stunden jene Energie erreicht, um meine Gesamtkonzeption von Oben nach Unten sehen zu können: wo die ungeheure Vielheit von Problemen, wie im Relief und klar in den Linien, unter mir ausgebreitet lag. Dazu gehört ein Maximum an Kraft, auf welches ich kaum mehr bei mir gehofft hatte. Es hängt alles zusammen, es war schon seit Jahren alles im rechten Gang, man baut seine Philosophie wie ein Biber, man ist notwendig und weiß es nicht: aber das alles muß man  sehn, wie ich's jetzt gesehen habe, um es zu glauben. -

Ich bin so erleichtert, so erstärkt, so guter Laune - ich hänge den ernstesten Dingen einen kleinen Schwanz von Posse an. Woran hängt das alles? Sind es nicht die guten  Nordwinde, denen ich das verdanke, diese Nordwinde, die nicht immer aus den Alpen kommen? - sie kommen mitunter auch aus Kopenhagen. [...]

7. Turin, den 23. Mai 1888.
[...] Ich möchte Turin nicht verlassen, ohne Ihnen nochmals auszudrücken, wie vielen Anteil Sie an meinem ersten  wohlgeratenen Frühling haben. Die Geschichte meiner Frühlinge, Seit 15 Jahren zumindest, war nämlich eine Schauergeschichte, eine Fatalität von Dekadenz und Schwäche. Die Orte machten darin keinen Unterschied; es war als ob kein Rezept, keine Diät, kein Klima den wesentlich depressiven Charakter dieser Zeit verändern könnten. Aber siehe da! Turin! Und die ersten guten Nachrichten,  Ihre Nachrichten, verehrter Herr, aus denen wir bewiesen wurde, daß ich lebe ... Ich pflege nämlich mitunter zu vergessen, daß ich lebe. Ein Zufall, eine Frage erinnerte mich dieser Tage daran, daß in mir ein Hauptbegriff des Lebens geradezu ausgelöscht ist, der Begriff "Zukunft". Kein Wunsch, kein Wölkchen Wunsch vor mir! Eine glatte Fläche! Warum sollte ein Tag aus meinem siebzigsten Lebensjahr nicht genau meinem Tag von heute gleichen? - Ist es, daß ich zulange in der Nähe des Todes gelebt habe, um die Augen nicht mehr für die schönen Möglichkeiten aufzumachen? - Aber gewiß ist, daß ich mich jetzt darauf beschränke, von heute bis morgen zu denken, - daß ich heute festsetze, was morgen geschehen soll - und für keinen Tag weiter! Das mag unrationell, unpraktisch, auch vielleicht unchristlich sein - jener Bergprediger verbot gerade diese Sorge "um den andern Tag" - aber es scheint mir etwas Respekt mehr, als ich ihn sonst schon habe: - ich begriff, daß ich  verlernt habe zu wünschen, ohne es auch nur gewollt zu haben. -

Diese Wochen habe ich dazu benutzt, "Werte umzuwerten". - Sie verstehen diesen Tropus? - Im Grunde ist der Goldmacher die verdienstlichste Art Mensch, die es gibt: Ich meine der, welcher aus Geringem, Verachteten etwas Wertvolles und sogar Gold macht. Dieser allein bereichert; die andern wechseln nur um. Meine Aufgabe ist ganz kurios diesmal: Ich habe mich gefragt, was bisher von der Menschheit am besten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist - und daraus habe ich mein "Gold" gemacht. [...]

Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man  wird es tun. -

- Ist meine Photographie in Ihre Hände gelangt? meine Mutter hat mir den großen Dienst erwiesen, in einem so außerordentlichen Fall nicht undankbar erscheinen zu müssen. [...]

8. Turin, den 27. Mai 1888.
Was Sie für Augen haben! Der  Nietzsche auf der Photographie ist in der Tat noch nicht der Verfasser des Zarathustra - er ist in paar Jahre zu jung dazu.

Für die Etymologie von Gote bin ich sehr dankbar; dieselbe ist einfach göttlich. - Ich nehme an, daß Sie heute auch einen Brief von mir lesen? [...]

9. Sils-Maria, den 13. September 1888.
[...] Hiermit mache ich mir ein wahres Vergnügen - nämlich mich Ihnen wieder ins Gedächtnis zu rufen: Und zwar durch Übersendung einer kleinen boshaften aber trotzdem sehr ernst gemeinten Schrift, die noch in den guten Tagen von Turin entstanden ist. Inzwischen nämlich gab es böse Tage in Überflut, und einen solchen Niedergang von Gesundheit, Mut und "Willen zum Leben", schopenhauerisch geredet, daß mir jene kleine Frühlings-Idylle kaum mehr glaublich erschien. Zum Glück besaß ich noch ein Dokument daraus, den "Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem". Böse Zungen wollen lesen "Der Fall Wagners" [...]

So sehr und mit so guten Gründen Sie sich auch gegen Musik verteidigen mögen (- die zudringlichste aller Musen), so sehen Sie sich doch einmal dieses Stück Musiker-Psychologie an. Sie sind, verehrter Herr Kosmopolitikus, viel zu europäisch gesinnt, um nicht dabei hundert Mal mehr zu hören, als meine sogenannten Landsleute, die "musikalischen" Deutschen. [...]

Zuletzt bin ich in diesem Fall Kenner  in rebus et personis [in eigner Angelegenheit - wp] - und, glücklicherweise, bis zu dem Grad Musiker von Instinkt, daß mir über die hier vorliegende letzte Wertfrage von der Musik aus das Problem zugänglich, löslich erscheint.

Im Grunde ist diese Schrift beinahe französisch geschrieben - es möchte leichter sein, sie ins Französische zu übersetzen als ins Deutsche. [...]

Würden Sie mir noch ein paar russische oder französische Adressen geben können, in deren Fall es Vernunft hätte, die Schrift mitzuteilen? -

Ein paar Monate später gibt es etwas Philosophisches zu erwarten: unter dem sehr wohlwollenden Titel "Müßiggang eines Psychologen" sage ich aller Welt Artigkeiten und Unartigkeiten - eingerechnet dieser geistreichen Nation, den Deutschen. -

Dies alles sind aber in der Hauptsache nur Erholungen von der Hauptsache: letztere heißt "Umwertung aller Werte". - Europa wird nötig haben, noch ein Sibirien zu erfinden, um den Urheber dieser Wert-Tentative [Provisorien - wp] dorthin zu senden.

Hoffentlich begrüßt Sie dieser heitere Brief in einer bei Ihnen gewohnten  resoluten Verfassung [...]

10. Turin, den 20. Oktober 1888.
Werter und lieber Herr, wiederum kam ein angenehmer Wind von Norden mit Ihrem Brief: zuletzt war es bisher der einzige Brief, der ein "gutes Gesicht", der überhaupt ein Gesicht zu meinem Attentat auf  Wagner machte. Denn man schreibt mir nicht. Ich habe selbst bei Näheren und Nächsten einen heillosen Schrecken hervorgebracht. Da ist zum Beispiel mein alter Freund Baron  S. in München unglücklicherweise gerade Präsident des Münchener Wagner-Vereins; mein noch älterer Freund, der Justizrat  K. in Köln, Präsident des dortigen Wagner-Vereins; mein Schwager Dr.  Bernhard Förster in Südamerika, der nicht unbekannte Antisemit, einer der eifrigsten Mitarbeiter der Bayreuther Blätter - und meine verehrungswürdige Freundin  M. von M ... verwechselt nach wie vor  Wagner mit  Michelangelo [...]

Andererseits hat man mir zu verstehen gegeben, ich solle auf der Hut sein vor der Wagnerianerin: die hätte in gewissen Fällen keine Skrupel. Vielleicht wehrt man sich, von Bayreuth aus, auf reichsdeutsche und ... Manier, durch Interdiktion meiner Schrift - als "der öffentlichen Sittlichkeit gefährlich". [...]

Ihre Intervention zu Ehren der Wittwe  Bizets hat mir großes Vergnügen gemacht. Bitte geben Sie mir ihre Adresse; insgleichen die des Fürsten  U. Ein Exemplar ist an ihre Freundin, die Fürstin  A. D. T. abgesandt. - Bei meiner nächsten Veröffentlichung, die nicht gar zu lange mehr auf sich warten lassen wird (- der Titel ist jetzt "Götzendämmerung. Oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert"), möchte ich sehr gern auch an den von Ihnen mit so ehrenden Worten mir vorgestellten Schweden (13) ein Exemplar senden. Nur weiß ich seinen Wohnort nicht. - Diese Schrift ist meine Philosophie  in nuce [im Kern - wp] - radikal bis zum Verbrechen. [...]

- Über die Wirkung des "Tristan" hätte auch ich Wunder zu berichten. Eine richtige Dosis Seelenqual scheint mir ein ausgezeichnetes Tonikum vor einer Wagnerischen Mahlzeit. Der Reichsgerichtsrat Dr.  W. in Leipzig gab mir zu verstehen, auch eine Karlsbader Kur diene dazu. [...]

- Auch was Sie arbeitsam sind! Und ich Idiot, der ich nicht einmal Dänisch verstehe! - Daß man gerade "in Russland wieder aufleben" kann, glaube ich Ihnen vollkommen; ich rechne irgendein russisches Buch, vor allem  Dostojewski ... zu meinen größten Erleichertungen.

Von Herzen und mit einem Recht,  dankbar zu sein.

Ihr Nietzsche.

11. Turin, via Carlo Alberto 6, III. den 20. November 1888.
Verehrter Herr, Vergebung, daß ich auf der Stelle antworte. Es gibt jetzt in meinem Leben  Kuriosa von Sinn im Zufall, die nicht ihres Gleichen haben. Vorgestern erst; jetzt wieder. - Ach, wenn Sie wüßten, was ich eben geschrieben hatte, als Ihr Brief mir seinen Besuch machte. [...]

Ich habe jetzt mit einem Zynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt. Das Buch heißt "Ecce homo" und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten; es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen alles, was christlich oder christlich infekt ist, bei denen einem Hören und Sehen vergeht. Ich bin zuletzt der erste Psychologe des Christentums und kann, als alter Artillerist, der ich bin, schweres Geschütz vorfahren, von dem kein Gegner des Christentums auch nur die Existenz vermutet hat. - Das Ganze ist das Vorspiel der "Umwertung aller Werte", des Werks, das fertig vor mir liegt! ich schwöre Ihnen zu, daß wir in zwei Jahren die ganze Erde in Konvulsionen haben werden. Ich bin ein Verhängnis. -

Erraten Sie, wer in "Ecce homo" am schlimmsten wegkommt? Die Herren Deutsche! Ich habe ihnen furchtbare Dinge gesagt ... Die Deutschen haben es zum Beispiel auf dem Gewissen, die letzte  große Zeit der Geschichte, die Renaissance, um ihren Sinn gebracht zu haben - in einem Augenblick, wo die christlichen Werte, die Dekadenz-Werte, unterlagen, wo sie in den Instinkten der höchsten Geistlichkeit selbst überwunden durch die Gegeninstinkte waren, die Lebensinstinkte ... Die Kirche  anzugreifen - das hieß ja das Christentum wiederherstellen -  (Cesare Borgia als Papst - das wäre der Sinn der Renaissance, ihr eigentliches Symbol ...).

- Auch dürfen Sie darüber nicht böse sein, daß Sie selber an einer entscheidenden Stelle des Buches auftreten - ich schrieb sie eben - in diesem Zusammenhang, daß ich das Verhalten meiner deutschen Freunde gegen mich stigmatisiere, das absolute Im-Stich-gelassen-sein mit Ehre wie mit Philosophie. - Sie kommen, eingehüllt in eine artige Wolke von Glorie, auf einmal zum Vorschein. [...]

Ihren Worten über  Dostojewski glaube ich unbedingt; ich schätze ihn andererseits als das wertvollste psychologische Material, das ich kenne - ich bin ihm auf eine merkwürdige Weise dankbar, wie sehr er auch immer meinen innigsten Instinkten zuwider geht. Ungefähr mein Verhältnis zu  Pascal, den ich beinahe liebe, weil er mich unendlich belehrt hat: der einzige  logische Christ [...]

- Vorgestern las ich, entzückt und wie bei mir zuhause  Les mariés von Herrn  August Strindberg. Meine aufrichtigste Bewunderung, der nichts Eintrag tut, als das Gefühl, mich dabei ein wenig mitzubewundern ... Turin bleibt meine Residenz.

Ihr Nietzsche, jetzt Untier.

Wohin darf ich Ihnen die "Götzen-Dämmerung" senden? Im Fall, daß Sie noch 14 Tage in Kopenhagen sind, ist keine Antwort nötig.

12. (Unfrankiert. Ohne genauere Adresse, ohne Datum, mit sehr großen Buchstaben auf einem nach Kinderart mit Bleistift linierten Stück Papier geschrieben. Poststempel, Turin, 4. Januar 1889)
Dem Freunde Georg
Nachdem Du mich entdeckt hast, war es kein Kunststück mich zu finden: die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren. [...]

Der Gekreuzigte.


Da mit unglaublicher Roheit der Versuch gemacht worden ist, die ganze Produktion 'NIETZSCHEs als Erzeugnis eines Irrsinigen zu stempeln, sei hier darauf aufmerksam gemacht, daß sich erst in den letzten Briefen eine krankhafte Exaltation zu äußern anfängt und daß erst im allerletzten die Geistesverwirrung eingetreten ist.
LITERATUR - Georg Brandes, Menschen und Werke, Frankfurt a. M. 1900
    Anmerkungen
    11) Ein über TAINEs "Geschichte der Revolution" benutzter Ausdruck.
    12) Die alte Sagenliteratur ist gemeint.
    13) AUGUST STRINDBERG