cr-3Das GlaserhäusleTestamentAus der Wüste 
 
LUTGER LÜTKEHAUS
Die Schriftstellerin Harriet Straub

"Eine  ruhige Gottlosigkeit,  die nicht mehr unter dem Reversionsverdacht inständiger Atheisten steht, wird zum Inbegriff humanerer Tröstungen."
    "Ich sehe den Mann schon neben mir stehen und, mit dem unnatürlich langen Zeigefinger des Johannes auf dem Kreuzigungsbild von GRÜNEWALD, auf die Gipfel deuten, auf einen BEETHOVEN, auf einen GOETHE, SPINOZA, KANT und ich höre seine einförmig wiederholte Frage: wo sind hier die Frauen? Der Fragende steht gewöhnlich auch nicht Schulter an Schulter mit den Riesen, aber immerhin, er ist Geschlechtsgenosse und ein Schein von all der Herrlichkeit fällt auch auf ihn",
heißt es in HARRIET STRAUBs  Zerrissenen Briefen.  Fügt man, mit "unnatürlich langem Zeigefinger" auf weitere, wiewohl kleinere Gipfel deutend, diesen Namen noch den von FRITZ MAUTHNER hinzu - des bedeutendsten Sprachphilosophen vor WITTGENSTEIN; nach SCHOPENHAUER, nach NIETZSCHE einer der "Fürsten des Atheismus" -, dann scheint auch auf HEDWIG MAUTHNER allenfalls ein indirekter Glanz und nicht einmal der einer "Geschlechtsgenossin" zu fallen.

Die vorliegende Ausgabe ist ein Auswahlband der  Zerrissenen Briefe  von 1913. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Ausdrucksweise der Zeit wurden beibehalten.

Der zweiten Frau Mauthners ließe sich zwar das Verdienst gutschreiben, an zwei seiner großen philosophischen Werke: dem "Wörterbuch der Philosophie" (1910/11) und dem "Atheismus und seiner Geschichte im Abendlande" (1920/23), dazu seinem schönsten poetischen Buch: dem "Letzten Tod des Gautama Buddha" (1912) coproduktiv beteiligt gewesen zu sein, ja, FRITZ MAUTHNER mag sogar, wie es der Nachruf eines Hausfreundes wollte, der dabei freilich den Einfluß der Freunde MARTIN BUBER und GUSTAV LANDAUER ignorierte, von ihr "den mystischen Ausklang seines sonst so radikalen Skeptizismus ... empfangen" haben (WILHELM RESTLE). Aber auch diese metaphorische Umkehrung üblicher Produktivitätsverhältnisse führt nicht eigentlich über den traditionellen Rollenhaushalt einer inspirierenden Muse hinaus. Und man müßte doch wieder bei einem der Sätze enden, mit denen die Autorin der  Zerrissenen Briefe  sich und ihre Geschlechtsgenossinnen zu einer radikaleren "Frauen-Emanzipation" provoziert:
"Die Frau empfing vom Mann nicht nur das Kind, sie empfing seine Werke und trug sie aus und brachte die Formen, die der Mann gefügt, zum Leben. Der Mann tat das Werk, die Frau setzte es in Wirklichkeit um. Und so ist die Frau geworden zu dem, was sie zu sein scheint: sie ist schwanger vom Mann und kann selbst nicht mehr zeugen."
Gerade diese Autorin jedoch ist nicht identisch mit einer bloßen philosophischen und literarischen Co-Produzentin: HARRIET STRAUB ist nicht HEDWIG MAUTHNER. Hinter dem Pseudonym steht vielmehr eine Schriftstellerin, deren Selbständigkeit und Bedeutung heute mit ihrem lesenswertesten Buch wiederzuentdecken ist: Zerrissene Briefe eben, die vor allem eines markieren: den Riß durch alte Pakte, überkommene Geschlechterverhältnisse, vertraute Identitäten.

HEDWIG LUITGARDIS STRAUB wurde am 20. Januar 1872 in Emmendingen bei Freiburg i. Br. geboren. Die scheinbar verbindende Erinnerung an eine andere bemerkenswerte Frau, die mit dem Namen Emmendingen verknüpft ist, verweist eher auf einen konträren Lebenslauf: Während die Oberamtsmannsfrau CORNELIA SCHLOSSER, geborene GOETHE, ihr bürgerliches Leben in Emmendingen zu Ende lebt, zu Ende stirbt, bricht die Notarstochter HEDWIG STRAUB frühzeitig aus ihrer familiären, sozialen, religiösen, ideologischen Heimat aus.

Die verfügbaren Informationen über ihre Jugendgeschichte sind - wie noch etliche andere Aspekte ihrer Biographie, die erheblich schlechter erforscht ist als die FRITZ MAUTHNERs - fragmentarisch, auch widersprüchlich. Gleichwohl sind zwei zentrale Erfahrungen auszumachen, deren autobiographische Reflexe die "Zerrissenen Briefe" wiederholt zeigen: Der frühe Tod der Mutter wird traumatisierend erlebt. Die weltanschauliche Mitgift des katholischen Elternhauses, intensiviert noch durch eine Klosterschulerziehung und die Begegnung mit einem verehrten Katecheten, dem Freiburger Dompfründner BEUTTER, treibt sie trotzdem nicht in den Schoß der "Mutter Kirche", die Arme des Vater-Gottes zurück, sondern motiviert den Weg ins Freie.

Ein erster Ortswechsel signalisiert den Bruch mit der tradierten Identität: In Berlin besucht HEDWIG STRAUB die Gymnasialkurse HELENE LANGEs und wird hier mit der bürgerlichen Frauenbewegung, der Frauen-Bildungsbewegung zumal, bekannt. Die abrupte Eheschließung der Achtzehnjährigen mit einem Dr. SILLES bleibt - aus welchen Gründen auch immer - buchstäblich eine Eintagsgeschichte.

Harriet Straub-MauthnerUngleich konstanter sind die eigenen Studien. Das Studium der Medizin und der Philosophie, zuerst in Zürich (u. a. bei RICHARD AVENARIUS), dann in Paris, wird mit dem Dr. med. an der Sorbonne abgeschlossen. HEDWIG STRAUB ist eine der ersten promovierten Medizinerinnen. Danach bricht sie zu einem vollends singulären Unternehmen auf: Zehn abenteuerliche Jahre lang arbeitet sie im Auftrag der französischen Regierung als Arztin in der französisch kolonialisierten Sahara: bei Beduinen und Schwarzen; zwischen Timbuktu und Tunis, Algier und Tamanrasset. Dabei kümmert sie sich besonders um die Lebensverhältnisse der Frauen, deren kollektive Lebensformen hinter den Harernsgittern und Haremsvorhängen oder auch den Klostermauern des Patriarchats sie zugleich erforscht und bestärkt.

Dieses unabhängige Leben endet mit einer zweiten Heirat. Doch auch diese Ehe mit dem irischen Adligen O'CUNNINGHAM bleibt Episode. Nach der erneuten, wohl durch den Heimat-Clan der O'CUNNINGHAMs nahegelegten Scheidung geht HEDWIG STRAUB nach Stockholm und Kopenhagen. 1904 kehrt sie zur Vertiefung ihrer Medizin-Studien nach Freiburg i. Br. zurück. Und hier begegnet sie Ende 1906 oder im Sommer 1907 erstmals jenem schon älteren, nämlich fast sechzigjährigen Kommilitonen, der dann ihr einziger wirklicher Lebensgefährte wird: FRITZ MAUTHNER (1849-1923).

In Berlin als Journalist und Schriftsteller, vor allem als Parodist und Satiriker ("Nach berühmten Mustern, Schmock, Xantippe, Hypatia)" berühmt geworden, hatte MAUTHNER sich nach der Beendigung seines ersten großen philosophischen Werkes, der dreibändigen "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" (1901/02), nach Freiburg zurückgezogen, um mit dem Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften noch einmal einen seiner abgründigen Sprachskepsis nicht so ausgesetzten Neuanfang zu versuchen: erfolglos, was die Studien betraf. In der Begegnung mit HEDWIG STRAUB gewinnt MAUTHNER dafür andere Impulse.

Im August 1907 reisen die beiden in die Schweiz. Im Mai 1909 geht MAUTHNER auf Wohnungssuche und wird bei Meersburg am Bodensee fündig: Das überaus schön zwischen Wald und Reben hoch über dem See gelegene "Glaserhäusle", schon von der DROSTE besungen, aber nicht zu verwechseln mit ihrem "Fürstenhäusle", wird im Juli 1909 zum neuen Domizil. Ende Februar 1910 wird die Lebensgemeinschaft legalisiert. Für HEDWIG STRAUB ist es die dritte, für FRITZ MAUTHNER die zweite Ehe - seine erste Frau JENNY war 1896 gestorben. Die gemeinsame Arbeit gilt zunächst dem "Wörterbuch der Philosophie": Die stupenden Sprachkenntnisse seiner Frau - FRITZ MAUTHNER sagt ihr in einem Brief an MARIE von EBNER-ESCHENBACH die Kenntnis von acht Sprachen nach - kommen dem auch wieder sprachkritischen Wörterbuch sehr zustatten. Entsprechend widmet FRITZ MAUTHNER seiner Frau den "Zweiten Tod des Gautama Buddha".

Gleichzeitig indessen schreibt und publiziert HEDWIG MAUTHNER als HARRIET STRAUB eigene Texte: Reiseskizzen, Berichte, Phantasien, die ihre Wüsten-Erfahrungen artikulieren; Feuilletons über die DROSTE, die Kulturhistorie und -landschaft des Bodensees; komplementär zur Sahara-Exotik Dorfgeschichten aus dem Schwarzwald ("Rupertsweiler Leut'"), die allerdings nichts weniger als "Heimatkunst" sind, vielmehr mit subversivem Witz die Lebens- und Überlebenskünste von Frauen in einer von geistlichen und ungeistigen Würdenträgern dominierten Welt schildern; schließlich die "Zerrissenen Briefe". Gewiß ist der Einfluß FRITZ MAUTHNERs in all dem unverkennbar - aber nicht mehr, als der ihrige in seinem Spätwerk spürbar wird.

Dieses gemeinsame Arbeitsleben wird zunächst durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. FRITZ MAUTHNER gibt seine skeptische und humane Philosophie zugunsten der Rolle eines nationalistischen Propagandisten preis. Von HEDWIG MAUTHNER hingegen sind neben den patriotischen auch menschlichere Texte zu lesen. Sie arbeitet in einem Konstanzer Lazarett, kann aber nicht verhindern, daß unter dem Einfluß nationalistischer Frontbildungen die alte Freundschaft ihres Mannes mit GUSTAV LANDAUER zerbricht. Der solidarische und unter den gegebenen präfaschistischen Bedingungen auch mutige Nachruf FRITZ MAUTHNERs für den während der Münchener Räterepublik ermordeten LANDAUER läßt immerhin wieder die frühere Nähe erkennen.

Die Feiern zum 70. Geburtstag FRITZ MAUTHNERs mit der Verleihung der Meersburger Ehrenbürgerschaft scheinen dann insgesamt wieder für harmonischere Verhältnisse zu sorgen, bis auch die Meersburger Idylle zerbricht, richtiger: zerbrochen wird. Es geht um einen rechtschaffenen lokalen Kirchenkampf. Der Anlaß ist dieser: Ein Dienstmädchen der MAUTHNERs kommt im Hause ihrer Arbeitgeber unverhofft mit einem unehelichen Kind nieder. Als es ungetauft zu sterben und damit nach dem desaströsen Glauben der katholischen Mutter dem Rachen der Hölle zu. verfallen droht, spendet der mit frommen Bräuchen und Mentalitäten wohlvertraute Atheist MAUTHNER in ebenso souveräner wie einfühlsamer Selbstverleugnung dem "sterbenden Wurm" die Nottaufe. Der katholische Stadtpfarrer weiß freilich genauer über die wahren Verhältnisse Bescheid, zumal als auch noch der erste Band von FRITZ MAUTHNERs "Geschichte des Atheismus" erscheint und die Gelegenheit günstig scheint, die gerade verliehene Ehrenbürgerschaft mit Hilfe des Stadtrates wieder abzuerkennen. So hat denn kein anderer als der Teufel in Gestalt FRITZ MAUTHNERs die uneheliche Mutter geschwängert. Muß man auf solch geistlichen Spuren über Dreiecks-Verhältnisse im Hause MAUTHNER spekulieren? Gesichert ist nur, daß HEDWIG MAUTHNER, als der Pfarrer schließlich die Mutter zur Kündigung im Teufelsasyl bewegt, aus der katholischen Kirche austritt, der sie formal immer noch angehört hatte. Dieser in einem Schreiben HEDWIG MAUTHNERs an den befreundeten GERHART HAUPTMANN bezeugte Schritt ist wichtig, um jene Art von Mystik angemessen einzuschätzen, die im Spätwerk FRITZ MAUTHNERs, im vierten Band des Atheismus-Buches, Ausdruck gefunden hat: Es geht um alles andere als eine christliche: um eine dezidiert "gottlose Mystik", die die Sprachkritik, die Dogmenkritik, den unaufhaltsamen Exitus der Wort- und Glaubensfetische im Verstummen radikalisiert, nicht widerruft oder gar wiedertäuft.

Nach dem Tod FRITZ MAUTHNERs am 29.6.1923 bleibt HEDWIG MAUTHNER, selbst nach einer schweren Erkrankung im Jahre 1920 seßhaft geworden, im Glaserhäusle wohnen. Sie arbeitet und schreibt vor allem journalistisch noch eine Zeitlang weiter. Doch wie um den großen Namen ihres Mannes, wird es auch um sie still. Überdies gerät sie nach dem vergeblichen, von einem Betrüger mißbrauchten Versuch, eine Fritz-Mauthner-Akademie zu gründen, in finanzielle Schwierigkeiten. Die Nazis streichen der Juden-Witwe die Rente. Für die  Vossische Zeitung  erhält sie außerdem Publikationsverbot. Nur auf Grund der finanziellen Unterstützung durch etliche Freunde, unter ihnen GERHART HAUPTMANN, behält sie Wohnrecht im Glaserhäusle, das von dem ebenfalls befreundeten, nicht auf Distanz gegangenen katholischen Pfarrer (und späteren Nachrufschreiber) WILHELM RESTLE erworben wird. Nur wenig mehr als einen Monat nach Kriegsende, am 20. Juni 1945, stirbt HEDWIG MAUTHNER, 73jährig, in Meersburg. Auf dem Meersburger Friedhof liegt sie, in der Nähe der Gräber der DROSTE und FRANZ ANTON MESMERs, neben ihrem Mann unter einem unbehauenen Findling begraben. Gemeinsame Grabschrift: "Vom Menschsein erlöst". Wenigstens das.

Ein weit gespanntes, vielfältiges Leben also - mit einem langen, langen Abgesang, der melancholisch oder auch bitter stimmen könnte, wenn man schon Definitives darüber sagen könnte. In jedem Fall aber ein reiches, ein produktives Leben: Die "Zerrissenen Briefe", deren bemerkenswerteste hier zum ersten Mal seit fast siebzig Jahren wieder zugänglich gemacht werden, stehen dafür.

Als Autorin zeichnet "Harriet Straub." Das Pseudonym, das den Mädchennamen reaktiviert und ihn - Reminiszenz vielleicht an die anderen Ehen - mit einem anglophonen Vornamen verbindet, beansprucht Selbständigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen Namen des Mannes.

Es geht um Briefliteratur, fiktive Briefliteratur, Rollenprosa also, geschrieben von wechselnden Schreiberinnen (und Schreibern) für wechselnde EmpfängerInnen. Gelegentlich ergibt sich sogar ein Briefwechsel: unerachtet der "Zerrissenheit" der Briefe, auf die der Titel verweist.

Ein prägnanter, ein suggestiver Titel, ein paradoxer dazu. Wer hat die Briefe zerrissen? Man könnte annehmen, daß es die EmpfängerInnen waren: In etlichen Fällen wäre es nur zu verständlich, obwohl letzten Endes fruchtlos, denn für die Leser sind die Briefe sichtlich erhalten geblieben.

Noch paradoxer die zweite Deutungsmöglichkeit: Die SchreiberInnen selber hätten, zumindest in den Fällen, wo es nicht zu einem Briefwechsel kam, die Briefe zerrissen. Das unterstellte in der literarischen Fiktion einerseits, daß die Briefe dort nicht ankamen, wohin sie eigentlich gehen sollten. Andererseits schriebe diese Fiktion den Briefen jene Zensurfreiheit, jene Freiheit von Milderung um der Schonung der Adressaten willen zu, die sie in der Tat haben. In jedem Falle indes erreichen hier unzerrissene "Zerrissene Briefe" ihr Publikum.

Der erste von ihnen, "Aus der Wüste", an einen ehemals nahen, inzwischen etwas distanzierter erlebten "lieben Freund" geschrieben, bietet neben eindrucksvollsten Landschaftsbildern Dokumente einer vorurteilslosen Urteils- und Wahrnehmungskraft. Die "teilnehmende Beobachtung" der Ethnosoziologin HARRIET STRAUB gilt einer Lebenswelt, die im Widerspruch zum eurozentrischen bösen Blick als eigene verstanden und gewertet wird. Die Ärztin entwirft ein so skeptisches Bild der europäischen Schulmedizin, ein so positives von der autochthonen [althergebrachten - wp], daß ihr medizinischer Kulturrelativismus zum Beispiel bemerkenswerten Formen der Anti-Psychiatrie ebenso wohlwollend wie fatalistischen oder magischen Praktiken begegnet, die über Leichen, auch über Frauenleichen, gehen. Das zentrale Interesse freilich gilt den arabischen Gegenbildern zum "verchristeten" Europa, das mit seiner Vergötzung des Nutzens, seinem Seelenglauben, seinem naturfernen Gott die belebte und die sogenannte "unbelebte" Natur zum Material selbstherrlicher Verfügung degradiert hat: Ökosophie vor 1900, die offenbar auch in der Wüste beginnen kann. Und weil die Frontstellung gegen das "verchristete" Europa dominiert, kann auch schon in der Sahara, bei leerem und um so klarerem Himmel, jener Fundamentalkritiker des theo- und anthropozentrischen Größenwahns zu Ehren kommen, der in Europa philosophische  tabula rasa  gemacht hat: FRITZ MAUTHNER.

Hier schließt, wiewohl unter erheblich verdüsterten Vorzeichen, "Die Lüge" an. Was in anderen, in der vorliegenden Ausgabe nicht dokumentierten Texten der Zerrissenen Briefe noch allzu larmoyant, von der fatalen Innigkeit eines gerade aus der geistlichen Gartenlaube in die Pietätlosigkeit entsprungenen Nesthäkchens bleibt, gewinnt in diesem Brief die nötige Deutlichkeit, ja, Schärfe. Autobiographisches klingt hinein: die ehemalige Bindung an den Freiburger Dompfründner BEUTTER etwa, von der HEDWIG STRAUBs "Beutter-Büchlein" von 1909 noch ausdrücklich spricht. Und zum Meersburger Kirchenkampf von 1920 gibt es erstaunliche Präludien. Um so plausibler der Bruch mit einer buchstäblich mörderischen und selbstmörderischen Religiösität und die - mit dem sprechenden Namen "Klara" unterzeichnete - Abrechnung mit den eigenen Kornpromißbildungen. Eine "ruhige Gottlosigkeit", die nicht mehr unter dem Reversionsverdacht inständiger Atheisten steht, wird zum Inbegriff humanerer Tröstungen.

Noch stärker autobiographisch sind die Briefe "Mutterseelen allein" und "Ein Vater". Die literarisch schwächeren, psychologisch aber um so aufschlußreicheren Familienromane, die die Autorin hier entwirft, reagieren spürbar auf familiäre Traumata: den frühen Tod der Mutter, lieblose Eheschließungen, emotionale Beziehungen, deren Tiefengeschichte in größter Ambivalenz oszilliert. Das Porträt fataler familiärer Reihenbildungen über mehrere Generationen hinweg gewinnt in seinen besten Passagen eine illusionslose Schärfe, die auch  sub specie mortis  [im Bewußtsein des Todes - wp] nicht dem Heiligen-Schein der Familie geopfert wird. Das umgangssprachliche "Mutterseelen allein", das sich sonst eher die süße Melancholie anzueignen pflegt, erhält eine geradezu bittere Intensität. Und die nahezu unverhüllt inzestuösen Phantasien, die die Autorin sich mit ihren Figuren gestattet, leiden ebenfalls kaum noch unter Kompromißbildungen, wie das Verdrängungsgebot sie diktieren mag.

Diesen Vorzug zeigen schließlich am entschiedensten die "Zerrissenen Briefe" HARRIET STRAUBs, die explizit der "Frauen-Emanzipation" und - synonym - der "Befreiung" gewidmet sind. Das beträchtliche Talent der Autorin zum ironischen, zum sarkastischen Schreiben ist in diesen Briefen am meisten spürbar. Hier springt sie vollends über den Schatten einer à la MARLITT programmierten Welt; und die einstige Nesthäkchen-Tochter zeigt (fast) keine Spuren einer literarischen, seelischen oder ideologischen Regression mehr.

Der "Befreiungs"-Briefwechsel mit einern gleichermaßen gutwilligen wie schlecht verstehenden Heiratskandidaten räumt mit schönster Gnadenlosigkeit im Rollenhaushalt der Geschlechter auf; der nicht zustande kommende Polterabend findet wenigstens literarisch statt. Die "exaltierte", eher studier- als heiratswillige Verlobte und Tochter, der weder die Drohungen des Vaters, auch die der Psychiatrisierung nicht, noch die Küsse des Bräutigams noch die Gratifikationen der Koketterie mehr schmecken, hatte den Schaden - der Gatte ex spe braucht für den Spott nicht mehr zu sorgen.

"Frauen-Emanzipation" schließlich ist auch in Zeiten avancierter Frauenbewegung von unübertroffener Brisanz. Die Abrechnung mit dem Patriarchat erweitert sich zur Abrechnung mit dem eigenen Geschlecht, das sich die Definition durch die Männer, ihre Auffassung von Liebe, von Kreativität, von Kultur, von Staat hat gefallen lassen. Doch ist mit solcher Abrechnung nichts weniger als ein resigniertes Friedensfest im Geschlechterkampf angesagt. Die Aufkündigung aller Solidaritätspakte will nur eine entschiedenere "Frauen-Emanzipation" provozieren, bis hin zur Idee eines Generalstreiks, der diesen Namen wirklich verdiente. Man darf sich also auch als Herausgeber nicht zu früh freuen - zumal, wenn dieser vergessene "Zerrissene Brief" jetzt wieder seine Adressatinnen erreicht.
LITERATUR - Lutger Lütkehaus, Nachwort zu Harriet Straub, Zerrissene Briefe, Freiburg/Br. 1990