cr-3MeersburgHarriet StraubAus der Wüste 
 
MANFRED BOSCH
Hedwig Mauthner
und das Glaserhäusle in Meersburg

"Ich liege platt auf dem Boden u. sammle alle Kräfte um am Leben zu bleiben, weil Fritz Mauthner mich darum bat um seiner Arbeit willen ..."

"Es war auf einer von vielen Heimreisen über den Bodensee, als ich im Vorüberfahren vom Dampfer aus zum erstenmal Meersburg erblickte", schrieb ARTHUR KAHANE in seinem  Tagebuch eines Dramaturgen.  "Es lag so tollromantisch die Höhe hinaufgetürmt, so mittelalterlich versponnen und verzaubert ..., daß man das gute Gefühl bekam, hier ende die Welt und die Zeit stehe still. Hier, dachte ich, möchte ich einmal, wenn's soweit ist, meine Hütte bauen; von hier aus muß es sich gut auf die Welt pfeifen oder, milder ausgedrückt, über sie lächeln lassen. Erst später erfuhr ich, daß schon ein anderer auf dieselbe vernünftige Idee gekommen war: es gab schon einen, der hier sein Leben abschloß, auf die Welt pfiff und philosophisch über sie lächelte. Er hieß ."FRITZ MAUTHNER(1)

Gemeinsam mit dem Sprachkritiker und Philosophen lächelte HEDWIG MAUTHNER (1872-1945). Der Umstand, daß sie an der Seite einer schieren Zelebrität lebte, rückte sie indes lange in den Hintergrund; erst heute, ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod, beginnt sie, die sich als Schriftstellerin HARRIET STRAUB nannte, wieder ins literarische Bewußtsein zu treten. Was die beiden in die Abgeschiedenheit des Bodensees geführt hatte, war eine so weitgehende Gleichgestimmtheit, daß man von einer geradezu idealen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft sprechen kann.

Kennengelernt hatte die Ärztin HEDWIG SILLES-O'CUNNINGHAM, wie sie seit ihrer zweiten Heirat hieß, FRITZ MAUTHNER nach 1906 im gesellschaftlich-akademischen Umkreis der Freiburger Universität, an der beide ein zweites Studium aufgenommen hatten. 1872 in Emmendingen als Tochter eines Notars geboren, hatte HEDWIG LUITGARDIS STRAUB in Freiburg ihre Kindheit und Jugend verbracht, um dann bei HELENE LANGE in Berlin einen der ersten Gymnasialkurse für Mädchen zu absolvieren und nach Studien in Zürich und an der Sorbonne seit etwa 1895 im Auftrag der französischen Regierung an Hygiene- und Gesundheitsprogrammen für Frauen zwischen Tamanrasset und Timbuktu mitzuwirken. Dr. SILLES kehrte von dort nicht als dieselbe zurück.

Obschon in kolonialen Diensten stehend, blieb ihr jegliche hegemonial-überhebliche Mentalität fremd, was sie Lernende, zeigte sie sich an vorurteilsfreier Begegnung mit den Einheimischen interessiert, was das Studium der arabischen Sprache und Kultur einschloß. "Wenn alle Bäume Schreibrohre wären", sollte sie später in  Aus der Wüste  formulieren, "und das Meer und noch sieben Meere dazu Tinte wären, wie's im Koran heißt, könnte ich nicht ausschreiben, was ich gegen Europa auf dem Herzen habe und was mein Leben in der  Unkultur  mir Gutes tut."(2)

Diese Wüstentexte haben bis heute nichts von ihrer Herausforderung verloren. In ihnen hat HARRIET STRAUB nicht nur die große relativierende, verwandelnde und umschmelzende Kraft der Wüste beschworen - sie hat sie auch an sich selbst zugelassen. "Fünf Jahre bin ich jetzt hier", schrieb sie an einen fiktiven Freund in Europa, "und ich habe noch keinen Tag ohne immer neues Entzücken gehabt. Ich möchte den Menschen mal hier haben, der von der  toten Wüste  spricht. Das ist das lebendigste, grausamste, schmeichlerischste, tobendste, bezaubernste Ungeheuer, das übermenschliche Phantasie sich vorstellen kann."(3)

War HEDWIG SILLES vom  Rande der Zivilisation  mit geschärftem Bewußtsein gegenüber  Europa  zurückgekehrt, so hatte FRITZ MAUTHNER (1849-1923) seine Skepsis aus ihrer Mitte heraus gezogen - der Befund vom "Trug hinter den Worten" blieb derselbe. Denn auch den Journalisten und Theaterkritiker ergriff zunehmend Überdruß, so daß er sich nach dem Ideal des "reinen Gelehrtenlebens" sehnte, um allein seinem philosophisch-sprachkritikschen Werk zu leben.

So war die Begegnung zwischen HEDWIG SILLES und FRITZ MAUTHNER nichts weniger als die Begegnung zweier Wahlverwandter. Aufgrund ihrer stupenden Sprachbegabung - acht Sprachen soll sie beherrscht haben - wurde HEDWIG SILLES zur Mitarbeiterin an MAUTHNERs "Wörterbuch der Philosophie" und indem beide nach einem Wort HERMANN HESSEs "durch die Hallen der Philosophie ... nicht wie ein Adorant durch Tempel alter Kulte", sondern "wie Herkules durch den Stall des Augias" schritten, wuchs HEDWIG SILLES in die Rolle hinein, die bis dahin GUSTAV LANDAUER innegehabt hatte. Im Frühjahr 1909 begab man sich dann auf die Suche nach einem gemeinsamen Domizil und stieß auf das Glaserhäusle am westlichsten Rande Meersburgs. Das verträumte Tusculanum (ruhiger Landsitz) - zu dem ein als Bibliothek und Arbeitsraum geeignetes Ateliergebäude gehörte - schien wie geschaffen für ein Leben abseits des Kulturbetriebs.

Anfang Juli 1909 ging das Anwesen in das Eigentum MAUTHNERs über. Einer bislang noch rätselhaften Notiz von NORBERT JACQUES zufolge, der ebenfalls an einen Kauf des Anwesens dachte, hatte bis dahin "der Simplicissimus mit seiner Bulldogge"(4) hier gehaust; seine eigentliche literarische Weihe aber hatte es schon früher durch ANETTE von DROSTE-HÜLSHOFF erhalten, in deren Gedicht  Die Schenke am See  es als gleichermaßen verträumte wie verwunschene Stätte besungen wird:
Ist's nicht ein heit'rer Ort, mein junger Freund, Das kleine Haus, das schier vom Hange gleitet, Wo so possierlich uns der Wirt erscheint, So übermächtig sich die Landschaft breitet; Wo uns ergötzt im neckischen Kontrast Das Wurzelmännchen mit verschmitzter Miene, Das wie ein Aal sich schlingt und kugelt fast, Im Angesicht der stolzen Alpenbühne? ...
Die nun folgenden fünf Jahre bis zum Ersten Weltkrieg waren die glücklichsten und produktivsten des Paares. Noch war alle Bedrückung des Krieges, die sich später wie Mehltau auf sein Tun legen sollte, in weiter Ferne; noch hattenn auch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen ihre Hand noch nicht nach den beiden ausgestreckt. Am 26. Februar 1910 heirateten MAUTHNER und die dreiundzwanzig Jahre Jüngere. Doch mehr als alle Geselligkeit und der zu Zeiten recht illustre Besuch, den das vielbewunderte Glaserhäusle sah - darunter MARTIN BUBER, GUSTAV LANDAUER und HEDWIG LACHMANN, GERHART HAUPTMANN, WILHELM von SCHOLZ, MARTIN ANDERSEN-NEXÖ, ALICE BEREND, OLAF und GRETE GULBRANSSON, HANS ERICH BLAICH, EMANUEL von BODMANN, FRIEDRICH MUNDIG, JAKOBUS und JULIE WEIDENMANN, nicht gerechnet die Meersburger Künstlerfreunde WALDEMAR FLAIG, KASIA von SZADURSKA und OTTO EHINGER sowie eine epedemisch einfallende Verehrerschaft - war es die neue Lebensgemeinschaft, die auf beide inspirierend wirkte. Was STRAUB betrifft, so wurde sie in diesen Jahren selbst zur Schriftstellerin; ihre Persönlichkeit, ihr Wesen und Denken beeinflußten aber auch MAUTHNERs Spätwerk auf unverkennbare Weise.

Den deutlichsten Beweis dafür muß man in MAUTHNERs schönster und ergreifendster Dichtung "Der letzte Tod des Gautama Buddha" sehen, mit der er den entscheidenden Schritt von seiner "alles zermalmenden Skepsis" zur mystisch inspirierten "Sehnsucht nach Einheit" tat und zu jenem entsagenden Nicht-Sein vorstieß, das auch der Spruch "Vom Menschsein erlöst" auf dem gemeinsamen Meersburger Grab meint. MAUTHNER dankte diese Erkenntnis den "schweigenden Lehren" der Tiere, die ihm durch niemand anderes nahe gekommen waren als durch seine Frau.

Daß MAUTHNER sein persönlichstes Buch seiner Frau widmete, war nur recht und billig, denn das vorangesetzte Gedicht läßt etwas von ihrem unorthodoxen und schöpfungsfrommen Einfluß auf MAUTHNER deutlich werden:
Meiner lieben Frau

Francisci Schülerin, des einen und andern,
Hast du die Heiligen mir ganz nah gebracht,
Die arm und selig über die Erde wandern,
Wie Tierlein fromm und klug und unbeacht.

Die Antwort auf deine christlichen Legenden
Vernimm jetzt: eines gütigen Menschensohns
Selbstüberwinden, Entsagen und Vollenden.
Nicht wahr, du hörst den Nachklang deines Tons?

Sonst wäre die Sage ungesagt geblieben;
Wer sich kein Echo weckt, ist stumm.
Ich habe dir das Büchlein zugeschrieben.
Du weißt, warum.
Der doppelte Bezug auf Franziskus gilt - neben FRANZ von ASSISI - dem Freiburger Dompräbendar FRANZ SALES BEUTTER. Ihm war die 1909 unter dem Verfassernamen HEDWIG O'CUNNINGHAM erschienene Schrift gewidmet, die zu den kindlichen Sprachmustern ihres geistlichen Erziehers völlig distanzlos bleibt.

Die beiden nun rasch aufeinander folgenden Bücher nehmen sich nicht nur wie eine zunehmende Distanzierung gegenüber dieser "tief inneren Sentimentalität" aus; sie machen die Befreiung aus den ideologischen und institutionellen Abhängigkeiten recht eigentlich zu ihrem Thema. Den Beginn markieren die acht Erzählungen der  Rupertsweiler Leut'  aus dem Jahre 1912. Obschon nichts weniger als eine Evokation (Erweckung von Vorstellungen, wp) ihrer Herkunftswelt - das fiktive Rupertsweiler steht repräsentativ für die südbadische Welt zwischen Rheinebene und Schwarzwald - und in der liebevoll-kleinmalerischen Darstellung der Heimatkunst eng benachbart, bricht die Autorin doch aus dem herkömmlichen Einvernehmen über Provinz und ihrem Lob aus. Denn STRAUB, die durchweg aus weiblicher Perspektive erzählt, hat ihre lebensnah gezeichneten Frauen mit einem bemerkenswerten Maß an weiblichem Selbstbewußtsein und instinktiver List ausgestattet. Nicht, daß darüber Alltagswelt und dörflicher Kosmos schon aus den Fugen gerieten - aber dieses Buch legt erzählerisch doch den Zusammenhang von katholischem Millieu und männlicher Dominanz frei.

Wirklich Abschied von dieser listig illuminierten Herkunftswelt, ihrem pausbäckigen Charme und der Biederkeit eines unangetasteten Kinderglaubens nimmt STRAUB jedoch in ihren  Zerrissenen Briefen In ihnen ist alle versöhnlich-humoristische Sicht aufgekündigt; hier befleißigt sie sich einer so zweiflerischen Radikalität des Denkens, daß ein unbefangener Leser wohl kaum auf die Idee käme, die beiden nur ein Jahr auseinanderliegenden Titel derselben Autorin zuzuordnen. Wie in den  Rupertsweiler Leut'  noch dörfliche Millieus, so geraten hier die eigenen Abhängigkeiten in den Blick, konfessionelle Bindungen und Verstrickungen, patriarchalische Partner- und Gesellschaftsformen, weibliche Rollenzwänge ebenso wie die Selbstüberschätzung christlich-abendländischen Denkens. Adressaten ihrer Briefe sind Vertreterinnen und Vertreter dessen, was ihr selber längst fragwürdig geworden ist - gegen sie mobilisiert STRAUB ein halbes Dutzend alter egos, die sie mit jenen Erfahrungen und Einsichten versieht, welche ihr das "Leben in der  Unkultur"  zugetragen hat.

Welch spirituelle Kraft der Autorin aus der Begegnung mit der Wüste zugeflossen ist, geht aus ihrer Entgegnung an einen ihrer gutmeinenden europäischen Freunde hervor:
"... wenn ich mich ganz reif fühlen werde, wenn keine Bitterkeit und keine Ungeduld mehr in mir ist, dann komme ich ins alte Europa zurück. Ich wäre gern dabei, wenn die alten Götzen zusammenpurzeln, ich hab' hier, in der Stille der Wüste den Axthieb gehört, der ihre Wurzeln zerstört und wenn die Splitter fliegen, da wär' ich gern dabei, bei der Arbeit und beim befreienden Lachen. Dafür, aber nur dafür, tauschte ich gern mein Leben hier ein, mein Leben in Licht, Schönheit und Freiheit".(5)
In der intellektuell anspornenden Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit MAUTHNER hat STRAUB diese Rückkehr eingelöst, und ihre  Zerrissenen Briefe  sind Teil geworden der Arbeit und des befreienden Lachens: "Wer sich kein Echo weckt ist stumm."

Obwohl HARRIET STRAUB ihr Schreiben nie als Beruf verstand - schon ihre Begegnung mit muslimischer Kultur hätte sie ein solches Selbstverständnis als "europäische Denkweise" ablehnen lassen - beendete der Erste Weltkrieg ihre literarische Produktivität weitgehend.

Was STRAUB in diesen Jahren an Erzählungen veröffentlichte, läßt sich an zwei Händen aufzählen:  Aischa  (1914),  San Fruttoso  (1915),  Der schwarze Panther, Kämpfer daheim, Frau Unwichtig, Verschüttet  (alle 1916),  Annette von Drostes Leiden  (1917) und womöglich noch das eine oder andere bis heute nicht Bekanntgewordene. Daß sie mit Teilen dieser Produktion der patriotischen Zeitstimmung Tribut zollte, verraten bereits die Titel einiger Beiträge; ja diese lesen sich teilweise nachgerade als Revision früherer Positionen.
"Ich möchte den Klagelaut jeder einzelnen Frau, die, zertreten unter den Gesetzen des Mannes, seufzt, sammeln, sammeln das Schluchzen der Frauen, die vernichtet sind in ihrem innersten Wachstum durch die Lasten, die ihr der Mann auferlegt, sammeln die Gebete, die um Erlösung flehen aus der Prostitution von Körper und Geist", -
so hatte sie sich in den  Zerrissenen Briefen  noch an "alle die Frauen" gewandt, die "einem Mann das Leben auspolstern".(6) Wie sehr HEDWIG MAUTHNER nun nationalen Suggestionen folgte und sich von ihren eigenen besseren Einsichten entfernte, zeigt nicht deutlicher als die schwere Belastung, der das Verhältnis zu HEDWIG LACHMANN und GUSTAV LANDAUER fortan ausgesetzt war.

Eine dauerhafte Rückkehr zum unbeschwerten Glück der Vorkriegszeit war dem Paar nach 1918 nicht mehr vergönnt. Die Rücksichtslosigkeit, mit der HEDWIG MAUTHNER sich während des Krieges in der Verwundetenpflege selbst das Äußerste abverlangt hatte, machte sie immer erneut sehr leidend; seit Mai 1919 lastete das Schicksal des auf bestialische Weise ermordeten GUSTAV LANDAUER auf ihr, dessen Töchter CHARLOTTE, GUDULA und BRIGITTE - HEDWIG LACHMANN war bereits gestorben - monatelang im Glaserhäusle lebten; und im Jahr darauf sah sich das Paar durch einen Vorgang um alles Behagen gebracht, der als "Meersburger Kirchenstreit" in die Lokalgeschichte einging: Auf Betreiben des örtlichen Pfarrers sollte die Ehrenbürgerschaft, die die Stadt dem siebzigjährigen Philosophen verliehen hatte, wieder aberkannt werden. Zwar wurde das Ansinnen von der Stadtverwaltung abgewehrt - HEDWIG MAUTHNER jedoch sah sich nun zum Austritt aus der Kirche veranlaßt.

Pikanterweise konnte sich "der Oberpriester jener Sekte, welche dort gewaltig das Land beherrscht"(7), bei seinen Vorhaben auf das gerade erschienene große Werk MAUTHNERs über den  Atheismus  und seine Geschichte im Abendlande stützen. An dessen vier Bänden, die MAUTHNER unter Aufbietung seiner Reserven zu vollenden noch vergönnt war, hatte sich die entsagungsvolle Mitarbeit HEDWIG MAUTHNERs ein letztes Mal bewiesen. Wie sehr der Tod des geliebten Mannes - er starb am 29. Juni 1923 - ihr seelisch und körperlich zusetzte, läßt ihr Brief, "aus dem so einsamen, armen Glaserhäusle" an MARTIN ANDERSEN-NEXÖ erkennen, zu dem sich seit Anfang 1921 eine enge Freundschaft entwickelt hatte:
    "Ich liege platt auf dem Boden u. sammle alle Kräfte um am Leben zu bleiben, weil FRITZ MAUTHNER mich darum bat um seiner Arbeit willen ... weil ich muß, werde ich's wohl auch können ..."(8)
Daß damit keineswegs nur eine momentane Stimmung bezeichnet war, geht aus späteren Äußerungen hervor: so lange MAUTHNER gelebt habe, habe er sie gebraucht, nun aber "braucht mich die Welt nicht mehr u. ich weiß auch nichts mit mir anzufangen."(9) schrieb sie 1928 an einen Freund; und 1930 bekannte sie:
"Wenn totale Lebensmüdigkeit eine Krankheit ist, dann bin ich eben ein sehr kranker Mensch. Da helfen alle guten Vorsätze nichts mehr."(10)
Und schon ein Jahr früher hatte sie einen Brief so geschlossen:
"... eigentlich bin ich ja auch gar nicht mehr da."(11)
Zum Verlust MAUTHNERs gesellte sich bald die Sorge um den Erhalt des Glaserhäusles und seiner wertvollen Bibliothek. Beide gedachte HEDWIG MAUTHNER, dem Wunsche ihres Mannes folgend, als Stiftung zu erhalten. Durch Vermittlung des Verlegers FELIX MEINER war sie jedoch an einen Hochstapler geraten, der versprach, das Anwesen samt einem auf dem Nachbargrundstück zu errichtenden "Studienhaus" als Stiftung seiner bereits bestehenden Akademie anzugliedern, und HEDWIG MAUTHNER, die damals wieder einmal sehr krank war, willigte gegen Zusicherung des Wohn- und Niesbrauchs auf Lebenszeit im Sommer 1924 in einen Vertrag ein, in dem sie Wohnhaus und Bibliothek an die Stiftung abtrat. Im Frühjahr 1926 stand das Glaserhäusle vor der Zwangsversteigerung. Sie konnte dank einem Leser der  Weltbühne  abgewendet werden, der sich bereiterklärt hatte, die von der Bank geforderte Summe zur Verfügung zu stellen(12).

Dem Glaserhäusle mußte HEDWIG MAUTHNERs Sorge auch weiterhin gelten. Als Freunde ihr im Frühjahr 1933 zu einer Reise nach Portofino verhalfen, besuchte sie im nahen Rapallo GERHART HAUPTMANN - mit dem MAUTHNER eine lange gegenseitige Hochschätzung verband - um ihm von einer abermaligen Gefährdung des Glaserhäusle zu berichten. HAUPTMANN beteiligte sich mit eintausend Mark an seiner Rettung und freute sich, MAUTHNER damit "einen winzigen Teil des Dankes abtragen zu können, den ich gern schulde, und Sie unbehelligt im doppelt historischen Glaserhäusle zu wissen. Das ist mir Lohn genug".(13) Im Dankbrief der Witwe hieß es:
"Daß ich Ihnen nichts anderes sagen kann, als das so oft gesagte: ich danke Ihnen, ist betrübend. Aber Sie kennen ja unser kleines Märchenhaus, nicht daß ich es lassen sollte war das Schwere, ich werde es ja doch bald verlassen, wenn ich endlich zur Ruhe gehen darf, daß es aber unter Spott und Verachtung als Judenhaus in Banausenhände kommen sollte, das machte mich elend. Nun glückt es mir dank Ihrer Hilfe und noch einiger Freunde FRITZ MAUTHNERs, es definitiv frei zu machen und es nun in sichere Hut zu geben. Auch wenn ich nicht mehr da bin, wird es bleiben als das, was es ist. ein Heim für Menschen, die in der Stille arbeiten wollen. ... Alles Gute und Herzliche Ihnen und den Ihrigen. ". HEDWIG MAUTHNER(14)
Es sind über diesen Brief hinaus bislang noch allzuwenige Zeugnisse aufgetaucht, aus denen sich ein genaueres Bild ihrer Situation in den dreißiger und vierziger Jahren ergibt. Persönlich war das Glaserhäusle für sie nach 1933
"bei dieser Geistesoede da draußen ... immer noch die sichere Insel, wenn auch manche Spritzer gelegentlich hereinschlagen u. Schmutzspuren zurücklassen ... Ich hätte nicht gedacht, daß ich einmal sagen würde: Wie gut, daß F.M. tot ist, nun denk ich's jeden Tag"(15);
literarisch verstummte sie mit dem Wegfall ihrer Publikationsmöglichkeiten bzw. dem Schreibverbot - "von wegen meiner Ehe".(16) Bis dahin hatte sie in den jährlichen Ausgaben des  Bodenseebuchs  fast regelmäßig Beiträge (so u.a.  Vom mystischen Weg und Irrweg, Die Araber in Algerien,  Die Droste in Meersburg) und "eine sehr nette Einnahme als Bücherkritiker in der Voss u. 2x monatlich irgend einen Essay".(17)

Ihre Lebensweise hat man sich recht zurückgezogen vorzustellen - doch "ein kleiner Kreis von Freunden sammelte sich regelmäßig um sie, in den letzten Jahren besonders eng verbunden, um die seelische Not angesichts der hereingebrochenen Barbarei zu überstehen".(18) Deren getreuester erstand ihr, und wer wollte hierin keine Ironie sehen, in WILHELM RESTLE, einem - Pfarrer. Der gebürtige Badener, der die Meersburger Pfarrei just in den Tagen von MAUTHNERs Tod übernommen hatte, war freilich alles andere als eine Durchschnittserscheinung. Über umfassende Bildung und profundes literarisches Wissen verfügend, war RESTLE mit Philosophen, Künstlern und Schriftstellern befreundet.
"Wie oft saßen wir bei ihm im Glaserhäusle ..., und blickten von dort über die Weinberge auf den See" -
mit diesen Worten sollte ERNST JÜNGER seiner in  Siebzig   verweht (19) einmal gedenken. Wo ihm Kleinkariertes begegnete, pflegte der Bienenfreund ins Idiom des Imkers auszuweichen und vom "badischen Maß" zu sprechen - einem
"Rähmchenmaß, das früher nur in Baden üblich war, das aber die Eigentümlichkeit hatte, kleiner zu sein als das Deutsche Normalmaß".(20)
So war es für RESTLE, der während seiner langen Meersburger Jahrzehnte einer der besten Kenner der DROSTE wurde, nur eine Frage der Zeit, bis er mit HEDWIG MAUTHNER näher bekannt wurde. 1928 erwarb er von ihr das Glaserhäusle - die Rückübertragung auf HEDWIG MAUTHNER war bereits im März 1926 erfolgt - und unterstützte sie in ihrer wirtschaftlichen Not in souveräner Weise gegen alle Gerüchte im Ort. Als HEDWIG MAUTHNER schließlich am 20. Juni 1945 in Gegenwart RESTLEs "vom Menschsein erlöst" wurde - es will scheinen, als hätten ihre Lebenskräfte eben noch ausgereicht, sie ans Ufer der nach-nazistischen Zeit zu tragen, mit deren Anbruch sie die endgültige Rettung des Glaserhäusle gesichert wähnen durfte -, verfaßte er für das  Bodenseebuch  den einzigen, indes besonders schönen und verständigen Nachruf.

Darin unterstrich er den Einfluß HEDWIG MAUTHNERs auf ihren Mann, der nicht weniger als den "mystischen Ausklang seines sonst so radikalen Skeptizismus von ihr empfangen" habe; erinnerte daran, daß sie einst einen Teil des Nachlasses von JOSEPH von LASSBERGs vor dem puren Unverstand gerettet hatte - der Nachlaßverwalter heizte 1914, nach dem Tod der letzten Zwillingstochter LASSBERGs
"die Oefen tagelang mit Papieren"; "selbst eine der ersten Abschriften des  Geistlichen Jahres  der DROSTE wurde dem Feuer entrissen" -
und legte für sie die Rolle einer Vestalin (Göttin des Herdfeuers) des Glaserhäusle nahe, wenn er schrieb
"Ihr letzter Wunsch war, das Glaserhäusle,  die Schenke am See,  in seiner Eigenart zu erhalten. Wie hätte sie sich gefreut, wenn sie noch hätte erfahren können, daß die Badische Regierung in Freiburg das Glaserhäusle wegen seienr hohen kulturellen Bedeutung unter besonderen Schutz genommen hat. Hier im Glaserhäusle ist nicht nur die große Dichterin Anette lebendig geblieben, ... hier waltet auch weiter HEDWIG MAUTHNER, die edle Frau mit dem scharfen Verstande und dem gütigen Herzen, die das einsame Häuschen zu dem machte, was es heute ist und bleiben soll, zu einer Insel des Friedens, zu einer Stätte geistiger Arbeit und Forschung."(21)
Aus heutiger Perspektive wäre hinzuzufügen: das Glaserhäusle ist auch der Ort, an dem aus HEDWIG MAUTHNER die Schriftstellerin HARRIET STRAUB wurde, an dem sie an der Seite FRITZ MAUTHNERs ein schmales, aber konzentriertes Werk schuf, über dem ein Satz aus ihren "Zerrissenen Briefen stehen könnte: "Ins Freie will ich."(22)
LITERATUR - Manfred Bosch, Harriet Straub / Hedwig Mauthner und das "Glaserhäusle" in Meersburg, Marbach am Neckar 1996
    Anmerkungen
    1) Berlin, Cassirer 1928, Seite 175
    2) Aus der Wüste in Zerrissene Briefe, Freiburg 1990, Seite 29
    3) Aus der Wüste in Zerrissene Briefe, Freiburg 1990, Seite 27
    4) Norbert Jacques, Am Bodensee. Konstanz o.J., Seite 213
    5) Zerrissene Briefe, Seite 31
    6) Zerrissene Briefe, Seite 76f, 68
    7) So nennt Otto Ehinger den Meersburger Pfarrer in seiner Mauthner-Erzählung  Der Weise und die Welt.  Wiederabgedruckt in O.E., Jurist, Schriftsteller, Bürgermeister - vor allem aber unabhängig. Ein Porträt von Manfred Bosch und Peter Salomon. Eggingen 1994, Seite 20
    8) Brief vom 6. 7. 1923. Nachlaß Martin Andersen-Nexö, Akademie der Künste, Berlin
    9) Brief vom 1. 7. 1928 aus der Mauthner-Sammlung von Joseph Kobl, Universitäts- und Landesbibliothek Münster
    10) Brief vom 5. 3. 1931 aus der Mauthner-Sammlung von Joseph Kobl, Universitäts- und Landesbibliothek Münster
    11) Brief vom 1. 7. 1930 aus der Mauthner-Sammlung von Joseph Kobl, Universitäts- und Landesbibliothek Münster
    12) Vgl. hierzu Weltbühne 22 (1926) Nr. 32 vom 10. 8., Seite 220f und die Zuschrift in Heft 34, Seite 316f vom 24. 8. desselben Jahrgangs
    13) Brief vom 18. 6. 1933, Briefnachlaß Gerhart Hauptmann, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz (Handschriftenabt.) Nr. 96/2005
    14) Brief vom 9. 6. 1933, Briefnachlaß Gerhart Hauptmann, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz (Handschriftenabt.) Nr. 96/2005
    15) Brief vom 20. 8.1934 an Kobl, aus der Mauthner-Sammlung von Joseph Kobl, Universitäts- und Landesbibliothek Münster
    16) Brief vom 20. 8.1934 an Kobl, aus der Mauthner-Sammlung von Joseph Kobl, Universitäts- und Landesbibliothek Münster
    17) Brief vom 20. 8.1934 an Kobl, aus der Mauthner-Sammlung von Joseph Kobl, Universitäts- und Landesbibliothek Münster
    18) MdG (i.e. Friedrich Mundig), Zum Andenken an Fr. Dr. Mauthner. In: Südkurier, 22. 6. 1946
    19) Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 2, Stuttgart 1981, Seite 613f
    20) Hubert Seemann, Wilhelm Restle. In: Necrologium Friburgense. In: Freiburger Diözesan-Archiv 102, 1982, Seite 241f
    21) Hedwig Mauthner. In: Das Bodenseebuch 1946, Zürich o.J. Seite 97f
    22) Hedwig Mauthner, Zerrissene Briefe, Freiburg/i.Br. 1996, Seite 93