Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion | |||
Ichgefühl I -37
Es ist bekannt, daß Kinder verhältnismäßig spät zum richtigen Gebrauch des Wortes "ich" gelangen. Man hat dafür törichterweise die Eltern und Ammen verantwortlich machen wollen, weil diese angeblich so kindisch sind, im Gespräche mit dem Kinde das "ich" nicht zu gebrauchen und statt dessen die Eigennamen - es sind Eigennamen für die Kinderstube - Papa, Mama u.s.w. anzuwenden. Eltern und Ammen jedoch können gar nicht anders, weil das Kind anfangs eben nur Eigennamen fassen kann und das Abstraktum Ich als die Bezeichnung für das jeweilig redende Subjekt gar nicht gebrauchen könnte. Das Gefühl seiner selbst hat aber das Kind - wie gesagt - schon lange vor dem Besitz dieses Abstraktums. Wenn Dorchen im letzten Viertel des dritten Jahres anfängt zu sagen: "ich will auf den Stuhl", so ist sein Ichgefühl nicht weiter entwickelt als zur Zeit, da es noch sagte "Dorchen - Tuhl". Es bleibe dahingestellt, ob das Ichgefühl nicht auch schon damals genügend entwickelt war, als es nur "trinken" sagen konnte und in seinem Egoismus sich selbst als das selbst verständliche Subjekt aller Äußerungen, als das Zentrum der Welt betrachtete. Die Frage nach der Entstehung des Ichgefühls ist viel schwieriger oder viel einfacher, wie man will. Es fragt sich, zu welcher Zeit das Kind zu der Vermutung komme (die unserer ererbten Weltanschauung eine Gewißheit scheint), daß sein Leib mit allen, seinen Empfindungen eine Einheit sei. Es gibt bekanntlich niedere Tiere, bei denen diese sozusagen seelische Einheit durchaus nicht angenommen werden kann. Auch beim neugeborenen Menschenkinde ist diese Einheit nicht vorhanden, weder als Selbstbewußtsein, noch als Ichgefühl, noch auch als bloßes Gemeingefühl. Bis weit ins erste halbe Lebensjahr hinein ist das Kind nicht darüber orientiert, daß alle seine Körperteile zu ihm gehören; und es ist wohl mehr als eine bloße Vermutung, daß die einheitliche Empfindung des Schmerzes erst dazu führt, den eigenen Körper begrifflich von der übrigen Welt zu trennen. Es ist bekannt, wie kleine Kinder Mühe haben, die Kenntnis ihres Körpers zu gewinnen. Wie etwa ein Monarch sein Land bereist, so erfährt das Kind nur durch Erfahrung, was es sein eigen nennen könne, d.h. was von seiner Haut umschlossen sei, und was der Außenwelt angehöre wie Kleider, Möbel u.s.w. PREYER hat darüber einige Beobachtungen mitgeteilt, die keines weiteren Beleges bedürfen. Das Kind betrachtet noch im fünften Monat seine eigenen Hände, als ob es neue Bekanntschaften wären; seine Füßchen entdeckt es gewissermaßen im achten Monate und sucht sie noch später wie andere fremde, weiche Körper in seinen Mund zu stecken; im ersten Viertel des zweiten Lebensjahres noch spielt die eine Hand des Kindes mit der anderen wie mit einem fremden Gegenstande und sucht z.B. die Finger auszureißen, wie es ein Papier zerreißt oder wie es an den Fingern eines Handschuhs zieht. Auf das Benehmen des Kindes einem Spiegel gegenüber lege ich freilich gar kein Gewicht: der Gebrauch dieses Luxusgegenstandes wird spät erlernt, wie auch die Urmenschheit endlose Zeiträume auf Erden leben konnte, bevor sie zum Verständnis der natürlichen Spiegelung gelangte, bevor irgend ein Mensch auf der ganzen Erde wußte, wie er selbst aussah, bevor er sein äußeres Ich kannte. Sehr charakteristisch aber ist es, daß ein Kind von fast zwei Jahren ein Stückchen Zwieback, wie es das sonst den Erwachsenen in den Mund zu schieben pflegte, seinen eigenen Zehen zu essen gab. Natürlich wirkt phantastisches Spiel dabei mit, wie wenn das Kind dasselbe Stückchen Zwieback einem hölzernen Pferdchen ans Maul hält. Aber das Kind würde nicht so spielen, wenn es schon begriffen hätte, daß sein Mund und seine Füße einen gemeinsamen Magen haben. Die Erlernung des Wörtchens ich und seines richtigen Gebrauchs bildet also durchaus keine Epoche in der Entwicklung des Kindes. Ein römischer oder griechischer Psychologe hätte gar nicht nötig gehabt, darauf zu achten, weil das römische oder griechische Kind noch nicht nötig hatte, z.B. " ich hungere" zu sagen. "Ich" wurde mit esurio mitverstanden; die tonlose Endsilbe "o" deutete das Ichgefühl ebenso an wie bei uns die tonlose Vorsilbe "ich". Der Gebrauch des Wörtchens ich bei unseren Kindern ist nicht mehr als die richtige Erlernung irgend einer anderen tonlosen Vorsilbe. Das Ichgefühl bei "trinken" des zweijährigen und bei "ich will trinken" des dreijährigen ist kaum verschieden, so wenig verschieden wie das Raumgefühl bei dem "Tuhl" des zweijährigen und "auf den Stuhl" des Dreijährigen. Eine Epoche in der Entwicklung des Kindes wäre es, wenn es plötzlich zu der Entdeckung seiner Körpereinheit käme. Aber diese Entdeckung, diese Forschungsreise dauert sehr lange. Das Kind schlägt gegen sein Köpfchen und macht die Erfahrung, daß das Köpfchen sein sei; sonst würde der Schlag nicht ihm weh tun. Das Kind beißt sich (im Anfange des zweiten Lebensjahres) in seinen eigenen Arm und erfährt, daß das kein fremdes Stück Fleisch sei. Das Kind betrachtet strampelnde Beinchen und mag durch eine Koordination von Raumgefühlen, Gesichtseindrücken, Tastempfindungen und Bewegungsgefühlen, also durch eine höchst komplizierte Geistesarbeit zu dem sehr interessanten Ergebnis kommen, das noch gar kein Gedanke ist, sondern nur eine unendlich wichtige Tatsache: diese Beinchen gehören zu mir, diese Beinchen bin ich auch noch. Das Kind erobert sich die Kenntnis seines Ich langsam mit dem Gebrauche seiner Glieder. Der sprachliche Ausdruck, daß das Individuum sein Ich langsam durch Erfahrung erst erobere, führt aber wieder einmal zu einem unvorstellbaren Begriff. Denn Individuum und Ich sind ein und dasselbe. Es wäre sinnlos, zu sagen: das Individuum erobert sich seine Individualität. Hier aber verläßt uns mit dem Worte auch der Gedanke. Nehmen wir nicht mit der alten Psychologie in jedem Menschen eine einheitliche Zentralseele an, die den Körper beherrscht, - und diese Annahme enthält für uns ganz theologische, unkontrollierbare, unbewiesene und unfaßbare Begriffe - so müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß auch das Ichgefühl nur eine Täuschung sei, in uns entstanden als Reflex irgend einer uns gänzlich unbekannten Lebenseinheit, wie unsere Gesichts- und Gehörseindrücke, kurz alle Sinneseindrücke, am Ende aller Enden nur normale Sinnestäuschungen sind, Reflexe von irgend welchen Tatsachen, die wir heute als Bewegungen erklären. MEISTER ECKHART hat es längst gelehrt: die Seele weiß sich selber nicht. Und frei von jeder Mystik hat uns MACH (Analyse der Empfindungen) gelehrt: die Beständigkeit des Ich bestehe nur in der Kontinuität, das Ich sei eine denkökonomische Einheit, habe nur praktische Bedeutung, sei nicht das Primäre. Ich verzichte auf die Sprache der Mystik und des Materialismus, sehe diesem Problem starr ins Gesicht und erblicke die Möglichkeit, die subjektive Gewißheit: das Ichgefühl ist eine Täuschung, ist die Täuschung der Täuschungen. Ist aber das Ichgefühl, ist die Individualität eine Lebenstäuschung, dann bebt der Boden, auf welchem wir stehen, und die letzte Hoffnung auf eine Spur von Welterkenntnis bricht zusammen. Was wir irgend von der Welt wissen können, war uns zu einer übersichtlichen Summe der vom Individuum ererbten und erworbenen Erfahrungen zusammengeschmolzen; unsere Kenntnis von der objektiven Welt war zu einem subjektiven Bilde unserer Zufallssinne geworden. Jetzt schwindet auch das Subjekt, es versinkt hinter dem Objekt, und wir sehen keinen Unterschied mehr zwischen dem philosophischen Streben menschlicher Jahrtausende und dem Traumdasein einer Amöbe. Auch der Begriff der Individualität ist zu einer sprachlichen Abstraktion ohne vorstellbaren Inhalt geworden. Ganz von ferne nur leuchtet ein unsicherer Schimmer in diesen Abgrund hinein: Die Tatsache, daß es einen Verlaß gibt auf das bißchen Welterkenntnis, das wir haben, daß also in der Wirklichkeitswelt etwas existiert, was wir eine Einheit nennen können. Wäre das nicht der Fall, so müßte jedes Kind auf seine eigenen Erfahrungen angewiesen bleiben und sich jedes Kind diese eigenen Erfahrungen mit Hilfe seiner individuellen Ursprache merken. Es gäbe dann kein überliefertes Wissen. Man könnte das Kind nichts lehren. Es gibt aber ein Gedächtnis der Menschheit, das ist die überlieferte Sprache oder Weltanschauung, wie es in der Natur das andere Gedächtnis gibt, welches Vererbung heißt und unter anderem unseren Organismus bildet. Wie es Keimzellen gibt, aus welchen die Organismen sich so entwickeln, wie wir es von ihnen erwartet haben, so gibt es auch im Gehirn ererbte Anlagen, die sich - wie man zu sagen pflegt - gesetzmäßig entwickeln. Man stoße sich nicht an dem Worte "ererbte Anlagen". Es kann kein Zweifel sein, daß eine Kontinuation vorhanden ist, ein Gedächtnis dessen, was wir Materie nennen. Dazu kommt dann, daß offenbar in allen Menschenköpfen, veranlaßt durch die ererbte Ähnlichkeit der Zufallssinne, ein ähnliches Weltbild vorhanden ist. Es ist also in dem empfangenden Organ der Kinder etwas Gemeinsames, wie es etwas Gemeinsames gibt in dem Erfahrungsstoff der Lehrenden. Dadurch ist es möglich, daß - was alltäglich geschieht dem Kinde Begriffe oder Worte beigebracht werden, die es vorläufiig nicht versteht und die dennoch später auf die Wirklichkeitswelt á peu prés passen. Wollte man den Kindern zuerst das Addieren begreiflich machen und sie es dann einüben lassen, sie könnten niemals das Addieren erlernen. Das Lernen der Kinder erfolgt anders. Die Erwachsenen sagen ihnen so lange "1 + 1 = 2", bis sie nach langem mechanischem Nachplappern plötzlich etwa im fünften Lebensjahre entdecken: was für eine merkwürdige Geistestat sie vollführt haben; wodurch sich die Einheit von der Zweiheit unterscheidet. Bevor sie diese unverstandenen Begriffe praktisch anwenden konnten, war ihnen der Satz 1 + 1 = 2 ein sinnloses Dogma wie die Lehre vom lieben Gott. Nur daß auf die Wirklichkeitswelt nicht paßt, was sie in der Religionsstunde gelernt haben; daß dagegen die Lehren der Rechenstunde niemals von der Wirklichkeit dementiert werden. Die kühne Abstraktion "Einheit" erweist sich als wertvoll, weil während eines langen Lebens jede Probe auf diesen Begriff ohne Fehler aufgeht. Es ist, wie wir eben aus einer kühnen etymologischen Hypothese haben lernen können, vielleicht doch kein bloßer Zufall, daß der Grundbegriff alles Rechnens und das Geheimnis der Individualität mit dem gleichen Worte "Einheit" ausgedrückt wird. Aber auch der Begriff der organischen Einheit, des Ichs, erhält einen Wert dadurch, daß er sich in der Probe des Lebens bewährt. Es muß eine Einheit in unserem Gedächtnis geben und es muß eine Einheit in der Wirklichkeitswelt geben, sonst könnten diese beiden Kontinuationen nicht zueinander passen, sonst könnte niemals eintreffen, was wir erwarten, sonst würde morgen nicht die Sonne aufgehen. Und noch mehr: die Probe auf die Wirklichkeitswelt könnte nicht stimmen, wenn es nicht noch eine höhere Einheit gäbe, die zugleich mein Gedächtnis, d.h. mein Ich, und meine Wirklichkeitswelt umfaßte. Worin diese Einheit besteht, können wir nicht einmal ahnen. Sie ist nur ein schöner Schein, sie ist nur ein Reflex, aber sie ist ein Reflex von irgend einer Tatsache. Alles hat für uns eine Ursache; auch dem schönen Scheine der Individualität muß - wir können nicht anders denken - eine Ursache zu Grunde liegen. Der schöne Schein der, Individualität oder des Ichs ist das Leben. Es endet freilich mit dem Tode. Doch nur ein Narr klagt darüber, jeder Mensch also. Denn wir sprechen eigentlich nur Worte, wenn wir lächelnd sagen : Wir haben genug am Scheine des Lebens, weil wir nicht mehr sind, wenn wir tot sind. Und dennoch müssen wir uns an eine philosophische Resignation gewöhnen. Solange wir leben, ist der schöne Schein des Ichgefühls, der Lebenseinheit und gar der schönere Schein einer Einheit zwischen dem Ich und der Wirklichkeit eine Freude, die stachelnde Freude am Schein einer Erkenntnis. Auch diese Freude ist eine Tatsache. Wenn der Araber verschmachtend durch die Wüste zieht und die Fata Morgana ihm eine Oase zeigt mit grünen Palmen, so ist doch selbst das Trugbild eine Tatsache und ebenso seine Freude daran. Sinkt er dann vor dem Abend sterbend hin, so mag er, wenn er ein Philosoph ist, lächelnd ausrufen: "Nur mein Ich wurde getäuscht! Was liegt daran? Irgendwo, irgendwo ist doch eine Ursache meiner Oase und meiner grünen Palmen." Bei abstrakten Worten, wie Bewußtsein, Seele, Gedächtnis, Individuum, wenn sie eine Vergangenheit von Jahrhunderten oder von Jahrtausenden haben, glaubt jeder, sich was denken zu können, oder gar zu müssen; und die Kritik der Sprache hat die schwere und gewöhnlich unlösbare Aufgabe, dem Besitzer der schönen Worte zu beweisen, daß er an ihnen nichts besitze. Kommt aber ein solches Wort erst neu auf, wie das Doppel-Ich, so kommt der Kritiker wieder in den Verdacht, nicht einmal die kleine Beobachtung zu verstehen, auf Grund deren das neue Wort erfunden worden ist. Das Doppel-Ich bedeutet den Gegensatz von Individuum, also ein Dividuum: einen Menschen mit zwei Köpfen, siamesische Zwillinge. Etwa der erwähnte dikephale Mensch DIDEROTs. Und da man aus pathologischen Zuständen gern allgemeine Schlüsse zieht, so kommt man zum Ergebnis, daß jedes Individuum ein Dividuum sei, daß wir alle alternierendes Bewußtsein, zwei Köpfe u.s.w. hätten. Das frappanteste Beispiel, das jeder von uns an sich selbst erfahren hat und das freilich gar nicht nach Spukgeschichten aussieht, ist folgendes: Wer mit Unterbrechungen einen langen Roman liest, vergißt während des Lesens alles um sich her und lebt als Zuschauer jedesmal während des Lesens mit den Romanfiguren. Er verliert vorübergehend das Gedächtnis für alles andere und gewinnt, indem er das Buch am nächsten Tage wieder zur Hand nimmt, jedesmal ein Gedächtnis für die Welt des Romans, das ihn wiederum während seiner Tagesgeschäfte verlassen hat. Solange der Mensch aber nicht verrückt ist, wird er nach Beendigung des Romans mit diesem Nebengedächtnis Schicht machen, und sein gewöhnliches Bewußtsein wird nur noch mehr oder weniger Spuren der ganzen Lektüre zurückbehalten. Der Begriff des Doppel-Ich ist gepfropft auf den Begriff des Ich. Habe ich nun recht mit meiner Anschauung, daß Selbstbewußtsein ein leerer Pleonasmus sei, daß Bewußtsein nichts weiter sei als Gedächtnis, und Gedächtnis wieder nichts weiter als die Empfindlichmachung abgeschwächter Gehirnreize durch starke, neue, insbesondere durch die gemeinsamen Wortzeichen der alten und der neuen Reize, habe ich recht mit der Anschauung, daß der Ichbegriff nichts weiter sei als das Gefühl des Gedächtnisses, daß dieses Ichgefühl also nichts Konstantes sei, sondern in jedem Augenblick ein anderes Gedächtnisgefühl und nur darum scheinbar zusammenhängend, weil ununterbrochen neue Gehirnreize entstehen, von denen fast jeder, oder vielleicht jeder Assoziationen des sogenannten Gedächtnisses weckt: habe ich recht mit der Anschauung, daß das Ich ein leeres Wort sei, so ist der Begriff Doppel-Ich leer in zweiter Potenz. Wenn gute Beobachter nun berichten, daß es Krankheitsfälle gebe, in denen das Gedächtnis für eine Gruppe von Assoziationen die Leitungsfäden mit den übrigen durch Zerreißung verloren habe, so will ich das gerne glauben. Es gibt auch Magenfisteln. Es gibt auch wandernde Nieren und andere Scheußlichkeiten in der Natur. Wer aber auf das leere Wort Doppel-Ich einen neuen Mystizismus aufbauen wollte, der wäre ein unklarer Kopf oder ein Betrüger, oder endlich ein betrogener Betrüger. Denn darin liegt die größte Gefahr des Mystizismus, wie er sich jetzt besonders als Spiritismus breit macht, daß er mit einem blödsininigen Wortfetisch da Antwort geben zu können glaubt, wo der ganz moderne Mensch an den Grenzen der hilflosen Wissenschaft neue Fragen stellt. Was wirklich gewußt wird, ist sprachlichen Ausdrucks fähig. An den Grenzen der Wissenschaft stehen stumme Fragen; mit Worten zu antworten, ist Pfaffengeschwätz. Wer seinen Glauben verloren hat und sich nicht anders zu helfen weiß, als daß er eine neue Religion annimmt, der hat die Götter und die Pfaffen gewechselt, ist aber nicht weiter gekommen; so wenig wie ein Denker, der in seiner Muttersprache nicht mehr weiter kann, dadurch hinüberdringt, daß er eine fremde Sprache lernt. An anderer Stelle habe ich ausgeführt, daß nur der Wahnsinnige einen wirklich freien Willen habe, d.h. daß nur bei dem Wahnsinnigen der momentane Reiz stärker sei als das Bewußtsein oder das Ich oder die Erinnerung an die bösen Folgen von Handlungen, die auf ähnliche Reize folgten. Die Freiheit des Wahnsinnigen verträgt sich sehr gut damit, daß nur der Wahnsinnige ein doppeltes Ich besitzen könne. Das Ich ist als Wirklichkeitsvorstellung eine Täuschung der Sprache, eine Selbsttäuschung, als Ichgefühl ist es jedoch eine Wirklichkeit, und zwar bekanntlich eine sehr wirksame Wirklichkeit. Die natürlichste Folge dieses praktischen Ichgefühls ist der gemeine oder praktische Egoismus, der auch schon in seiner äußersten Konsequenz Solipsismus genannt worden ist. Häufiger nimmt man den Solipsismus für den theoretischen Egoismus, ja eigentlich für einen erkenntnistheoretischen Egoismus in Anspruch, auf den sich dann freilich das Handeln des praktischen Egoisten sehr bequem begründen ließe; nur daß der gemeine Eigennutz kaum jemals einen solchen Umweg gemacht hat. Der erkenntnistheoretische Egoismus ist als Möglichkeit einer Weltanschauung von jeher in einzelnen Köpfen aufgetaucht. Seit SCHOPENHAUER wird häufig ein Wort indischer Weisheit zitiert: "Alle diese Geschöpfe bin ich ganz und gar, und außer mir existiert kein anderes Wesen, und ich habe alles Geschaffene gemacht." Es ist nur schwer, sich mit toten Sprachen auseinanderzusetzen. Dieser krasseste Ausdruck des theoretischen Egoismus ist nämlich dem schärfsten Ausdrucke des allliebenden Altruismus nahe verwandt, wie er uns in dem berühmten Tat twam asi der Inder und in dem seligen Pantheismus der deutschen Mystiker aus dem Mittelalter vorliegt. Der Solipsismus, das ist die Behauptung oder das Gefühl eines Individuums, sein Ich allein sei wirklich, alle seine übrigen Vorstellungen seien eben nur Vorstellungen, also unwirkliche Träumereien - dieser Solipsismus ist einerseits logisch unwiderlegbar, anderseits verrückt, denn nicht einmal zur Prüfung alles Verrückten taugt die Logik. Darin aber erweist sich der Solipsismus als ein bloßes Wort, das will sagen als eine uneinlösbare Spielmarke, daß er nicht einmal ein Urteil gestattet über denjenigen, der dieses Wort zu seinem obersten Gott gemacht hat. Denn der Solipsismus kann ebensogut (wie bei BERKELEY) die theoretisch-idealistische Weltanschauung eines frommen Mannes sein, der nur so die ketzerischen Sinneseindrücke und die aus ihnen folgenden atheistischen Wissenschaften bekämpfen zu können glaubt, als er auch (wie bei STIRNER) die halb lachende, halb weinende Skepsis eines Verzweifelten darstellen kann, dessen praktischer Idealismus die Bestien seiner Sinne gern los werden möchte. Bleibt schließlich noch der Solipsismus als unbewußte Weltanschauung des ruchlosen Egoisten, vom gemeinen Mörder bis zum Wucherer, der ganz und gar Sklave seiner Sinne ist, ihren Mitteilungen theoretisch vollkommen vertraut, insofern er seine Opfer für etwas Wirkliches nimmt, praktisch aber, d.h. ethisch, wirklich nichts weiter auf der Welt kennt als sein Ich allein. Hätten der gute Bischof BERKELEY und der Bombenwerfer HENRY beide nicht reden gelernt, sie wären stark entwickelte Gegensätze; das Wort Solipsismus und andere Worte, die besonders NIETZSCHE in geistreiche Formeln gebracht hat, verbinden HENRY und BERKELEY mit anderen zu einer kleinen Gruppe von sogenannten Gleichgesinnten, d.h. von gleich Redenden, von Anbetern der gleichen Wortfetische. Denn alle diese Wortgebäude von Solipsismus und dergleichen wären nicht möglich gewesen, wenn die Sprache nicht vorher in ihren grammatischen Kategorien das Ich geschaffen hätte. Kaum daß man angefangen hatte, sprachlich gesprochen die erste Person des Fürworts in ein Substantiv zu verwandeln, das Ich zu analysieren, da machte man die Entdeckung, wir seien einzig und allein unseres subjektiven Ichs gewiß, dieses Ich sei die alleinige Quelle aller Erkenntnis, und die Welt sei lange nicht so handgreiflich, wie man früher wohl geglaubt hatte. Die Engländer untersuchten sehr gewissenhaft dieses subjektive Ich, und in Deutschland wurden Systeme daraus gesponnen. Bei KANT wurde die objektive Welt zur großen Unbekannten, zum Ding-an-sich, zu x; bei SCHOPENHAUER gar wurde die Wirklichkeit zur bloßen Vorstellung des Willens, als den das Ich sich selbst (womit?) erkannt hatte. Von einem Nebengeleise dieser Kopfstation ging dann das mystische Ich hervor, die große unbewußte Mystifikation des prächtigen FICHTE, die sich - wie gesagt - schließlich in STIRNER und neuerdings in NIETZSCHE auf den Hohepriesterstuhl der Ethik setzte, was einer richtigen Mystifikation gar nicht übel zu nehmen ist. Gegenwärtig ist von allen diesen Solipsismen (es gibt also eine Mehrzahl von "Einzigen") nur die anarchische Lehre STIRNERs etwa wirksam. Der Gedankengang war eigentlich naiv. Wir kennen die Welt nicht, jedermann kennt nur sein eigenes Ich. Man hat bisher die Regeln seines Handelns der Welt entnommen, man muß die Regeln fortan aus seinem Ich schöpfen. Es ist, als ob Robinson Crusoe aus seinen Hamburger Kindererinnerungen ein Gesetzbuch für seine unbewohnte Insel zusammenstellen wollte. Personenrecht, Sachenrecht, Strafrecht und Staatsrecht, alles für den Einzigen und sein Eigentum zugeschnitten. Diese Entwicklung war durch das Wesen der Sprache gegeben. Der Einzige, d.h. jeder einzelne Mensch steht in jedem einzelnen Augenblicke mit der Welt nur durch seine auf die Zukunft gerichteten Zwecke und durch seine auf die Vergangenheit gerichteten Erinnerungen in Verbindung. Die Gegenwart ist der tote Punkt, den er immer nur überwindet, um ihn zu fliehen. Die zukünftigen Zwecke bestimmen sein Handeln und lassen auf seinen Charakter schließen; zu seinem Ich gehören sie so wenig, wie der Hase zum Ich des Hundes gehört, der ihm nachjagt. Die Ziele sind Phantasievorstellungen. Die anderen Vorstellungen, die Erinnerungen, würden zum Ich gehören, wenn sie alle zugleich gegenwärtig wären und wenn sich aus ihnen sein Wesen zusammenfügte, wie Tausende von Strichen sich zu einem Bilde verbinden. So ist es aber nicht. Auch das reichste Gehirn ist nur in der Lage des Burschen aus dem Märchen, dem verliehen worden ist, einen Taler zu finden, so oft er die Hand in den Sack steckt. Er wird dadurch ähnlich gestellt wie ein reicher Mann, aber der Reichtum ist niemals da. So hat der Mensch die Fähigkeit, jederzeit ein Wertstück aus seinem Gedächtnis mit geistigen Händen zu fassen, aber niemals sieht er etwas anderes als dieses eine. Sein berühmtes Bewußtsein, d.h. sein Gedächtnis ist für alles andere als dieses eine so blind, wie seine Augen es für seinen Rücken sind. In der menschlichen Sprache nun wird die menschliche Erinnerung, die ererbte und die erworbene, haufenweise geordnet. Man kann wohl sagen, daß die Sprache nicht etwa die Küchenabfälle, sondern recht eigentlich die Exkremente der Menschheit darstellt. Die lebendige Anschauung muß sterben, muß verdaut und verbraucht werden, damit ihre Reste zum Begriff und zum Worte werden. Ein ungeheurer Berg solcher Exkremente ist die Sprache, ein babylonischer Turm von Abfallstoffen, der auch wohl bis in den Himmel hineingewachsen wäre, wenn nicht auch Fäkalien schließlich noch ihre Abnehmer fänden und verschwänden. Wenn nun ein tiefsinniger Naturforscher behaupten wollte, die Exkremente seien die wirkliche Welt, alles übrige sei das Produkt der Exkremente, so wäre er ein ebenso tiefer Denker wie die Philosophen, welche bei der Durchforschung des Ichs nichts weiter sahen als die Exkremente des Gehirns, die Begriffe und Worte, mit Händen und Füßen auf diesen Worten hinaufkeuchten und endlich wie Hähne auf dem Mist zu krähen anfingen: Nichts als Worte sind im Ich. Was ist nun das Ich? Ist es physisch oder psychisch? Physisch nicht; denn das, was an meinem Ich mehreren Subjekten, den Mitmenschen erfahrbar ist, das ist ja gerade nicht mein Ich, sondern nur der Leib, den auch ich sehen kann. Psychisch nicht; denn mir als dem einzigen Subjekt ist mein Ich nur erfahrbar, wenn ich es für psychologische Zwecke postuliert habe, nicht im eigentlichen, psychologiefreien Leben. So finde ich mein Ich nur zweimal,
Sucht man aber das Verhältnis des einzelnen Menschen zur Welt ohne Worte zu begfeifen, ohne Begriffe zu begreifen, wagt man es, das Gleichgewicht zu behalten, wenn man über die fadendünne Brücke ohne die Balancierstange der Sprache hinübergeht, unternimmt man es, diese schwerfällige Balancierstange den Leuten unten an die Köpfe zu werfen ... eigentlich müßte man verstummen. Aber ein Bild der Welt zeigt sich, wenn die trüben Begriffe der Sprache erst beseitigt sind. Mit dem alten Ich ist nichts anzufangen. Das angeblich so wohlbekannte subjektive Ich ist nicht mehr als ein Windhauch, der mit einem meiner Wimperhaare spielt in diesem Augenblick. Objektiv sehe ich mein Ich, wie ich die Welt sehe, und wie ich meinen Fingernagel sehe, wenn ich ihn schneide. Ich bin auch nicht allein, ich bin nicht der Einzige. Die Welt sieht mein Ich, mein objektives Ich, und rechnet damit und stößt es dahin und dorthin. Ich will (einerlei ob mein Wille Schein oder Wirklichkeit ist), ich will gar sehr. Aber ich kann nicht, wie ich will. Ach nein! Das andere leitet meinen Weg, unbarmherzig, in das Leben und in den Tod. In unabsehbarer Länge ziehen sich die Kettenfäden der Welt anders für jeden einzelnen Menschen hin in der Richtung des Endes, des Todes; das objektive Ich zieht mit seinem schnellen Schiffchen als Einschlag durch die Kette hin und her und wirkt das Gewebe, und der Windhauch des Augenblicks, der jetzt und immer mit meinen Wimpern spielt, läßt mich jetzt und immer im Lichtschein des Moments die bunten Blumen des Bewußtseins auf dem weißen Gewebe täuschend erblicken. Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906 |