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WALTER ESCHENBACH
Fritz Mauthner und die
Sprachkrise der Jahrhundertwende

I I I

Das Problem der Abstraktion
Das Problem der Geschichtlichkeit
Sprache und Denken
Die Kommunikationskrise
Überwindung der Sprachkrise
Wirkungsgeschichte Mauthners
Sprachkritik als Welle der Verzweiflung ... als jene Seelenverfassung, die sich ergeben hatte, weil nicht die Wahrheit, sondern Technik das Ergebnis des wissenschaftlichen Geistes gewesen war.

MAUTHNERs Sprach- und Erkenntniskritik mit ihren drei aufgezeigten Grundkomponenten der Aufdeckung der Ich-Fiktion, der Reduktion der sprachlichen Wahrheit auf ihre anthropomorphische Funktion und der Einschränkung menschlicher Erkenntnisse auf die Sinneswahrnehmungen gibt annähernd die Hauptideen des Empiriokritizismus seiner Zeit wieder, wie sie in einer neueren Studie charakterisiert worden sind:
    "erstens: die philosophische Destruktion des Subjekts; zweitens: das biologische und praktische Verständnis der kognitiven Funktionen, die Reduktion des intellektuellen Verhaltens auf rein organische Bedürfnisse und der Verzicht auf  Wahrheit  im transzendentalen Sinn; drittens: der Wunsch, zum originären Konkretum in der Gesamtheit der menschlichen Gegebenheiten zurückzufinden zur  natürlichen  und nicht durch metaphysische Fiktionen vermittelten Welt"(61).
Es ist deshalb auch nicht sehr verwunderlich, daß wir bei ERNST MACH, einem Hauptvertreter dieser Denkrichtung, bereits deutliche Ansätze zu einer Sprachkritik im Sinne MAUTHNERs antreffen.

Selbst die wissenschaftliche Begrifflichkeit unterzieht MACH der Sprachkritik:
    "Wenn Begriffe keine bloßen Worte sind, sondern ihre Wurzeln in den Tatsachen haben, muß man sich doch hüten, Begriffe und Tatsachen für gleichwertig zu halten, dieselben miteinander zu verwechseln"(62).
Dennoch bleibt MACHs Einschätzung der Sprache im Vergleich zur Haltung MAUTHNERs ausgewogener und auch überzeugender, weil er der Gefahr und den Nachteilen der sprachlichen Begrifflichkeit deren Nutzen und Notwendigkeit deutlich gegenüberstellt.
    "Der Besitzer eines reich gegliederten, seinen Interessen Rechnung tragenden Begriffssystems, das er durch Sprache, Erziehung und Unterricht sich zu eigen gemacht hat, erfreut sich großer Vorteile gegenüber dem auf bloße Wahrnehmungen Angewiesenen. Wem aber die Fähigkeit fehlen würde, sinnliche Vorstellungen rasch und geläufig in Begriffe umzusetzen und umgekehrt, der könnte gelegentlich auch durch seine Begriffe irregeführt werden; dieselben könnten dann für ihn zu einer bloßen Belastung mit Vorurteilen werden"(63).
Schließlich kann MACH sogar - im Gegensatz zu MAUTHNER - folgendes Sprachlob aussprechen:
    "Die wunderbarste Ökonomie der Mitteilung liegt in der Sprache. (...) Mosaikartig setzt die Sprache und das mit ihr in Wechselbeziehung stehende begriffliche Denken, das Wichtigste fixierend, das Gleichgültige übersehend, die starren Bilder der flüssigen Welt zusammen, mit einem Opfer an Genauigkeit und Treue zwar, dafür aber mit Ersparnis an Mitteln und Arbeit"(64).
Hier wird MAUTHNERs Richtung einer ausschließlichen Sprachkritik durch eine entgegengesetzte Haltung der Hochschätzung der Sprache zugleich relativiert und ergänzt. Der MACHsche Sprachbegriff wird dadurch der Ambivalenz des Sprachlichen innerhalb des Erkenntnisprozesses mehr gerecht als MAUTHNERs totaler Skeptizismus.

Der pragmatische Gesichtspunkt, den MAUTHNER eher als ein Zeichen der Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit der Sprache ansieht, rückt bei MACH, wie ganz allgemein im positivistischen Sprachbewußtsein, als ein aufwertendes Element in den Vordergrund der Sprachbetrachtung. Es handelt sich dabei um das sogenannte "Ökonomieprinzip", in dem die Sprache einen herausragenden Platz einnimmt.
    "Faktisch ist der Dingbegriff nützlich, sofern er in abgekürzter Form bestimmte wiederholbare Eigenschaften festhält, die in einer beliebigen Serie sukzessiver Erfahrungen sich zeigen; es besteht demnach keine Veranlassung, auf den traditionellen Sprachgebrauch zu verzichten, man muß lediglich die Wörter von ihrem metaphysischen Sinn befreien, der ihnen zugeschrieben zu werden pflegt, denn dieser läßt sich durch kein reales Bedürfnis des erkennende Organismus rechtfertigen"(65).
MACH geht sogar an einer Stelle so weit, daß er geradezu das Ziel der Naturwissenschaft in dem "sparsamsten, einfachsten begrifflichen Ausdruck der Tatsachen" erkennt(66).

Dieses "ökonomische Prinzip" der Sprache, das im positivistischen Denken zu einer positiven Verbindung zwischen Sprache und Naturwissenschaft führen konnte, war MAUTHNER natürlich keineswegs unbekannt. Auch die MAUTHNERsche Sprachkritik betonte, wie MACH und dessen Schule, neben der Relativität aller Erkenntnis die ökonomische Natur der Wissenschaft; nur verhalf diese Einsicht bei ihm noch keineswegs zu einer Aufwertung der Sprache als Erkenntniswerkzeug.

MAUTHNER hat die relative Nützlichkeit der Sprache, ihren Zweck und ihre Notwendigkeit, eher hervorgehoben als abgestritten. Die Sprache sei "wesentlich eine nützliche Erfindung"(67), die Worte "entsprechen immer unserer Bequemlichkeit oder unseren Zwecken"(68). MAUTHNER verweist aber auch darauf, daß über den Nutzen der Sprache bereits hinlänglich und ausführlich geschrieben worden sei.
    "Man muß den Nutzen der Sprache beinahe leidenschaftlich gepriesen, aber doch nur in ähnlicher Weise wie etwa den Nutzen des Feuers oder den Nutzen des aufrechten Ganges. (...) Diese Ähnlichkeit der SPrache mit anderen praktischen menschlichen  Erfindungen  verrät sich schon darin, daß man eben immer von dem  Nutzen  der Sprache redet und nur in besonders begeisterten Augenblicken von ihrem selbständigen Wert, von ihr als göttlichem Attribut gewissermaßen"(69)
MAUTHNERs Sprachkritik übersah also den pragmatischen Ansatz einer Sprachbetrachtung keineswegs; aber sie begnügte sich nicht damit "Den unreinen, den gemeinen Nutzen der menschlichen Sprache wird  niemand  leugnen"(70). Während MACHs Positivismus diese Einschränkung als selbstverständlich erachtete, da für ihn das gesamte wissenschaftliche Erkenntnisstreben durch die "ökonomische Relativierung" vorbestimmt war, deutet sich hinter MAUTHNERs Skeptizismus die Vorstellung eines Sprach- und Erkenntnisbegriffes an, die aber das rein positivistische Zweck- und Nützlichkeitsdenken weit hinausreichte. Seine Sprachkritik ging von einer erhöhten Spracherwartung aus, die durch die konventionelle positivistische Sprachauffassung nicht mehr zufriedengestellt werden konnte.

Dieses "Mehr" an Erkenntnisstreben unterschied ihn auch - bei weitgehender Übereinstimmung im Grundsätzlichen - von einer zweiten Denkrichtung, die für die Kennzeichnung der Epoche um die Jahrhundertwende sehr wichtig ist, dem sogenannten "Fiktionalismus". KARL EIBL zitiert in seinem Buch über GUSTAV SACK eine Stelle aus einem Hauptwerk dieser Denkrichtung, die weitläufige Erklärungen überflüssig mache:
    "Das  Denken fingiert ein Ding,  dem es seine Empfindungen als Eigenschaften anhängt;  mit Hilfe dieser Fiktion  arbeitet es sich heraus aus dem Meer der anstürmenden Empfindungen (...). Und diese Aufstellung des Dinges wäre nie mögliche gewesen ohne Mithilfe der Sprache, welche für das Ding ein Wort hergibt, und welche Eigenschaften besondere Namen gibt. An das Wort heftet sich nun jener Wahn, es gäbe ein Ding, welches Eigenschaften habe: das Wort gestattet die Fixierung des Irrtums"(71).
VAIHINGER vertritt nun jedoch ebenfalls jenes Zweckdenken, das der MACHschen Denkökonomie eigen war: " Der erste Zweck des logischen Denkens ist ein praktischer , die logische Funktion dient der Selbsterhaltung"(72). Der MAUTHNERschen Klage über die Unmöglichkeit einer sprachlichen Welterkenntnis steht deshalb VAIHINGERs Einsicht gegenüber:
    "Der Wunsch, die Welt zu begreifen, ist nicht bloß ein unerfüllbarer, er ist auch ein törichter Wunsch"(73).
VAIHINGERs Lehre des Fiktionalismus teilte aber andererseits MAUTHNERs Auffassung von der Inkongruenz zwischen Sprache und Realität, wobei der Verfasser vor allem auf "NIETZSCHE und seine Lehre vom bewußt gewordenen Schein" hinweist, in welcher Fiktionalität der Begriffe und des Denkens bisher am deutlichsten erkannt worden sei(74).

Die Schlußfolgerungen aus seinem Fiktionalismus führten VAIHINGER aber nicht zu der absoluten Sprachkritik MAUTHNERs, sondern zu einer positiven Umwertung dieses Als-Ob-Denkens im Dienst der handelnden Lebenspraxis. Er schrieb dazu in der "Selbstdarstellung" seiner Lehre:
    "Dem Willen zum Leben und zum Herrschen dienen als Mittel die Vorstellungen, Urteile und Schlüsse - also das Denken. Das Denken ist somit ursprünglich nur ein Mittel im Kampf ums Dasein und insofern nur eine biologische Funktion. (...)

    Viele Denkvorgänge und Denkgebilde zeigen sich nun unter dieser Beleuchtung als bewußtfalsche Annahmne, die entweder der Wirklichkeit widersprechen oder sogar in sich selbst widerspruchsvoll sind, die aber absichtlich so gemacht werden, um durch diese künstliche Abweichung Schwierigkeiten des Denkes zu überwinden und auf Umwegen und Schleichwegen das Denkziel zu erreichen. Solche künstliche Denkgebilde heißen wissenschaftliche Fiktionen, die durch ihren Als-Ob-Charakter sich als bewußte Einbildungen kennzeichnen"(75).
MAUTHNERs Sprachtheorie stimmte zwar im Ansatz mit dem positivistischen Denken seiner Zeit überein, wies jedoch in ihrer erkenntniskritischen Schlußwendung über dessen Prinzip der Denkökonomie und der Relativierung der menschlichen Erkenntnis im Dienst des praktischen Lebens hinaus. Mit dieser Infragestellung des instrumentalistisch- sensualistisch- fiktionalistischen Sprachbegriffs des Positivismus verkörpert MAUTHNERs Sprachkritik zweifellos eine Erweiterung und Intensivierung des positivistischen Sprachzweifels, die das herkömmliche Erkenntnisideal nicht mehr anerkennen und dem erkenntnistheoretischen Sprachbewußtsein der zeitgenössischen Wissenschaft einen die pragmatische Funktion übersteigenden absoluten Sprach- und Erkenntnisbegriff entgegensetzen. MAUTHNER gelangte also ganz bewußt über die Positionen der zeitgenössischen Philosophie und Naturwissenschaft hinaus.

Damit erkennen wir in seiner noch auf dem positivistischen Bewußtseinsstand basierenden Sprachkritik eine ganz wesentliche zusätzliche Komponente, die über den wissenschaftlichen Bewußtseinsstand des Positivismus hinausgeht, ihn relativiert und in Frage stellt. Dies ist auch der Punkt, an dem MAUTHNERs Sprachkritik eine spezifische Nähe, beinahe Verwandtschaft zur literarischen Sprachskepsis um 1900 aufweist, die ebenfalls an vielen Stellen Ausdruck einer solchen antipositivistischen und antiwissenschaftlichen Haltung war.

Die Kunst und besonders die Literatur der Moderne sind in besonderem Maß von den Wissenschaften zur Auseinandersetzung mit ihnen herausgefordert. Gerade die Beziehung der Dichtung zur Naturwissenschaft und zu deren erkenntnistheoretischen Aussagen begann recht eigentlich im Naturalismus. Das mußte eine spezifische Akzentuierung und Verschärfung der Sprachproblematik mit sich bringen, weil man einerseits an der positivistischen begrifflichen Exaktheit orientiert war, andererseits sich aber gerade mit dieser nicht zufriedengeben wollte und konnte. In dieser Bezogenheit auf die zeitgenössische Wissenschaftssprache und der gleichzeitigen Distanzierung von ihr ist ein wesentlicher Faktor literarischer Sprachskepsis um 1900 zu erblicken.

MAUTHNERs Sprachkritik bezeugt an vielen Stellen diesen Ansatz zur Wissenschaftskritik und -überwindung. Begrifflichkeit, Gesetzmäßigkeit und Systematik waren für ihn die auffälligsten Sprachtäuschungen innerhalb des herkömmlichen wissenschaftlichen Erkenntnissystems.
    "Nach all dem darf ich wohl GOETHE als einen klassischen Zeugen für meine Sätze ansprechen und soll mich nicht wundern, wenn ich auch den Gipfel der Skepsis, daß es nämlich in der Geschichte des Menschengeistes immer nur sichere Beobachtungen, Apercus [geistreiche Bemerkungen - wp] gebe, nicht aber Gesetzt, Urteile, Sätze, wenn ich diese Lehre als Resignationsstimmung bei ihm mehrfach ausgesprochen finde"(76).
Gesetze und Urteile, Hypothesen, Kategorien, die Vorstellung von Ursache und Wirkung, der Zweckbegriff - dies alles seien Irrtümer und Täuschungen, zu denen sich wissenschaftliches Denken durch die Sprache habe verführen lassen.(77)

Ihren Höhepunkt findet die MAUTHNERsche Wissenschaftsfeindlichkeit jedoch in der strikten Verurteilung jeder wissenschaftlichen Systematisierung. "Noch niemals hat ein System wirkend eingegriffen und einen Wert behauptet in der Geschichte der Menschheit (...)"(78).
    "So ist jedes geschlossene System eine Selbsttäuschung, so ist Philosophie als Selbsterkenntnis des Menschengeistes ewig unfruchtbar, und so kann Philosophie, wenn man schon das alte Wort beibehalten will, nichts weiter sein wollen, als kritische Aufmerksamkeit auf die Sprache"(79).
Sprachkritik wird hier zum Anwalt der um die Jahrhundertwende weit verbreiteten Reaktion gegen die blinde Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit. Nach dem gewaltigen und mitreißenden Aufschwung der exakten Wissenschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts mußte der damit verbundene Wissenschaftsoptimismus gegen Ende des Jahrhunderts eine Gegenströmung anerkennen, die von jetzt an immer stärker Antworten auf jene Fragen verlangte, die innerhalb der vielfältigen philosophischen Richtungen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zu lösen waren.
    "Dichter und Forscher fangen zu fühlen an, daß es in den Werturteilene des Handelns und in den Gesetzen der Naturwissenschaft Konstanten gibt, denen gegenüber die Vernunft oder das Denken ebenso versagt, wie im Fortgange der nominalistischen Bewegung die Vernunft gegenüber den religiösen Dogmen ihre Mitarbeit verweigerte. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich diese antirationalistische Stimmung der Gegenwart in Verbindung bringe mit den sprachkritischen Ideen, welche schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in der Luft lagen. (...) Die Kritik der Sprache (...) ist darum eine Kritik des Rationalismus, eine Kritik des Aberglaubens an den absoluten Wert des diskursiven Denkens (...)" kann(80).
Innerhalb der weitreichenden allgemeinen Opposition gegen den Wissenschaftspositivismus gewinnt der spezifischere Faktor der Sprachskepsis einen gewichtigen Platz. MAUTHNER nimmt in diesem Zusammenhang eine interessante Zwischenstellung ein, weil er einerseits noch sehr stark vom philosophischen und naturwissenschaftlichen Positivismus beeinflußt war und ihm eine Vielzahl seiner sprachkritischen Argumente eigentlich verdankte, andererseits aber auch bereits jene entgegengesetzte Richtung der skeptizistischen Infragestellung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse verkörperte. Die Diskrepanz zwischen der Reduktion wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die sinnlichen Wahrnehmungen und dem Anspruch einer wahren Erkenntnistheorie versuchte er mit seiner Sprachkritik zu lösen.

Sprachkritik beschränkte sich also für ihn nicht auf die Aufdeckung verbaler Irrtümer und Fehlerquellen, sondern verstand sich also prinzipielles Kontrollorgan jeder mit sich selbst zufriedenen Bewußtseinsstufe.
    "Immer und überall ist die Wissenschaft einer Zeit der Ausdruck für das sehnsüchtige Ruhebedürfnis des armen Menschengeistes. Nur die Kritik, wo sie in einem noch ärmeren Kopfe lebendig ist, darf nicht ruhen, weil sie nicht ruhen kann. Sie muß die Wissenschaft aus ihrem Schlafe reißen, ihr die Illusion der Oase nehmen und sie weiter treiben auf dem heissen, mörderischen und vielleicht ziellosen Wüstenwege"(81).
MAUTHNERs Wirklichkeitskrise enthielt also zwei ganz unterschiedliche sprachkritische Komponenten: zum einen die Infragestellung des konventionellen sprachlichen Wirklichkeitsbildes aus der Sicht der zeitgenössischen Erkenntnisse des wissenschaftlichen Positivismus und zum anderen die ständige Erprobung und Überprüfung dieses wissenschaftsgläubigen Weltbildes aus der Sicht eines absoluten, wissenschaftstranszendierenden Erkenntnisbegriffs.

Die positivistische Wisschenschaft kann zwar einerseits die sprachlich vorgeprägte Wirklichkeitserfahrung relativieren und berichtigen; sie muß aber andererseits wiederum sprachkritisch überprüft werden, um nicht der Gefahr einer sich selbst überschätzenden exakten Begrifflichkeit zu unterliegen, die nur scheinbar dem menschlichen Erkenntnisstreben gerecht wird.

Zu den intellektuellen, wissenschaftsbedingten Wurzeln der Wirklichkeitskrise um 1900 hat Th. ZIOLKOWSKI in einem Aufsatz einige wichtige Hinweise gegeben. Der Mensch habe sich durch Wissenschaft und Intellektualität
    "aus seinem früheren unmittelbaren Verhältnis zur Welt (...) hinausräsoniert, und die Dinge der Welt stehen ihm jetzt autonom gegenüber. Auf einmal wird er sich des Verlustes bewußt und möchte jetzt die inzwischen entstandene Fremdheit zwischen dem Ich und der Welt überwinden. Aber gerade durch seine wissenschaftlichen Leistungen hat er sich den Weg in die Welt zurück versperrt"(82)
Eine nahezu übereinstimmende Erfahrung manifestiert sich in der Dichtung der Jahrhundertwende; RILKEs Malte, HOFMANNSTHALs Chandos, MUSILs Törless aund auch der Stephen Hero des JAMES JOYCE werden in ihrem Erkenntnisdrang "durch die alles wissen wollenden Antworten des Empirismus nicht befriedigt"(83). Malte z.B. begreift "daß die durch wissenschaftliche Vereinfachung wertlos gewordenen Worte zu diesem Lügenzustand geführt haben (...)"(84).

Die Behauptung MAUTHNERs, daß der scheinbare Fortschritt, den die einzelnen Wissenschaften erreicht haben sollen, in Wirklichkeit nur ein Fortschritt der Sprache sei, hat in seiner Zeit vielfach Unterstützung gefunden. "Worte in Worte gefaßt, das ist Anfang und Ende aller Philosophie" heißt es bei ihm(85), und man könnte versucht sein, die Wirkung seines Hauptwerkes hinter den Sätzen HOFMANNSTHALs zu vermuten:
    "Zweifel an der Möglichkeit mit der Sprache etwas vom Weltstoff fassen zu können. Sprachkritik als Welle der Verzweiflung über die Welt laufend: als jene Seelenverfassung, die sich ergeben hatte, weil nicht die Wahrheit, sondern Technik das Ergebnis des wissenschaftlichen Geistes gewesen war"(86).
Auch in seinen Aufzeichnungen spricht HOFMANNSTHAL an einer Stelle von der "Gefährlichkeit der Schlagworte wissenschaftlicher Art"(87).

Literarische Sprachskepsis war häufig das Hauptinstrument einer Relativierung der allgemein akzeptierten und in der wissenschaftlich untermauerten Wirklichkeitserkenntnis festgefahrenen Urteils- und Erfahrungsschemata. Die Dichtung stellte immer mehr den Raum dar, der sich den wissenschaftlich analysierenden und systematisch kategorisierenden Beurteilungsmöglichkeiten entzog und damit zu deren erneuter sprachkritischer Reflexion anregte.

MAUTHNER seinerseits versuchte jedoch zusätzlich, mit Hilfe eines sprachkritischen Konzepts die Analyse der Wirklichkeitskrise abzuschließen. Dieses Modell, eine Art Kategorienlehre, teilte die Wirklichkeit - in Korrelation zur Struktur der Sprache - in eine substantivische, verbale und adjektivische Welt ein. Er sprach in diesem Zusammenhang von den "drei Bildern der Welt".

Die substantivische Welt in diesem Schema ist die "unwirkliche Welt des Raums, die Welt des Seins, bei welcher wir von dem Werden in der Zeit willkürlich absehen"(88). Diese Welt, die Welt der Metaphysik und der Mythologie, besitze nur der Mensch. In seiner Sprache habe er das "schönste und das falscheste Weltbild, das dingliche Weltbild der Mystik "(89).

Die verbale Welt des Werdens und der Zeit ist "die Welt der Zwecke, der Absichten, der Ziele, der Richtungen" (90); sie ist "die Welt unserer wissenschaftlichen Erklärungen"(91). Auch diese Welt ist bestimmt durch die Willkürlichkeit und Zufälligkeit der menschlichen Sprachgebung und nicht durch ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.

"Der Wirklichkeit scheint nur das  adjektivische  Bild der Welt zu entsprechen, die sensualistische Weltanschauung"(92). Diese adjektivische Welt ist die Welt der "Sinnlichkeit und der Kunst"(93). MAUTHNER fügt zur Legitimation seines "Systems" hinzu, daß diese "Kategorienlehre" sich grundlegend von allen bisherigen unterscheide, weil sie sprachkritisch sei und deshalb nicht dem Trugschluß erliege,
    "menschliches Denken oder Sprechen  müsse  der Natur entsprechen,  müsse  ein ähnliches Bild der Natur zeichnen können. (...) Da darf ich mich wenigstens rühmen, daß meine drei Aussäglichkeiten es gar nicht gestatten, einen solchen Fehler zu begehen; es hängt von der Richtung der Aufmerksamkeit ab, es ist relativ, ob man die Welt oder auch nur einen Ausschnitt aus der Welt als adjektivisch, als substantivisch oder als verbal betrachten will (...)"(94).
Der tatsächlich  einen  Welt sind durch die Willkürlichkeit der Sprachentstehung und -entwicklung  drei  sprachliche Bilder der Welt entgegengestellt.
    "Die Vereinigung der drei Bilder, die Deckung ihrer drei Bildsprachen, ist nur eine Sehnsucht, (...) So sind auch die Filter des menschlichen Verstandes und die Sphären der gebrauchten Sprachworte nicht übermenschlich genug, um jemals eine Deckung der drei Bildersprachen zu ermöglichen. Die drei Bilder der Welt sind, alle drei, hoministisch; für  das  Bild der Welt, das eine ähnliche, ist unser Gesicht, ist unsere Sprache nicht geeignet. Der Übermensch ist eine Sehnsucht, kann also nie wirklich sein.(95).

LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
    Anmerkungen
    61) LESZEK KOLAKOWSKI, Die Philosophie des Positivismus, aus dem Polnischen von Peter Lachmann, München 1971, Seite 154
    62) ERNST MACH, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1905, Seite 139
    63) ERNST MACH, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1905, Seite 161
    64) ERNST MACH: Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1896, Seite 208f
    65) LESZEK KOLAKOWSKI, Die Philosophie des Positivismus, aus dem Polnischen von Peter Lachmann, München 1971, Seite 136
    66) ERNST MACH, Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1896, Seite 224
    67) Beiträge I, Seite 74
    68) Beiträge I, Seite 382
    69) Beiträge I, Seite 64f
    70) Beiträge I, Seite 70
    71) HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-Ob, Leipzig 1911, Seite 305f (zitiert nach Karl Eibl: Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 56. An dieser Stelle kann man sich auch über die Vorgeschichte und Entstehung von VAIHINGERs Werk infomieren.)
    72) HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-Ob, Leipzig 1911, Seite 307
    73) HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-Ob, Leipzig 1911, Seite 310
    74) So lautet eine eigene Kapitelüberschrift in VAIHINGERs Werk: Die Philosophie des Als-Ob, Leipzig 1911, Seite 771f
    75) HANS VAIHINGER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 200f
    76) Beiträge I, Seite 136
    77) "Doch leben und sterben wir vorläufig in einer Weltanschauung, die auf der Hypothese von Ursache und Wirkung aufgebaut ist". (Beiträge I, Seite 255) "Wir werden, vom Banne der Sprache befreit, noch erkennen, daß (...) es der Menschengeist ist, der Reihen von Veränderungen um einen Zweckbegriff gruppiert und solche Gruppen als Tätigkeiten genannt und benennt". (Beiträge I, Seite 270)
         Daraus ergab sich auch MAUTHNERs sprachkritischer Vorbehalt gegenüber (natur)wissenschaftlichen Erklärungen. "Alle diese Beispiele zur Geschichte der technischen Sprache können uns davon überzeugen, daß der stolze Unterschied, der heutzutage zwischen Naturwissenschaft und Naturbeschreibung gemacht wird, gar nicht besteht; man täte gut daran, das alte Wort Naturbeschreibung beizubehalten und höchstens noch von ein wenig Naturgeschichte zu sprechen, (...)". (Beiträge III, Seite 534)
    78) Beiträge I, Seite 644. MAUTHNER fährt fort: "man kann aber auch mit Bestimmtheit vorhersagen, daß ein System niemals einen Wert haben wird".
    79) Beiträge I, Seite 648
    80) Philosophisches Wörterbuch II, Seite 283
    81) Beiträge II, Seite 257
    82) JAMES JOYCEs Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt, in DVjs. 35 (1961) Seite 598-613, hier Seite 599
    83) JAMES JOYCEs Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt, in DVjs. 35 (1961) Seite 598-613, hier Seite 604
    84) JAMES JOYCEs Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt, in DVjs. 35 (1961) Seite 598-613, hier Seite 604
    85) Beiträge III, Seite 644
    86) In den Aufzeichnungen zu "Die Idee Europa" und "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation", zitiert nach MARIANNE KESTING, Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste, München 1970, Seite 150
    87) In den Aufzeichnungen zu "Die Idee Europa" und "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation", zitiert nach MARIANNE KESTING, Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste, München 1970, Seite 160
         ARNO HOLZ z.B. hat ebenfalls - und zwar in seinem Stück "Ignorabimus" - die naive Wissenschaftsgläubigkeit kritisiert. Auch das Gesamtwerk SCHNITZLERs, MUSILs, BROCHs u.v.a. ist von einer sprachkritischen Opposition gegn den Wissenschaftspositivismus durchzogen. Die Fülle des Materials verbietet uns, näher darauf einzugehen.
    88) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 19
    89) FRITZ MAUTHNER, Die drei Bilder der Welt, Ein sprachkritischer Versuch, aus dem Nachlaß hg. von MONTY JACOBs, Erlangen 1925, Seite 40
    90) FRITZ MAUTHNER, Die drei Bilder der Welt, Ein sprachkritischer Versuch, aus dem Nachlaß hg. von MONTY JACOBs, Erlangen 1925, Seite 26
    91) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 20
    92) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 19
    93) FRITZ MAUTHNER, Die drei Bilder der Welt, Ein sprachkritischer Versuch, aus dem Nachlaß hg. von MONTY JACOBs, Erlangen 1925, Seite 119
         Die "Lehre" von den drei Bildern der Welt war im Philosophischen Wörterbuch bereits vorbereitet. Wir finden dort schon die drei Artikel "adjektivische Welt" (Band I, Seite 12f), "substantivische Welt" (Band II, Seite 464f) und "verbale Welt" (Band II, Seite 530) vgl. dazu auch KARL EIBL: Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 69f
    94) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 21f
    95) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 23