Fritz Mauthner und die Sprachkrise der Jahrhundertwende I I I
MAUTHNERs Sprach- und Erkenntniskritik mit ihren drei aufgezeigten Grundkomponenten der Aufdeckung der Ich-Fiktion, der Reduktion der sprachlichen Wahrheit auf ihre anthropomorphische Funktion und der Einschränkung menschlicher Erkenntnisse auf die Sinneswahrnehmungen gibt annähernd die Hauptideen des Empiriokritizismus seiner Zeit wieder, wie sie in einer neueren Studie charakterisiert worden sind:
Selbst die wissenschaftliche Begrifflichkeit unterzieht MACH der Sprachkritik:
Der pragmatische Gesichtspunkt, den MAUTHNER eher als ein Zeichen der Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit der Sprache ansieht, rückt bei MACH, wie ganz allgemein im positivistischen Sprachbewußtsein, als ein aufwertendes Element in den Vordergrund der Sprachbetrachtung. Es handelt sich dabei um das sogenannte "Ökonomieprinzip", in dem die Sprache einen herausragenden Platz einnimmt.
Dieses "ökonomische Prinzip" der Sprache, das im positivistischen Denken zu einer positiven Verbindung zwischen Sprache und Naturwissenschaft führen konnte, war MAUTHNER natürlich keineswegs unbekannt. Auch die MAUTHNERsche Sprachkritik betonte, wie MACH und dessen Schule, neben der Relativität aller Erkenntnis die ökonomische Natur der Wissenschaft; nur verhalf diese Einsicht bei ihm noch keineswegs zu einer Aufwertung der Sprache als Erkenntniswerkzeug. MAUTHNER hat die relative Nützlichkeit der Sprache, ihren Zweck und ihre Notwendigkeit, eher hervorgehoben als abgestritten. Die Sprache sei "wesentlich eine nützliche Erfindung"(67), die Worte "entsprechen immer unserer Bequemlichkeit oder unseren Zwecken"(68). MAUTHNER verweist aber auch darauf, daß über den Nutzen der Sprache bereits hinlänglich und ausführlich geschrieben worden sei.
Dieses "Mehr" an Erkenntnisstreben unterschied ihn auch - bei weitgehender Übereinstimmung im Grundsätzlichen - von einer zweiten Denkrichtung, die für die Kennzeichnung der Epoche um die Jahrhundertwende sehr wichtig ist, dem sogenannten "Fiktionalismus". KARL EIBL zitiert in seinem Buch über GUSTAV SACK eine Stelle aus einem Hauptwerk dieser Denkrichtung, die weitläufige Erklärungen überflüssig mache:
Die Schlußfolgerungen aus seinem Fiktionalismus führten VAIHINGER aber nicht zu der absoluten Sprachkritik MAUTHNERs, sondern zu einer positiven Umwertung dieses Als-Ob-Denkens im Dienst der handelnden Lebenspraxis. Er schrieb dazu in der "Selbstdarstellung" seiner Lehre:
Viele Denkvorgänge und Denkgebilde zeigen sich nun unter dieser Beleuchtung als bewußtfalsche Annahmne, die entweder der Wirklichkeit widersprechen oder sogar in sich selbst widerspruchsvoll sind, die aber absichtlich so gemacht werden, um durch diese künstliche Abweichung Schwierigkeiten des Denkes zu überwinden und auf Umwegen und Schleichwegen das Denkziel zu erreichen. Solche künstliche Denkgebilde heißen wissenschaftliche Fiktionen, die durch ihren Als-Ob-Charakter sich als bewußte Einbildungen kennzeichnen"(75). Damit erkennen wir in seiner noch auf dem positivistischen Bewußtseinsstand basierenden Sprachkritik eine ganz wesentliche zusätzliche Komponente, die über den wissenschaftlichen Bewußtseinsstand des Positivismus hinausgeht, ihn relativiert und in Frage stellt. Dies ist auch der Punkt, an dem MAUTHNERs Sprachkritik eine spezifische Nähe, beinahe Verwandtschaft zur literarischen Sprachskepsis um 1900 aufweist, die ebenfalls an vielen Stellen Ausdruck einer solchen antipositivistischen und antiwissenschaftlichen Haltung war. Die Kunst und besonders die Literatur der Moderne sind in besonderem Maß von den Wissenschaften zur Auseinandersetzung mit ihnen herausgefordert. Gerade die Beziehung der Dichtung zur Naturwissenschaft und zu deren erkenntnistheoretischen Aussagen begann recht eigentlich im Naturalismus. Das mußte eine spezifische Akzentuierung und Verschärfung der Sprachproblematik mit sich bringen, weil man einerseits an der positivistischen begrifflichen Exaktheit orientiert war, andererseits sich aber gerade mit dieser nicht zufriedengeben wollte und konnte. In dieser Bezogenheit auf die zeitgenössische Wissenschaftssprache und der gleichzeitigen Distanzierung von ihr ist ein wesentlicher Faktor literarischer Sprachskepsis um 1900 zu erblicken. MAUTHNERs Sprachkritik bezeugt an vielen Stellen diesen Ansatz zur Wissenschaftskritik und -überwindung. Begrifflichkeit, Gesetzmäßigkeit und Systematik waren für ihn die auffälligsten Sprachtäuschungen innerhalb des herkömmlichen wissenschaftlichen Erkenntnissystems.
Ihren Höhepunkt findet die MAUTHNERsche Wissenschaftsfeindlichkeit jedoch in der strikten Verurteilung jeder wissenschaftlichen Systematisierung. "Noch niemals hat ein System wirkend eingegriffen und einen Wert behauptet in der Geschichte der Menschheit (...)"(78).
Sprachkritik beschränkte sich also für ihn nicht auf die Aufdeckung verbaler Irrtümer und Fehlerquellen, sondern verstand sich also prinzipielles Kontrollorgan jeder mit sich selbst zufriedenen Bewußtseinsstufe.
Die positivistische Wisschenschaft kann zwar einerseits die sprachlich vorgeprägte Wirklichkeitserfahrung relativieren und berichtigen; sie muß aber andererseits wiederum sprachkritisch überprüft werden, um nicht der Gefahr einer sich selbst überschätzenden exakten Begrifflichkeit zu unterliegen, die nur scheinbar dem menschlichen Erkenntnisstreben gerecht wird. Zu den intellektuellen, wissenschaftsbedingten Wurzeln der Wirklichkeitskrise um 1900 hat Th. ZIOLKOWSKI in einem Aufsatz einige wichtige Hinweise gegeben. Der Mensch habe sich durch Wissenschaft und Intellektualität
Die Behauptung MAUTHNERs, daß der scheinbare Fortschritt, den die einzelnen Wissenschaften erreicht haben sollen, in Wirklichkeit nur ein Fortschritt der Sprache sei, hat in seiner Zeit vielfach Unterstützung gefunden. "Worte in Worte gefaßt, das ist Anfang und Ende aller Philosophie" heißt es bei ihm(85), und man könnte versucht sein, die Wirkung seines Hauptwerkes hinter den Sätzen HOFMANNSTHALs zu vermuten:
Literarische Sprachskepsis war häufig das Hauptinstrument einer Relativierung der allgemein akzeptierten und in der wissenschaftlich untermauerten Wirklichkeitserkenntnis festgefahrenen Urteils- und Erfahrungsschemata. Die Dichtung stellte immer mehr den Raum dar, der sich den wissenschaftlich analysierenden und systematisch kategorisierenden Beurteilungsmöglichkeiten entzog und damit zu deren erneuter sprachkritischer Reflexion anregte. MAUTHNER seinerseits versuchte jedoch zusätzlich, mit Hilfe eines sprachkritischen Konzepts die Analyse der Wirklichkeitskrise abzuschließen. Dieses Modell, eine Art Kategorienlehre, teilte die Wirklichkeit - in Korrelation zur Struktur der Sprache - in eine substantivische, verbale und adjektivische Welt ein. Er sprach in diesem Zusammenhang von den "drei Bildern der Welt". Die substantivische Welt in diesem Schema ist die "unwirkliche Welt des Raums, die Welt des Seins, bei welcher wir von dem Werden in der Zeit willkürlich absehen"(88). Diese Welt, die Welt der Metaphysik und der Mythologie, besitze nur der Mensch. In seiner Sprache habe er das "schönste und das falscheste Weltbild, das dingliche Weltbild der Mystik "(89). Die verbale Welt des Werdens und der Zeit ist "die Welt der Zwecke, der Absichten, der Ziele, der Richtungen" (90); sie ist "die Welt unserer wissenschaftlichen Erklärungen"(91). Auch diese Welt ist bestimmt durch die Willkürlichkeit und Zufälligkeit der menschlichen Sprachgebung und nicht durch ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. "Der Wirklichkeit scheint nur das adjektivische Bild der Welt zu entsprechen, die sensualistische Weltanschauung"(92). Diese adjektivische Welt ist die Welt der "Sinnlichkeit und der Kunst"(93). MAUTHNER fügt zur Legitimation seines "Systems" hinzu, daß diese "Kategorienlehre" sich grundlegend von allen bisherigen unterscheide, weil sie sprachkritisch sei und deshalb nicht dem Trugschluß erliege,
LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
61) LESZEK KOLAKOWSKI, Die Philosophie des Positivismus, aus dem Polnischen von Peter Lachmann, München 1971, Seite 154 62) ERNST MACH, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1905, Seite 139 63) ERNST MACH, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1905, Seite 161 64) ERNST MACH: Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1896, Seite 208f 65) LESZEK KOLAKOWSKI, Die Philosophie des Positivismus, aus dem Polnischen von Peter Lachmann, München 1971, Seite 136 66) ERNST MACH, Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1896, Seite 224 67) Beiträge I, Seite 74 68) Beiträge I, Seite 382 69) Beiträge I, Seite 64f 70) Beiträge I, Seite 70 71) HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-Ob, Leipzig 1911, Seite 305f (zitiert nach Karl Eibl: Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 56. An dieser Stelle kann man sich auch über die Vorgeschichte und Entstehung von VAIHINGERs Werk infomieren.) 72) HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-Ob, Leipzig 1911, Seite 307 73) HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-Ob, Leipzig 1911, Seite 310 74) So lautet eine eigene Kapitelüberschrift in VAIHINGERs Werk: Die Philosophie des Als-Ob, Leipzig 1911, Seite 771f 75) HANS VAIHINGER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 200f 76) Beiträge I, Seite 136 77) "Doch leben und sterben wir vorläufig in einer Weltanschauung, die auf der Hypothese von Ursache und Wirkung aufgebaut ist". (Beiträge I, Seite 255) "Wir werden, vom Banne der Sprache befreit, noch erkennen, daß (...) es der Menschengeist ist, der Reihen von Veränderungen um einen Zweckbegriff gruppiert und solche Gruppen als Tätigkeiten genannt und benennt". (Beiträge I, Seite 270) Daraus ergab sich auch MAUTHNERs sprachkritischer Vorbehalt gegenüber (natur)wissenschaftlichen Erklärungen. "Alle diese Beispiele zur Geschichte der technischen Sprache können uns davon überzeugen, daß der stolze Unterschied, der heutzutage zwischen Naturwissenschaft und Naturbeschreibung gemacht wird, gar nicht besteht; man täte gut daran, das alte Wort Naturbeschreibung beizubehalten und höchstens noch von ein wenig Naturgeschichte zu sprechen, (...)". (Beiträge III, Seite 534) 78) Beiträge I, Seite 644. MAUTHNER fährt fort: "man kann aber auch mit Bestimmtheit vorhersagen, daß ein System niemals einen Wert haben wird". 79) Beiträge I, Seite 648 80) Philosophisches Wörterbuch II, Seite 283 81) Beiträge II, Seite 257 82) JAMES JOYCEs Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt, in DVjs. 35 (1961) Seite 598-613, hier Seite 599 83) JAMES JOYCEs Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt, in DVjs. 35 (1961) Seite 598-613, hier Seite 604 84) JAMES JOYCEs Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt, in DVjs. 35 (1961) Seite 598-613, hier Seite 604 85) Beiträge III, Seite 644 86) In den Aufzeichnungen zu "Die Idee Europa" und "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation", zitiert nach MARIANNE KESTING, Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste, München 1970, Seite 150 87) In den Aufzeichnungen zu "Die Idee Europa" und "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation", zitiert nach MARIANNE KESTING, Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste, München 1970, Seite 160 ARNO HOLZ z.B. hat ebenfalls - und zwar in seinem Stück "Ignorabimus" - die naive Wissenschaftsgläubigkeit kritisiert. Auch das Gesamtwerk SCHNITZLERs, MUSILs, BROCHs u.v.a. ist von einer sprachkritischen Opposition gegn den Wissenschaftspositivismus durchzogen. Die Fülle des Materials verbietet uns, näher darauf einzugehen. 88) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 19 89) FRITZ MAUTHNER, Die drei Bilder der Welt, Ein sprachkritischer Versuch, aus dem Nachlaß hg. von MONTY JACOBs, Erlangen 1925, Seite 40 90) FRITZ MAUTHNER, Die drei Bilder der Welt, Ein sprachkritischer Versuch, aus dem Nachlaß hg. von MONTY JACOBs, Erlangen 1925, Seite 26 91) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 20 92) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 19 93) FRITZ MAUTHNER, Die drei Bilder der Welt, Ein sprachkritischer Versuch, aus dem Nachlaß hg. von MONTY JACOBs, Erlangen 1925, Seite 119 Die "Lehre" von den drei Bildern der Welt war im Philosophischen Wörterbuch bereits vorbereitet. Wir finden dort schon die drei Artikel "adjektivische Welt" (Band I, Seite 12f), "substantivische Welt" (Band II, Seite 464f) und "verbale Welt" (Band II, Seite 530) vgl. dazu auch KARL EIBL: Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 69f 94) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 21f 95) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. Raymund Schmidt, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 23 |