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FRITZ MAUTHNER
Kindersprache
II-29

"Es kommt dann zu einer Revolution im Kindergehirn. Das Kind hat erfahren, daß die hörbaren Töne aus dem Munde der Mutter immer ein Ding bedeuten; es fängt an, mit Bewußtsein und schnell sprechen zu lernen."

Nachdem wir uns den Sachverhalt, wie wir uns ihn in unserer heutigen Sprache, das heißt nach unserer heutigen Weltanschauung nicht anders deuten können, in seiner ganzen monströsen Ausdehnung und Kompliziertheit vor Augen geführt haben, wollen wir weiterhin mit vollem Bewußtsein den Fehler begehen, die Vorgeschichte der Menschensprache eine Weile nicht zu beachten und die Entstehung der Kindersprache nur mit der  menschlichen  Ursprache zu vergleichen. Denn es ist am Ende doch ein vorauszusetzender historischer Abschnitt, und es würde in purpurne Finsternis führen, wollten wir den Abschnitt etwa bei der Entstehung der Amphibien aufsuchen. Nun muß vor allem eins festgehalten werden, daß in den Urzeiten der Menschheit die ganze Menschheit viel primitiver sprechen lernte als heute das erste beste Kind. Nehmen wir beispielsweise an, daß der Hund und das Huhn je drei Sprachlaute besitzen, je drei Begriffe beherrschen, daß der Affe sechs Sprachlaute und Begriffe sein eigen nennt, daß die neugewordene Menschart der Urzeit - um nur eine Ziffer zu nennen - zwölf artikulierte Sprachlaute oder Begriffe besaß, so hatte das Menschenkind jener Urzeit eben auch nicht viel ontogenetisch nachzuholen; konnte aber auch von seiner Mutter nicht viele Begriffe erlernen. Das heutige Kind kommt ebenso stumm auf die Welt wie das der Urzeit, seine Eltern jedoch verfügen je nach der Kultur ihres Volkes und ihrer eigenen Bildung über einige hundert oder gar über einige tausend Sprachlaute oder Worte.

Den spielenden Gebrauch dieser Sprache von Hunderten oder Tausenden von Worten hat also das zivilisierte Menschenkind von seiner Umgebung zu lernen. Wir werden später sehen, in wie ungleichem Tempo dieses Lernen erfolgt. Wie es anfangs Monate braucht, bevor das Kind ein oder zwei Worte erlernt, wie dann der Wortvorrat rascher wächst, wie einige Jahre lang das Wachstum so schnell wird, daß täglich nicht nur neue Begriffe, sondern gleich neue Gruppen und neue Analogien hinzukommen, wie dann der erwachsene Mensch wieder langsamer lernt und wie in höherem Alter wieder nur selten einmal ein neues Wort dem Sprachschatze hinzugefügt wird. Wir lassen hier auch den Umstand bei Seite, daß in ebenso ungleichem Tempo auch die Fülle jedes einzelnen Begriffs wächst. An dieser Stelle wollen wir, um mit dem Begriff Ursprache eine bessere Vorstellung verbinden zu können, nur untersuchen, was es eigentlich mit dem Sprechenlernen des Kindes auf sich hat, auf welche Weise die Individualsprache ontogenetisch entsteht.

Am deutlichsten fällt in die Augen, daß das Kind die Sprachlaute seiner Mutter und seiner übrigen Umgebung nachahmt und allmählich dazu gebracht wird, mit dem Schall dieser Laute Vorstellungen von bestimmten Dingen zu verbinden. Das Sprechenlernen geht langsam vor sich, so lange das Kind eben bei jedem einzelnen Sprachlaut besonders die Entdeckung machen muß, daß er einem Dinge entspreche. Und wer weiß, ob so ein Kind in dieser Lebenszeit nicht ein scholastischer Realist ist, an die Wirklichkeit platonischer Ideen glaubt, das heißt sich vorstellt, der Name Kuchen z.B. sei eine Art Gott, der ihm die leibliche Berührung mit dem süßen Ding Kuchen gestattet oder ermöglicht. Es kommt dann zu einer Revolution im Kindergehirn. Das Kind hat erfahren, daß die hörbaren Töne aus dem Munde der Mutter immer ein Ding bedeuten; es fängt an, mit Bewußtsein und schnell sprechen zu lernen.

Man sagt so obenhin, und wir haben es eben auch obenhin nachgesprochen, daß das Kind die gehörten Sprachlaute nachahme. In dieser außerordentlich komplizierten Leistung, nämlich auf Anregung von gehörten Sprachlauten die eigenen Sprachorgane so in Tätigkeit zu versetzen, daß sie ähnliche Schallwellen erzeugen, in dieser Leistung liegt eine geheimnisvoll reiche Erbschaft, die zum mindesten den Fähigkeiten des neugeborenen Hühnchens entspricht, sofort in geeigneter Weise zu laufen und zu picken. Es ist nicht anders möglich, als daß nicht nur die Gehör- und die Sprachorgane mit den unzugänglichsten Feinheiten ihrer Konstruktion ererbt sind, sondern auch die Anlagen zu den Nervenbahnen zwischen Gehör- und Sprachwerkzeugen. Wie der gleiche Baum, seitdem seine Art auf der Erde besteht, immer die ähnliche Blattform bildet, so formt die Menschenart mit ihren Sprachwerkzeugen die ähnlichen Laute. Damit ist aber noch nicht an die Frage herangetreten, wie das Kind sprechen lerne, wie es in den sprachlichen Verband seines Volkes eintrete, wie es zuerst die gemeinsamen Vorstellungen mit gemeinsamen Sprachzeichen verbinde.

Es lernt von der Mutter die Sprachlaute zugleich mit den Vorstellungen, die sie bezeichnen. Sehr schön. Das könnte in jeder Fibel stehen. Wie kann es aber diese Verbindung von Sprachlauten und Vorstellungen begreifen, da es doch sprechen lernen muß, ohne vorher sprechen zu können, ohne vorher auch nur die dunkelste Ahnung zu haben, daß die Sprachlaute der Mutter mehr bedeuten als das Summen einer Fliege? Das Kind lernt also wirklich ganz und gar von Anfang an sprechen, ganz genau so, wie nicht etwa der Urmensch, sondern wie das Urtier sprechen lernte, bevor irgend ein Wesen sprechen konnte.

Bekanntlich berichtet schon HERODOT, daß ein ägyptischer König einmal in sehr kindlicher Weise das Experiment angestellt habe: welche Sprache lernen Kinder, die man ohne andere sprechende Menschen aufwachsen läßt. Man hat kaum schon bemerkt, daß ein Vorgang, der diesem Experiment entspricht, in jeder Kinderstube täglich beobachtet werden kann. Wer immer Kinder beobachtet hat, wird schon gehört haben, daß sie irgend einen Zufallslaut mit einer Vorstellung verbinden, daß sie sich ihre eigene Sprache zu erfinden suchen. Ich denke da nicht an diejenige Kindersprache, welche die Worte der Muttersprache falsch nachahmt und in der falschen Artikulation festhält, weil die Umgebung sich das Kinderwort aneignet. Ich denke an solche Fälle, in denen das neugebildete Wort nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem Worte der Erwachsenen hat. So nennt ein Kind von drei Jahren zufällig die Schokolade "Rellerelle" und die Familie und bald der ganze Bekanntenkreis sagt für Schokolade Rellerelle. Trotzdem aber so die instinktive Liebe der Eltern und das Spiel der Freunde sich bemüht, solche neuerfundene Zufallsworte festzuhalten und sie auch wirklich oft für einige Jahre zu, Bestandteilen einer Gruppensprache werden, müssen sie am Ende wieder verschwinden. Sie sind der weiteren Gruppe der Stadt- und Landgenossen nicht verständlich und werden darum in dem großen Prozeß der Sprachbildung unbarmherzig ausgeschieden wie auch im übrigen Verkehr zwischen den Menschen die Tendenz besteht, alles Charakteristische und Individuelle zu unterdrücken zum Besten der gemeinen Allgemeinheit.

Und jedermann kann gelegentlich sehen, daß in diesem Prozeß das heranwachsende Kind gegen seine eigene Individualität Partei ergreift. Es will sprechen wie alle anderen, sowie es später wird Kleider tragen wollen wie alle anderen. Während noch die Eltern und die Freunde von Rellerelle sprechen, hat bereits der dreijährige Fratz bemerkt, daß die Großen untereinander das Ding anders nennen; und so kommt es bald vor, daß der Fratz zum Schulmeister wird und den eigenen Vater verbessert. "Nicht Rellerelle - Lade (für Schokolade) sagen." Das Kind selbst gewöhnt den Eltern die individuelle, neu erfundene Sprache ab. Wir können voraussetzen, daß die Entwicklung ganz anders verliefe, wenn irgendwo auf einer wüsten Insel eine Mutter ein Kind zur Welt brächte, und mit ihm allein weiter lebte. Dann würden gewiß die Erfindungen des Kindes eine solche Macht behalten, daß die Gemeinsprache zwischen diesen beiden Menschen - um guten Teil aus neu geprägten Kinderworten bestünde. Doch auch dieses Experiment ist noch nicht gemacht worden.

So flüchtig also auch die Wirkungen sind, welche die eigenen Erfindungen der Kinder auf eine Volkssprache haben, so können sie doch dazu benützt werden, die Entstehung der Sprache in der Urzeit zu erklären. Ist doch auch die andere wichtige Erscheinung der Kindersprache, die ich hier ausdrücklich beiseite gelassen habe, nämlich die Unvollständigkeit und Falschheit der Artikulation sowie die falsche Analogiebildung (trinkte anstatt trank), ist doch alle die Umbildung der Sprache aus Faulheit, Ungeübtheit, kurz aus Bequemlichkeit, vorbildlich für diese Entwicklung der Sprache, die unter dem Begriff des Lautwandels zusammengefaßt wird. Viel tiefer noch können wir in das Geheimnis der psychologischen Entstehung der Sprache hineinblicken, wenn wir die Erfindung solcher Zufallsworte der Kindersprache genau analysieren.

Vorher jedoch möchte ich wieder einmal auf die Unmöglichkeit hinweisen, Sprachphilosophie mit den Mitteln der Sprache zu treiben. Ich möchte nämlich zeigen, daß der klaffende Gegensatz, den wir zwischen der Geistesentwicklung eines unfertig geborenen und später sich reich entfaltenden Menschenkindes und der eines fix und fertig geborenen Hühnchens annehmen, doch nur auf einer Unbehilflichkeit der Sprache beruht und daß auch dieser Gegensatz durch Übergänge vermittelt wird, für welche uns nur bisher die Bezeichnungen fehlen. Es ist wahr, daß das neugeborene Hühnchen sofort sieht und hört, läuft und pickt, daß das neugeborene Menschenkind blind, taub, hilflos und stumm ist. Es muß also das Menschenkind individuell lernen, was das Hühnchen durch sein Artgedächtnis ererbt hat. Da habe ich aber schon das unscheinbare Wörtchen "sofort" gebraucht. Und doch läuft das neugeborene Hühnchen wenige Stunden nach der Geburt viel sicherer als in der ersten Minute: es hat die Koordination der Laufbewegungen ebenfalls erst einüben müssen. Und das Menschenkind lernt, wenn auch nicht sehen und hören, so doch das Wahrnehmen von Licht- und Schallempfindungen ebenfalls so rasch, daß sich dieses "sofort" als ein relativer Begriff erweist.

Es gibt aber eine Lebensäußerung des Säuglings, welche wirklich in der ersten Minute nach der Geburt eintreten muß wenn der Säugling am Leben bleiben soll das Atmen. Wir sind also geneigt, dem neugeborenen Menschenkinde in seinen Atembewegungen doch einen ererbten Gebrauch seiner Muskeln zuzugestehen, und helfen und über die Schwierigkeit dadurch hinweg, daß wir wieder den Instinkt bemühen und an die Muskeltätigkeit des Herzens erinnern, die ja schon im Mutterleibe vor sich geht und am bebrüteten Hühnerei sehr frühzeitig sichtbar gemacht werden kann. Stellen wir uns aber vor, daß das sauerstoffreichere Blut der Mutter, welches dem Embryo durch den Mutterkuchen zuströmt, bereits einen Reiz in der Lunge ausübt, so können wir ganz wohl sagen, daß die spätere Tätigkeit der Lunge im Mutterleibe gewissermaßen theoretisch gelernt wird, so wie man die Kinder die ersten Schwimmbewegungen auf dem Lande einüben läßt. Ich will mit alledem nur andeuten, daß die Grenzen zwischen dem Individual- und dem Artgedächtnis niemals genau bestimmt werden können, daß wir mit unserer Sprache niemals in die Abgründe der Psychologie hineinleuchten können.

Man müßte eigentlich, anstatt die Worte Individual- und Artgedächtnis zu gebrauchen, ganz allgemein von einem jüngeren und von einem älteren Gedächtnis jedes Lebewesens sprechen. So ist z.B. die Anpassung der Pupille an hellere und dunklere Lichtreize, welche bei neugeborenen Kindern und auch bei Tieren sofort eintritt, aus Urzeiten ererbt, das Ergebnis einer uralten Gewohnheit, eines uralten Gedächtnisses, und wird darum dem Instinkte zugeschrieben. Das Schließen der Lider jedoch, wenn das Auge des Säuglings berührt wird, wird erst später gelernt, mag also (phylogenetisch) eine jüngere Gewohnheit sein, wird aber dennoch beim erwachsenen Menschen zu den instinktiven Reflexbewegungen gerechnet.

So sehr die Ausdrucksweise stören mag, so muß ich doch nun wiederholen, daß das Artgedächtnis eines neugeborenen Kindes eigentlich nur in seinem Körper besteht. Ich meine das nicht bildlich, sondern buchstäblich. Das Gedächtnis der Menschenart ist der Leib des Kindes mit seinen Sinnesorganen, die ja wieder, wie wir lehren, menschliche Zufallsorgane sind, die ebenso gut hätten Organe zur Wahrnehmung der Elektrizität oder des Lebens werden können. Nun sagt man gewöhnlich, und ich habe es eben auch gesagt: das Kind kommt blind und taub auf die Welt. Auch dieser Satz bedarf vielleicht einer Einschränkung. Das Kind lernt allerdings, und zwar recht langsam, diejenigen Wahrnehmungen, welche für den erwachsenen Menschen Sehen und Hören bedeuten. Wann aber hört der Mensch auf, sehen und hören zu lernen? Wer in seinem sechsten Jahre Musik zu treiben beginnt, lernt eine komplizierte Fülle von Tönen unterscheiden, von denen er vorher keine Ahnung hatte. Wer in seinem zwanzigsten Jahre viel mit Malern verkehrt oder gar selbst zu malen beginnt, lernt Einzelheiten und Gruppenbilder sehen, die wir anderen wohl auch perzipieren aber nicht apperzipieren. Was das Kind in den ersten Lebenswochen mühsam erlernt, das ist das Sehen und Hören des Durchschnittsmenschen. Aber auch das neugeborene Kind reagiert schon (wenn auch vielleicht nur nach dem Gefühl des Angenehmen und Unangenehmen) auf Schalleindrücke und auf hell und dunkel. Es reagiert auf starke Geräusche und auf den Unterschied zwischen süß und bitter. Der sogenannte Tastsinn gar dürfte schon im Mutterleibe reagieren. Und wer sagt uns, daß sehr starke Licht- und Schalleindrücke nicht auch schon durch den Mutterleib hindurch auf die Organe des Embryos einen Reiz ausüben? Es will mir scheinen, als ob die Geburt des Kindes in seinem Leben zwar gewiß eine höchst wichtige Epoche bilde, aber doch nur eine Epoche wie dann später etwa das Eintreten der Pubertät. Daß aber nicht vergessen werden dürfe, wie die Geschichte des individuellen Lebens, auch des sogenannten Seelenlebens, schon vorher beginnt. Die Zufallssinne sind in der Anlage mindestens schon vorher vorhanden.

Wir werden gleich sehen, daß das Kind Zufallslaute und Zufallslautgruppen hervorbringt, lange bevor es sprechen kann. Da nun das Hervorbringen aller Laute vom sogenannten Willen erzeugt wird, ist es notwendig, darauf hinzuweisen, daß auch die Bewegungen des neugeborenen Kindes Zufallsbewegungen sind, die dann freilich von ehrgeizigen Müttern gern planvoll ausgedeutet werden. Das Kind bewegt gleich nach der Geburt die Muskeln seines Gesichts und die der Ärmchen und Beinchen; selbstverständlich sind da auch schon die Nerven in Tätigkeit, von welchen alle diese Muskeln ressortieren. Es bedarf aber keines Beweises, daß diese Bewegungen keiner Absicht entsprechen, keinem Willen. Denn ebensowenig, wie im Denken oder Sprechen irgend etwas sein kann, was nicht vorher in den Sinnen war, ebensowenig ist im Willen etwas vorhanden, was nicht vorher ebenfalls in den Sinnen war. Solange die Sinne sich nicht in der umgebenden Welt orientiert haben, solange kann auch keine orientierte Bewegung denkbar sein. Das ergibt übrigens auch der Augenschein.

Wir müssen einen Augenblick stehen bleiben, um uns an die Bedeutung des Begriffs "Zufall" - der hier so oft wiederkehrt - zu erinnern. "Zufall" ist ein höchst armseliges Menschenwort, das, auf die Natur angewendet, keinen rechten Sinn mehr hat. Wären wir strenger in unserem Sprachgebrauch, so dürften wir das Wort "zufällig" nur im Gegensatz zu "absichtlich" aussprechen. Von Absichten wissen wir aber nur bei Menschen etwas, nicht in der Natur. Mit einem sehr schlechten Bilde sagen wir also - und das ist der häufigste Gebrauch des Wortes Zufall -, daß z.B. der Blitz in dieses und dieses Haus zufällig eingeschlagen habe. Unsere Weltanschauung verbietet uns jedoch, den Weg des Blitzes anders als aus einer unbedingten Notwendigkeit zu erklären. Wenn wir nun im Laboratorium die Entladung eines Funkens aus der Elektrisiermaschine für notwendig, in der Wirklichkeitswelt jedoch das Einschlagen des Blitzes in ein bestimmtes Haus für zufällig erklären, so meinen wir doch nur, daß wir die Bedingungen des ersten Falls kennen, die Bedingungen des zweiten Falls nicht kennen. Im Gegensatz zu "absichtlich" bedeutet "Zufall" ein Nichtwollen; im Gegensatz zu "notwendig" soll es ein Nichtwissen ausdrücken. Das Gemeinsame des Bildes steckt einzig und allein in der Negation. (Ein dritter Gebrauch des Wortes Zufall, wenn wir nämlich einen Nebenumstand, das heißt etwas, was uns weniger interessiert, z.B. ob der Blitz die Mauer oder das Dach zuerst getroffen habe, zufällig nennen, geht uns hier weniger an, weil alle Welt sich über die Relativität dieses Zufallbegriffs klar ist.)

In der Welterklärung heißt für uns also Zufall alles das, was wir nicht erklären können. Es ist nicht überflüssig, sich das klar zu machen. Denn nicht nur in der Umgangssprache ist mitunter halb wissenschaftlich von einem "Gott Zufall" die Rede, sondern dieser Gott Zufall hat auch in der Geschichte der Welterklärung eine Rolle gespielt. DEMOKRITOS hat etwas zu sagen geglaubt, als er lehrte, daß seine Atome "zufällig" zu den Körpern der Natur sich verbinden. Hätte er sich deutlich gemacht, daß Zufall nur unser Nichtwissen ausdrückt, so hätte er das wohl ausdrücklich gesagt; sein Zufall war ihm aber irgend eine positive Gottheit, und darum ist über diesen Zufall so viel gestritten worden.

Wenn wir uns nun über die Negativität des Zufallbegriffs sind, so werden wir von jetzt ab nicht ohne eine grausige Ironie erkennen, was es mit der Welterkenntnis auf sich hat, die ja doch nur an unserer Sprache haftet wie das Licht an den Körpern. Es ist nämlich einerseits unsere Welterkenntnis nichts anderes als die geordnete Summe dessen, was durch unsere Zufallssinne in unser Denken oder Sprechen eingetreten ist. Die Welterkenntnis eines Eisenstücks oder eines Klumpen Bernstein ist in einer Beziehung reicher als die Welterkenntnis des Menschen, weil das Eisenstück und der Bernsteinklumpen etwas wie "Sinne" haben für die in der Welt vorhandene magnetische und elektrische Kraft. Wir Menschen sehen diese "Energien" nicht; wir lernen sie erst kennen, wenn sie sich in sichtbare Erscheinungen verwandelt haben. Es ist also ein Zufälliges in äußerster Potenz, was wir von der Welt wahrnehmen und was wir  faute de mieux  (aus Mangel an Besserem) unser Wissen nennen. Dieses Zufallswissen haben wir, um es übersichtlicher merken zu können, im Gedächtnis an die Sprache geknüpft. Alle Versuche, die Entstehung der Sprache zu erklären, die Ursprache zu ergründen, gehen aber von dem beneidenswerten Glauben aus, daß erstens unser Denken der Wirklichkeitswelt analog sei, daß zweitens zwischen unserem Denken und unserem Sprechen irgend eine geheime Beziehung bestehe. Wir aber erkennen nun und entsetzen uns darüber, daß: wie unser Denken nur ein Zufallsblick in die Wirklichkeit sein kann, wie der Bedeutungswandel der Sprachgeschichte ein Werk des Zufalls ist, so auch die Sprache aus Zufallslauten hervorgegangen sein muß, wenn wir die Kindersprache mit der Entstehung der Ursache in Vergleichung setzen dürfen.

Möge man sich darüber verwundern. Diese Verwunderung ist ja doch die höchste Geistestat, deren der stolze Mensch fähig ist. Nur daß man sich selten an der richtigen Stelle verwundert.

Es ist also - um diese Zwischengedanken abzuschließen - die Fünfzahl unserer Sinne insofern zufällig, als wir ihre notwendige Beziehung zu der übrigen Entwicklungsgeschichte des Menschen nicht kennen; es sind die Laute und Lautgruppen, welche der Säugling hervorbringt, insofern zufällig, als er sie so und nicht anders unabsichtlich artikuliert. Diese Zufälligkeit der Laute entspricht vollkommen der Zufälligkeit aller anderen Bewegungen im ersten Kindesalter. Mechanisch und anatomisch bewegen sich Ärmchen und Beinchen auch im dummen ersten Vierteljahr ebenso wie später; es fehlt aber jegliche Absicht oder, da wir auch von dieser Tatsache nichts wissen, es fehlt die Übereinstimmung mit irgend welcher Absicht. Eine Ausnahme machen nur die Bewegungen beim Saugen und beim Entleeren, die wir freilich gern dem starken Esel Instinkt aufbürden. Die Bewegung des Greifens, welche das Kind vom vierten Monate an erlernt, ist zwar nicht komplizierter als die Bewegung des Saugens, aber unsere Sprache bezeichnet sie bereits als einen Willensakt, vielleicht weil wir das Kind nach uns beurteilen und ihm eine bewußte Absicht zuschreiben, ein Denken.

Lange noch, nachdem der Säugling mit seinem übrigen Körper zweckmäßige Bewegungen zu machen gelernt hat, dauert das zwecklose, zufällige Hervorbringen von Lauten und Lautgruppen fort. Absichtlich ist in dieser ersten Zeit nur das Schreien des Kindes, und zwar von der Zeit ab, wo der Säugling die Erfahrung gemacht hat, daß sein Schreien irgend ein Unbehagen wie Hunger oder Nässe abstellt. Von diesem Tage an erst ist sein Schreien Sprache, während der Schrei des neugeborenen Kindes, da es ihn selbst nicht hört und nichts von einer Außenwelt weiß, also keine Mitteilung beabsichtigen kann, noch nicht Sprache ist.

Der Zufall jedoch, daß das Instrument für die Atmung zugleich ein Musikinstrument ist, bringt das Kind sehr bald dazu, sinnlos auf diesem Instrumente zu spielen. Das Kind braucht nur beim Ausatmen die Zunge zu bewegen (und es bewegt sie weit lebhafter, als es erwachsene Menschen tun), um ein Geräusch zu erregen, das ihm offenbar Vergnügen macht. Wir sind es gewohnt, dieses Geräusch der kindlichen Sprachwerkzeuge nur dann Lallen zu nennen, wenn wir die hervorgebrachten Töne mit unserem traditionellen Alphabet nicht ausdrücken können; es wird sich empfehlen, auch die nach diesem alphabetischen Schema artikulierten Silben, die absichtslos bis weit ins zweite Jahr hinein spielend ausgeführt werden, gleichfalls doch ein Lallen zu nennen. Man hat nun die Seele des Kindes bis zum Ablauf des ersten Jahres oft mit der Tierseele verglichen. Je mehr ich aber geneigt bin, das Seelenleben der Tiere höher einzuschätzen, als es gewöhnlich geschieht, desto lebhafter muß ich solche Nebeneinanderstellungen im einzelnen zurückweisen. Unbedingt hat das Kind dasjenige mit dem Tiere gemein, was ich das ältere Artgedächtnis genannt habe; und wieviel von dem jüngeren Artgedächtnis noch tierisch ist, das wird sich in abstrakten Begriffen kaum ausdrücken lassen.

Die individuelle Entwicklung des Menschenkindes geht jedoch sofort nach der Geburt ihre eigenen Wege. Äußerlich hat es die Volubilität der Zunge geerbt und beginnt die künftige Sprache zufällig einzuüben; innerlich gar ist ein Unterschied vorhanden, den jede Amme kennt. Das Kind erlernt nämlich ungleich schneller das Verstehen der Sprache als ihren Gebrauch. Einige Kunststückchen ("Wie groß ist das Kind?" - "Bitte, bitte!") lernt das Kind auf Befehle der Eltern nach dem ersten Jahre ausführen, während es die Worte "groß" und "bitte" selbst nach dem zweiten Jahre nicht immer auch nur mangelhaft nachspricht. Es wäre Sache der Physiologen, mit der Methode von FLECHSIG am Kindergehirn nachzuweisen, daß die Nervenbahn vom Ohre zum "Zentrum" rascher und vollständiger entsteht als die Bahn vom Zentrum zum Sprachorgan, und diese wieder (entsprechend anderen Beobachtungen) rascher als vom Zentrum des Sehorgans zu dem Sprachorgan. Doch auch solche physiologische Entdeckungen würden nichts erklären, würden nur genauer beschreiben, was wir heute schon wissen: daß nämlich das Kind die Sprache früher versteht, als aktiv gebraucht. Eine ähnliche Erscheinung bietet auch jeder Erwachsene, wenn er eine fremde Sprache lernt; er versteht sie früher, als er sie sprechen kann. Beim Erwachsenen kann freilich der Grund auch darin liegen, daß ein ungefähres Verstehen der Hauptsilben eines Satzes den Sinn schon erraten läßt, daß aber das Stammeln der bloßen Hauptsilben (wie es in der Praxis oft genug geschieht) gegen den Bildungsstolz des Lernenden wäre. Das Kind jedoch versteht und befolgt den Zuruf "Wie groß ist das Kind?" bevor es noch die Hauptsilbe "groß" auch nur verstümmelt als "oo" nachzusprechen vermag oder versucht. (Wobei ich bemerkt, daß das mit der Beschränktheit eines Erwachsenen gesagt ist; denn wir vermuten den Versuch einer Nachahmung erst dann, wenn wir eine Ähnlichkeit wahrnehmen. Vielleicht hat aber du Kind schon "oo" nachzuahmen versucht, wo es "brr" gesagt hat. Die Seele des Kindes ist uns anfangs so verschlossen wie die des Tieres.)

Es liegt also ein bis zwei Jahre die Tatsache vor, daß das Kind eine Anzahl Worte seiner Muttersprache bereits versteht (wenn auch nicht immer richtig versteht), sich etwas bei ihnen denkt, während es die gleichen Lautgruppen nicht nachzuahmen, wohl aber zufällig vor sich hinzulallen vermag. PREYER hat nun nach Beobachtungen an einem einzigen Kinde eine niedliche Tabelle solcher Zufallssilben aufgestellt und sie unglücklicherweise häufig als Ursilben oder Urworte bezeichnet. Die Voraussetzung PREYERs ist aber ganz verkehrt. In notwendiger Abhängigkeit von unbekannten Feinheiten der Nerven und Muskeln eines Kindes ist es, zufällig also für unser Wissen, ob das eine Kind beim Lallen mehr die Lippen oder mehr die Zunge bewegt. Hat es aus solchen zufälligen Umständen die Gewohnheit angenommen, die Zungenspitze irgendwo an das Zahnfleisch zu legen, so werden D-Laute entstehen; arbeitet es mehr mit den Lippen, so kommen B-Laute heraus. Unter den Lippenlauten ist dann wahrscheinlich der labiale. Nasal in leichter zustande gebracht als das p. Wenn nun z.B. das Kind bereits im zweiten Monate das Zufallswort "mamamama" lallt, im neunten Monate "papapa", so hat das mit dem Sprachworte Mama und Papa nicht das Mindeste zu schaffen. Noch im Anfang des zweiten Jahres, wenn das Kind Mama und Papa richtig hört und die Personen richtig zeigt, kann es die Laute nicht immer richtig nachsprechen, die es Monate vorher gelallt hat.

Die angeblichen Onomatopöien oder Klangnachahmungen der Kinder dürfen uns nicht irre machen. Teils gehören sie dem Gebiete des Kinderstubenlatein an, teils fallen sie in eine spätere Zeit des Sprechenlernens. Niemals würde ein Kind von selbst darauf kommen, den Klang des Pendelschlags ticktack zu nennen.

Grundfalsch ist es, wenn PREYER dieses Sprechenlernen der Kinder mit ihrem Schreibenlernen vergleicht, weil in beiden Fällen keine neue Erfindung gemacht werde. Das Kritzeln, zu welchem übrigens nicht einmal alle Kinder Gelegenheit haben, hat nicht die entfernteste Beziehung zur Sprache, nicht einmal zur Schrift; das Lallen jedoch übt die Laute und Silben der künftigen Sprache im Spiele bereits vollständig ein.

Hoffentlich wundert sich niemand darüber, daß der Säugling bei seinem Lallen gerade die Laute seiner künftigen Menschensprache einübt und nicht etwa das Schnattern und Heulen und Zwitschern und Brüllen der Tiere. Es sind ja die menschlichen Sprachorgane im wesentlichen gleich gebaut und so wenig auf einer Flöte ein Paukenschlag geblasen werden kann, so wenig ist es dem Instrument des Säuglings natürlich, Tierstimmen nachzuahmen. Innerhalb der Zufallslaute eines Säuglings müßte sich die angenommene Ursprache der Menschheit bewegt haben.

Damit sind wir auf Umwegen da angelangt, wo wir den Begriff der Zufallslaute klarer als bisher von der Kindersprache auf die Ursprache übertragen können. Zugleich wird der Charakter der Zufälligkeit teilweise aufgehoben, weil wir das Selbstverständliche nun anschaulicher vor uns haben, daß nämlich die Zufallslaute abhängig sind vom Bau des menschlichen Sprachinstruments. Zufällig sind sie nur insofern, als wir ihre mechanisch-mathematische Formel nicht kennen. So geht es uns aber doch auch bei anderen Musikinstrumenten. Wir können die Klangfarben der Flöte, der Geige, der menschlichen Stimme noch nicht in mathematische Formeln fassen; dennoch sagen wir mit voller Sicherheit, irgend ein Stück sei gut oder schlecht für die Flöte, die Geige, die menschliche Stimme komponiert. Hat aber der Komponist das Instrument, für welches er schrieb, als eine gegebene Tatsache vor sich, so ist unser Sprachwerkzeug im unendlichen Gange der Entwicklung gewissermaßen zugleich Instrument und Produkt der menschlichen Sprache geworden. Die Sprache ist also gar nicht in der Lage, für ihr Instrument ein Stück zu komponieren, das seinem Charakter nicht entspräche.

Könnten die menschlichen Kinder aufwachsen, ohne von ihrer Umgebung auch die entwickelte Sprache mit zu übernehmen, so müßte aus ihren Zufallslauten immer wieder eine neue Ursprache entstehen, und keine wäre der anderen ähnlich. Der Begriff der Ursprache löst sich uns also an dieser Stelle in den eines zufälligen Anfangs auf. Die Frage, ob alle Menschensprachen der Erde von einer einzigen Ursprache abstammen oder nicht, wird gegenstandslos, weil in dem einen wie dem anderen Falle nur wenige Zufallslaute an den Anfang zu stehen kommen, so daß selbst bei der Annahme eines uranfänglich einheitlichen Beginns die Zufallsdifferenzen schon zu einer Zeit auftreten müßten, die für die Gegenwart ebensoweit zurückliegt. Es mag der Adler glauben, daß er der Sonne näher kommt als etwa das auffliegende Huhn; für die Sonne selbst ist Adler und Huhn der Erde gleich nahe.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906