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HANS VAIHINGER
Philosophie und Naturwissenschaft

Indem ich mit großer Wärme und klarem Verständnis geschriebene, sehr anziehende und interessante Schrift von CARL GUSTAV REUSCHLE, "Philosophie und Naturwissenschaft" (Zur Erinnerung an David Friedrich Strauss), Bonn 1874, zur Anzeige bringe, erfülle ich zugleich eine Pflicht der Dankbarkeit des Schülers gegen den Lehrer, dem er die erste Anregung zu naturphilosophischen Studien verdankt. REUSCHLE selbst von Haus aus Theologe, wie STRAUSS, ist ohne Zweifel sehr in der Lage, über das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft zu sprechen, da er nicht nur ein anerkannter Schriftsteller und Forscher auf dem Gebiet der Physik und Mathematik ist, sondern auch eine philosophische Schulung genossen und die Entwicklung der Philosophie seit HEGEL aufmerksam verfolgt hat. Die Schrift, die der Verfasser gewissermaßen den Manen seines Freundes STRAUSS widmet, will mit stetem Bezug auf die Vereinigung der Philosophie mit der Naturwissenschaft in der Weltanschauung von STRAUSS das jetztige Verhältnis beider besprechen und an einigen hervorragenden Beispielen zur Anschauung bringen. Umrahmt ist die Darstellung dieses Verhältnisses zur Einleitung und zum Schluß durch biographische Notizen über STRAUSS und durch eine Analyse seiner Stellung in der Entwicklung des deutschen Geistes. In der genannten Einleitung parallelisiert REUSCHLE STRAUSS mit LESSING in theologischer Kritik und Polemik, in sprachkünstlerischer Produktion, in philosophischer Haltung. Die Zusammenstellung von STRAUSS und LESSING ist jedenfalls eine geistreiche und viel berechtigter, als die mit VOLTAIRE, welche REUSCHLE mit Recht zurückweist; er unterläßt es jedoch nicht, auch auf die Differenzpunkte zwischen beiden hinzuweisen. Ich gehe auf die beiden ersten Vergleichungspunkte nicht näher ein; doch möchte ich darauf hinweisen, daß die Bedeutung LESSINGs für die positive Weiterentwicklung der spekulativen Theologie bei weitem größer ist, als diejenige von STRAUSS, dessen Bedeutung in jener Hinsicht nur eine negative ist. Während KANT, SCHELLING und teilweise auch SCHLEIERMACHER und HEGEL LESSINGsche Gedankenkeime entwickelt haben, besonders über das Wesen der Religion, die Stellung des Christentums in der Weltgeschichte und die Person Christi, so ist bei STRAUSS eine ähnliche Einwirkung auf die positive Entwicklung der Theologie nicht aufzufinden. Diesen Differenzpunkt im theologischen Wirken beider finde ich bei REUSCHLE nicht klar hervorgehoben. Was den zweiten Vergleichspunkt (die sprachkünstlerische Produktion) betrifft, so stellt REUSCHLE mit Recht die Biographien von STRAUSS in Parallele mit den dichterischen Werken LESSINGs, indem er jene als wesentlich künstlerische Produkte definiert aufgrund einer allerdings nicht unangreifbaren Einteilung der Künste in "bildende" und "lautende". STRAUSS war in der Tat, wie REUSCHLE hervorhebt, eine eminent künstlerisch angelegte Natur, wie nicht nur seine meisterhafte Analyse der deutschen Dichter und Musiker in seinem "alten und neuen Glauben" beweist,, sondern auch seine hübschen Gedichte, deren einige in die Öffentlichkeit gedrungen sind. In Bezug auf den dritten Punkt sagt der Verfasser: "Keiner von beiden hat ein förmliches philosophisches System ausgearbeitet, aber jeder hat eine abgerundete Weltanschauung in sich ausgeprägt und die gesamten, philosophischen Erscheinungen seiner Zeit mit kritischem Geist überschaut." etc. "Beide huldigten in ihren jüngeren Jahren der herrschenden Zeitphilosophie; beide schritten im Verlauf der Jahre darüber hinaus und zwar nach derjenigen Seite, welche, vom theologischen Standpunkt betrachtet, weiter nach links geht!" "Was der Spinozismus bei Lessing ist, das ist der naturwissenschaftliche Monismus bei Strauss." etc. Diese Parallelisierung von STRAUSS und LESSING ist sehr geistreich, und wird, wie ich am Ende zeigen werde, auch auf die eigentliche Bedeutung von STRAUSS in der Philosophie ein helleres Licht werfen. Der zuletzt hervorgehobene Vergleichspunkt - die Wandlung der Anschauungen bei beiden im Laufe der Zeit - ist ein Beweis für die Freiheit des Geistes beider Männer, welche, weil sie ihre Weltanschauungen nicht frühzeitig abgeschlossen haben, sich gegen das Neuere noch ablehnend verhalten haben, sich dem Einfluß des Fortschritts offen erhielten. Nicht selten hört man das "wissenschaftliche Charakterlosigkeit" nennen; aber worin liegt mehr Charakter, sich einer bestimmten Richtung für das ganze Leben anzuschließen und sich exklusiv gegen die Fortschritte der Erkenntnis zu verhalten, oder selbst noch im Mannesalter sich zu entschließen, die bisherige Anschauung als unwahr wegzuwerfen und sich ein neues System zu bauen, und zu bekennen, daß man früher geirrt hat? Nur muß man dann nicht Unvereinbares zu vereinigen suchen, nur muß das Alte nicht im Widerspruch mit dem Neuen stehen. Ich kannte einen Professor für Philosophie, auf den seiner Zeit das philosophische Publikum die größten Hoffnungen setzte und von dem man die Restauration der nach HEGELs Tod zusammenstürzenden spekulativen Philosophie erwartet hat. Als aber die Entdeckungen der Naturwissenschaften und der enorme Fortschritt der neueren Empirie kam, entschloß er sich, sein damit im Widerspruch stehendes philosophisches, idealistisches System zurückzuziehen und von Neuem an die Arbeit zu gehen. Das nenne ich Charakter. Daß derselbe jedoch mitten in der Arbeit steckend geblieben und so noch halb Idealist, halb Empirist ist, ist ein Beweis davon, wie gefährlich eine solche Operation ist. Und daß auch STRAUSS sich nicht ganz vom Hegelianismus freigemacht hat und sich gewissermaßen exklusiv gegen Neueres zur Sprache bringen. Von großem Interesse ist die Darstellung des Entwicklungsganges von STRAUSS, die allerdings nur Bekanntes bringt, da STRAUSS sich nie scheute, der Welt seine Entwicklung klar vorzulegen. Nach dieser Parallele geht REUSCHLE über zum eigentlichen Zweck seiner Schrift, zur Darstellung der gegenseitigen Beziehungen von Philosophie und Naturwissenschaft in jüngster Zeit, die er dahin formuliert "daß das spekulative Element bei den Naturforschern wieder auflebt und gleichzeitigt das empirische Element in die Philosophie eindringt." Beides sucht REUSCHLE nachzuweisen. Der erste Hauptabschnitt (die Philosophie und die Naturwissenschaft) ist bei weitem der bedeutendere, ein wahrer Glanzpunkt darin ist der physikalische Abschnitt, da die Physik das spezielle Gebiet des Verfassers ist. Daß die Philosophie auch bei den empirischen Naturforschern ein bedeutendes Element ist, hat insbesondere schon LANGE in seiner "Geschichte des Materialismus" nachgewiesen und speziell auf die rein philosophische Bedeutung der neueren naturwissenschaftlichen Theorien von MEYER, HELMHOLTZ, DARWIN usw. die Aufmerksamkeit gelenkt. Es ist daher nichts wesentlich Neues, was der Verfasser in dieser Beziehung sagt. Obgleich aber die Schrift für ein weiteres Publikum geschrieben ist, so ist sie nichtsdestoweniger auch für den Fachmann von großem Interesse und hohem Wert, da der Verfasser das ganz naturwissenschaftliche Gebiet mit seltener Sicherheit beherrscht und insbesondere eine Masse an Analogien zwischen der Astronomie und Biologie nachgewiesen hat, die für den Forscher von großer Bedeutung sind. Ich möchte daher jedem die Broschüre empfehlen, die eine gedrängte Darstellung der neueren Naturwissenschaften in Bezug auf die höchsten Prinzipien leisten will und selbst der, der mit dem Gebiet vertraut ist und sachlich nichts Neues darin findet, wird schwerlich ohne Anregung das Büchlein aus der Hand legen. Im ersten (physikalischen) Abschnitt behandelt der Verfasser zunächst die Vereinfachung der Prinzipien durch eine Zurückführung des Magnetismus auf Elektrizität, die Zurückführung des Lichts auf bestimmte Molekularverhältnisse, die mechanische Wärmetheorie, die Erhaltung der Kraft, die Unterordnung des Lichts unter die Wärme usw. Von besonderem Interesse ist die Definition der drei Aggregatzustände. "Fest" ist ein Körper, "wenn der Radius der Wirkungssphäre jedes Moleküls die Entfernung seiner Nachbarmoleküle übertrifft". "Flüssig" ist ein Körper, "wenn der Abstand der Moleküle dem Radius ihrer Wirkungssphären gleich oder nahezu gleich geworden ist". "Gasförmig" ist ein Körper, "wenn die Entfernungen der Moleküle von einander größer geworden sind als die Radien etc." Die Lehren der neueren Molekularphysik und insbesondere die Zurückführung chemischer Kräfte auf die gleiche Kraft mit der Gravitation sind hier klar und bündig vorgetragen, obwohl allerdings der Begriff der Kraft, des Atoms usw. ziemlich schnell abgemacht sind. Weiterhin ist die Theorie der Sympathie der schwingenden Bewegungen zur Erklärung der Farben und der Wärmeabsorption vorgetragen, dann die Äthertheorie in ihrer rektifizierten [korrigierten - wp] Gestalt usw. Auffallend ist mir, daß der Verfasser das Problem des leeren Raumes mit den ganz dogmatisch klingenden Worten abmacht: "Vom absolut leeren Raum könnte vernünftigerweise nicht die Rede sein." Und doch hat er selbst die verschiedenen Aggregatzustände durch kleinere oder größere Abstände der Moleküle erklärt: also nimmt die Molekularphysik den leeren Raum in ihre Theorie auf und vermag ihn auch durch den Äther nicht auszufüllen. In der Tat ist das Problem des leeren Raumes noch immer, wie bisher, ein Hauptproblem der Naturphilosophie und BAUMANN hat die enorme Bedeutung dieses Problems bei den früheren Philosophen, TRENDELENBURG und LANGE bei den neueren Philosophen und Naturforschern aufgezeigt. Das Problem eng zusammenhängend mit dem Problem der Kraft durch den Begriff der actio in distans [Fernkraft - wp], ist durch die neuere Molekularphysik so wenig gelöst, daß diese es sogar geschärft hat. Man wagt sich an dieses Problem nur nicht gern heran, da es das schwierigste in der Naturphilosophie ist, aber ohne Zweifel wird es über kurz oder lang wieder ein Gegenstand der allgemeinen Diskussion werden. Auch die Naturforscher streiten sich noch immer darüber, ob die Einwirkung der Sonne auf die Erde und überhaupt die Planeten vermöge der Gravitation bloß durch die Zwischenvermittlung schwingender Ätheratome erklärt werden kann, oder ob noch eine actio in distans anzunehmen ist. Das Erstere reicht nicht aus zur Erklärung und das Letztere ist eine abenteuerliche Vorstellung die doch gewissermaßen notwendig anzunehmen ist. Im zweiten Abschnitt behandelt der Verfasser dann die Philosophie in der Uranologie, die Identität der terrestrischen und der kosmischen Stoffe und Kräfte, die Kometentheorie von ZÖLLNER, dessen epochemachendes Werk der Verfasser sehr häufig zitiert, die Zurückführung auffallender Erscheinungen auf allgemein bekannte Gesetze, die Spektral- als Solar- und Stellaranalyse, die Meteore etc. und zuletzt die Zerstörung und Neubildung im Weltall, ein Kapitel, das durch die mechanische Wärmetheorie bekanntlich sehr erweitert worden ist, und für die Metaphysik, für die Philosophie der Geschichte und Ethik von größter Bedeutung ist. In einem dritten Abschnitt geht der Verfasser auf die Philosophie in der Biologie über, indem ihn die stetige, wenn auch noch so langsame Veränderung der früher für konstant gehaltenen astronomischen Größen auf die Veränderung der für konstant gehaltenen Arten überleitet. Letztere ist ihm eine dogmatische Auffassung statt der philosophischen Anschauung von DARWIN. Mit Recht bemerkt der Verfasser man habe von jeher an der Stufenfolge der Organismen ein lebhaftes Interesse genommen. Diese Stufenfolge bekommt aber ihre volle Bedeutung nur dann, wenn sie auf innerer Entwicklung des Höheren aus dem Niederen beruth, wenn sie nicht bloß eine gedachte, sondern eine reale, faktische Abstammung ist. Er vergleicht die Schlüsse der vergleichenden Anatomie mit den Schlüssen der Astronomie, die aus dem gemeinschaftlichen Typus der Planetenbahnen auf einen gemeinsamen Ursprung der Körper unseres Sonnensystems schließt. Er erkennt an, daß am Anfang und am Ende der natürlichen Entwicklungsgeschichte sich die Schwierigkeiten häufen; bei der Frage nach der Urzeugung und beim Übergang vom Tier zum Menschen. Aber in Bezug auf die erstere erinnert er an die Unmöglichkeit, jetzt einen Diamanten künstlich herzustellen, obwohl niemand annimt, er sei durch einen Schöpfungsakt entstanden, und in Bezug auf die zweite Schwierigkeit macht er die feine Bemerkung: "wem die neue Ansicht von der organischen Spezies und von der daraus fließenden Gliederung der organischen Reihe nur dann plausibel erscheint, wenn der Mensch dabei aus dem Spiel gelassen wird, der gleiche dem Astronomen Tycho Brahe, welcher den einen Satz des neuen kopernikanischen Weltsystems annahm, daß die Planeten Trabanten der Sonne sind, aber den andern, mit Aufregungsstoff geladenen Satz verwarf, daß die Erde auch einer jener Planeten ist." In der Tat eine sehr geistreiche Analogie. Weiterhin bespricht dann der Verfasser die Weiterentwicklung des Menschengeschlechts, die Teleologie usw. in sehr anregender Weise. Der zweite Hauptabschnitt "die Naturwissenschaft in der Philosophie", ist dem ersten gegenüber etwas mager ausgefallen, obwohl der Verfasser das Problem der Entropie, das gar nicht hineingehört, hineingestopft hat. Er weist darin auf den naturwissenschaftlichen Geist der neueren Philosophie hin, an deren Spitze STRAUSS mit seiner Philosophie des Universums steht. Habe ich bisher dem Verfasser zugestimmt, insbesondere seine äußerst lichtvolle Darstellung der neueren Naturphilosophie anerkannt, so muß ich hier drei Bemerkungen machen, die gegen seine Darstellung gerichtet sind. Erstens mangelte es ihm in diesem Abschnitt offenbar am Material; sonst hätte er nicht die Versuche HERBARTs, BENEKEs und die empirische Methode in der Ästhetik und in der Psychologie, Psychophysik und ähnliche rein empirische Behandlungen bisher deduktiv behandelter Gebiete übergangen, umsomehr, als gerade in den genannten Gebieten die Philosophie mit der Naturwissenschaft einen Bund geschlossen hat, der jedenfalls unbestrittener ist, als der von ihm angenommene, der sich bei STRAUSS finden soll. 2. Aus demselben Grund hat er auch den Satz aufgestellt, STRAUSS sei der erste Philosoph, der den Bund der Philosophie mit der Naturwissenschaft vertritt. Aber schon COMTE, WUNDT, MILL, ÜBERWEG, DÜHRING und eine ganz beträchtliche Menge jüngerer Kräfte haben ihre wesentliche Übereinstimmung mit den Resultaten der Naturwissenschaft ausgesprochen und zum Teil in Systemen dargelegt. 3. Als der Hauptmangel der Schrift aber erscheint mir die Auffassung von STRAUSS als Philosophen. STRAUSS, den ich aus persönlichem Umgang kenne und hochschätze, hätte sich ebenso gegen den Titel Philosoph gesträubt, "wie gegen den eines Dichters", wie REUSCHLE selbst sagt. Denn das wußte STRAUSS sehr gut, daß sein "alter und neuer Glaube" keine eigentlich philosophische Leistung ist, sondern nur eine schriftstellerische; das Buch hatte nur deshalb den enormen Erfolg und nur aus dem grund wurde ihm auch ein so großer Wert beigelegt, weil ein Mann wie STRAUSS es geschrieben hatte. Das Buch ist nichts als eine allgemeinverständliche populäre Zusammenfassung der naturwissenschaftlichen Resultate, der Resultate der Kritik, wie er sie selbst geübt hat in Bezug auf das Christentum, und der Ergebnisse der vergleichenden Religionsgeschichte etc.; aber STRAUSS selbst hat es nie im Ernst für eine philosophische Leistung ausgegeben. Die Vermeidung aller Metaphysik, jeder Erkenntnistheorie und aller tiefer in das Wesen der Wissenschaft eingreifenden Begriffe ist so offenbar, daß es rein unmöglich und sogar gegen STRAUSS selbst ungerecht ist, darin Philosophie zu sehen. Gerade in der Parallele von STRAUSS mit LESSING liegt ein weiterer Grund hierfür vor. LESSING war in noch viel höherem Grad Philosoph, da von ihm selbständige Gedanken und Keime ausgegangen sind, die nachher zur Entwicklung kamen, während bei STRAUSS absolut nichts Neues enthalten ist und aus dem "alten und neuen Glauben" neue Keime zur Gedankenentwicklung nicht entnommen werden können. Der Schriftsteller und Kritiker überragt bei STRAUSS den Philosophen weit. Seine philosophische Bildung war ihm eine Grundlage für seine theologische Kritik, seine biographischen Leistungen und seine schriftstellerischen Werke, zu denen der "alte und der neue Glaube" gehört. Er nannte daher das Buch auch nur ein "Bekenntnis", nicht ein "philosophisches System". Auch hat STRAUSS seinen Hegelianismus durchaus nicht ganz abgestreift; seine etwas superfizielle [oberflächliche - wp] Verwerfung des Pessimismus beweist, daß er sich in den Geist der Werke von SCHOPENHAUER, HARTMANN hineinzuarbeiten durch seinen hegelschen Optimismus verhindert war. Hätte man das Buch nicht als philosophische Leistung aufgefaßt, so hätte es auch nie jene allseitige Zurückweisung erfahren, in der ich eben nur den Ausdruck dafür sehe, daß man eingesehen hat, daß der "alte und neue Glaube" nicht ausreicht zur Begründung einer streng logischen Weltanschauung, da das Buch nur Naturwissenschaft gibt, aber zu wenig Philosophie. Ich glaube, daß das Buch auch deshalb so merkwürdig ist, weil sein Erscheinen einen Markstein der Entwicklung abgibt. Schon einmal war STRAUSS der "Flügelmann einer Schwenkung gewesen, die der Zeitgeist gemacht hat". Aber das erstemal schwenkte die Welt vom Christentum, vom spekulativen Idealismus ab zu einer nüchternen, empirischen, historischen Betrachtung; STRAUSS leitete mit seinem "Leben Jesu" die Selbstzersetzung des transzendentalen, apriorischen Idealismus ein, von da an legte sich der Zeitgeist auf die andere Seite, auf Empirie, Beobachtung und endete im Materialismus. Ich glaube, daß STRAUSS, ohne es zu wissen, und ohne es zu wollen, auch diesmal den Flügelmann gemacht hat; die Entwicklung geht jetzt einen anderen Weg; man kehrt aus der Peripherie ins Zentrum zurück; gerade die Zurückweisung des platten Materialismus, wie sie sich allgemein ausgesprochen hat, bezeichnet diese Wendung. Nicht nur, indem STRAUSS in seiner Darstellung materialistisch zu Werke gegangen ist und die Unzulänglichkeit des Materialismus für die Befriedigung des Denkens nachgewiesen hat, ohne das zu wollen, nicht nur indem seine eigene Darstellung auf die verlangte Vereinigung von Philosophie und Naturwissenschaft hinwies, und es als Aufgabe für die zukünftige Philosophie hinstellte, die Resultate der Naturwissenschaft mit den Idealen der Ethik und mit den Anforderungen der Erkenntnistheorie, sowie mit den Grundbegriffen der Metaphysik in Verbindung zu setzen - durch beides, sage ich, hat STRAUSS die Wendung des Zeitgeistes ausgedrückt. Und in der Tat sind die meisten jüngeren philosophischen Kräfte damit beschäftigt, die Resultate der Naturwissenschaft für die Philosophie flüssig zu machen, nicht bloß die Neukantianer, deren Hauptvertreter LANGE, COHEN, MEYER sind, gehen mehr oder weniger darauf aus, diese Vereinigung zu bewirken, sondern auch eine Menge junger Kräfte, die unbewegt durch die durch KANT mit mehr oder weniger Willkür gezogenen Schranken in einem optimistischen Vertrauen auf die Kraft des menschlichen Denkens eine neue Grundlage für eine zeitgemäße Philosophie zu gewinnen suchen. Diese gehen von der Ansicht aus, daß die Philosophie aus der Naturwissenschaft neue Impulse empfangen hat und daß sie zu dieser im gleichen Verhältnis steht, wie Antäus zur Mutter Erde, dessen Kraft nachgelassen hat, wenn er sich von ihr entfernte, der aber immer neue Kraft empfing, wenn er sie wieder berührte und auf ihr fußte. Es ist ein Verdienst REUSCHLEs, auch von Seiten der Naturwissenschaft aus auf dieses Verhältnis aufmerksam gemacht zu haben, denn es ist immer von Neuem nötig, die Philosophie aus transzendenter Höhe auf die Erde zurückzuführen.
LITERATUR - Hans Vaihinger, Philosophie und Naturwissenschaft, Philosophische Monatshefte, Bd. X, Berlin 1874