ra-2ra-3ra-1H. Gomperzvon KirchmannE. LaskF. MünchA. Ross    
 
JAIME BALMES
Der praktische Verstand

"Wir können nie genug vor leeren Abstraktionen, vor rein erfundenen Systemen auf der Hut sein. Suchen wir stets die Sachen so aufzufassen, wie sie sind, nicht, wie wir sie uns wünschen oder erträumen. Im letzteren Fall stehen die Vorstellungen, welche wir uns bilden, immer im Widerspruch zur Wirklichkeit und unsere noch so reiflich erwogenen Pläne lösen sich in Nebel auf."

"Um nicht der Spielball einer Täuschung zu sein, müssen wir unsere Vorstellungen mit der Wirklichkeit in Einklang bringen. Die Unfähigen im Geschäft aber lassen fast immer die Wirklichkeit außer Acht, um sich nur mit ihren Vorstellungen zu beschäftigen. Während es darauf ankommt, die Dinge zu betrachten, wie sie sind, beschäftigen sie sich nur damit, wie sie sein sollten oder sein könnten."


§ 1.Was ist praktischer Verstand? Praktisch nennen wir den Verstand, insofern er in das wirkliche Leben, in die menschlichen Handlungen eingreift, wobei es auf zwei Fragen ankommt:
    1) Welchen Zweck haben wir bei unseren Handlungen?
    2) Welches ist das beste Mittel, diesen Zweck zu erreichen?
§ 2.Einen bestimmten Zweck im Auge zu haben ist nicht immer leicht. Wir sprechen hier nicht von einem letzten Zweck des Menschen, der ewigen Glückseligkeit; die Religion allein kann uns dahin führen. Es handelt sich hier um untergeordnete Zwecke, z. B. daß man sich eine gebührende Stellung in der Gesellschaft erwirbt, daß man irgendein Unternehmen zu einem glücklichen Ende führt, daß man sich mit Ehren aus einer schwierigen Lage herauswindet, daß man sich feste Grundsätze bildet für das öffentliche- oder Privatleben usw.

Beim ersten Anblick scheint es, daß jeder Handlung eines vernünftigen Wesens ein bestimmter Zweck zugrunde liegt, und doch lehrt uns die Erfahrung, daß selbst unter den tatkräftigen Menschen diejenigen überaus selten sind, welche dem Zufall nur einen Teil ihres Vermögens und ihrer Person Preis geben.

Wir sehen Menschen auf dem Gipfel der Macht und des Ruhmes und wir nehmen an, daß sie in allen Dingen einen wohlüberlegten Plan befolgten. Wir unterstellen bei ihnen tiefe und umfassende Entwürfe, einen wunderbaren Scharfsinn im Erkennen der Hindernisse, im Abwägen der Mittel, über die sie zu verfügen haben ... Irtum!

Unter allen Umständen und Verhältnissen, sei es im Glanz oder in der Niedrigkeit des Lebens, bleibt der Mensch, was er ist, das heißt, ein schwaches und höchst beschränktes Wesen. Er kennt sich selbst nicht; er hat fast nie einen richtigen Begriff von dem, was er vermag; bald überschätzt er, bald unterschätzt er seine Kräfte. Er weiß weder, wohin er geht, noch wohin er gehen soll und lebt in ewigen Zweifeln und in ewiger Ungewißheit. Selbst seine teuersten Interessen verkennt er gar häufig, und seine Unkenntnis von dem, was er kann, steigert sich nur durch die Zweifel über das, was er will.

§ 3.Prüfung des Sprichtworts: Jeder ist seines Glückes Schmied. Es ist falsch, daß der eigene Vorteil ein untrüglicher Führer ist und daß er denjenigen, der den Eingebungen seines Privatinteresses Folge leistet, immer vor Irrtum bewahrt. Hier, wie überall, wandeln wir im Dunkeln. Haben wir nicht oft, indem wir den eigenen Vorteil suchten, gerade das Gegenteil herbeigeführt?

Nichtsdestotrotz ist das Sprichwort wahr: "Glücklich oder Unglücklich, du bist der Sohn deiner Werke; ein jeder Mensch ist seines Glückes Schmied."

In der moralischen, wie in der physischen Welt ist der Zufall nur ein leeres Wort. Der Wellenschlag der menschlichen Dinge zerstört zwar zuweilen die vorsichtigsten Pläne und vernichtet die Frucht der reiflichsten Überlegung, der verdienstlichen Tätigkeit, während er andere Entwürfe, andere Arbeiten und Anschläge von geringerem Wert begünstigt; aber das ist bei weitem nicht so allgemein, wie man sagt oder zu glauben scheint. Eine aufmerksame Beobachtung des Laufes der Welt würde ohne Zweifel viele Urteile berichtigen, die man sich allzu leichtsinnig von den Ursachen des Glücks oder Unglücks, das sich an gewisse Personen heftet, zu bilden pflegt.

Es gibt keinen Unglücklichen, der nicht, wenn man ihn sprechen hört, das Opfer seiner Nebenmenschen oder des Schicksals wäre. Sehen wir aber nicht bei den Meisten, sobald wir ihren Charakter, ihre Sitten, ihren Verstand, ihre Gewohnheiten, ihre Reden, ihre Familienverhältnisse gründlich erforschen, daß wir ohne große Mühe, wo nicht alle, zumindest einige Ursachen ihres Unglückes aufführen können?

Wir richten unser Auge bloß auf das Ereignis, welches über das Schicksal einer Person entscheidet, ohne zu erwägen, daß eben jenes Ereignis durch viele andere früher schon dagewesene Ursachen vorbereitet wurde oder daß es seinen entscheidenden und verderblichen Einfluß der besonderen Stellung verdankt, worin sich der Unglückliche infolge früherer Irrtümer, Fehler oder Vergehen befindet.

Es ist höchst selten, daß unserem Glück oder Unglück nur eine einzige Ursache zugrunde liegt. Am häufigsten gibt es eine unendliche Zahl von Ursachen der verschiedensten Art. Da man aber den Faden der Ereignisse durch die bunten und beweglichen Gestalten des Lebens nicht verfolgen kann, so bezeichnet man als einzige oder Hauptursache, was oft nur eine einfache Veranlassung ist: Der Wassertropfen in dem bis an den Rand gefüllten Gefäß.

§ 4.Ein Mensch, der allgemein verhaßt ist. Sieh dir jenen Menschen an! Seine früheren Freunde sind ihm entfremdet oder gleichgültig gegen ihn. Seine Verwandten hassen ihn und in der Gesellschaft nimmt keiner seine Partei. Ja, sein bloßer Name erweckt ein allgemeines Mißbehagen. Höre ihn selbst. Wem verdankt er diese trostlose Stellung? Der Ungerechtigkeit der Menschen, dem Neid, welcher ein fremdes Verdienst nicht vertragen kann, dem allgemeinen Egoismus, der seiner Eigenliebe die Familie, die Freundschaft und Dankbarkeit zum Opfer bringt. Er klagt das Menschengeschlecht an, daß es sich gegen ihn verschworen hat, daß es sich vorsätzlich weigert, seine Verdienste, seine Tugenden, die Erhabenheit seines Geistes und Herzens anzuerkennen. Offenbart nicht vielleicht diese Schutzrede selbst, wieviel Wahrheit in derselben enthalten ist? Sind nicht Eitelkeit, Übermuth, rauhes, aufbrausendes Wesen die Grundzüge jenes Charakters? Füge seine Sucht zu schmähen und zu tadeln hinzu und du begreifst vollkommen den Haß der Einen, die Gleichgültigkeit der Anderen, kurz die traurige Verlassenheit, welche dieser Mensch zu spät zum Gegenstand seiner Klage macht.

§ 5.Jemand, dessen Vermögensumstände zerrüttet sind. Dieser hier behauptet: "Übertriebene Gutmütigkeit, Untreue eines Freundes, unvorhergesehe Verluste hätten ihn zugrunde gerichtet, indem dadurch seine reiflichst überlegten und zuverlässigsten Unternehmungen gescheitert wären."

Was er da angeführt hat, - seine Gutmütigkeit, die Untreue eines Freundes, seine Verluste, - alles ist vollkommen wahr. Aber nicht darin muß er die Ursachen seines Falles suchen. Sie bestehen vielmehr in seinen ebenso oberflächlichen wie übereilten Spekulationen, in seinem leichtsinnigen Urteil, in seiner nur scheinbar richtigen sophistischen Art, einen Gegenstand aufzufassen, in seiner unbesonnenen Hast und Hitze, Projekte zu bilden, - Ursachen genug - sollte man meinen, um die Anführung der guten Eigenschaften überflüssig zu machen. - Der Untergang jenes Menschen ist demnach keineswegs eine bloße Laune des Zufalls, sondern die unausweichliche Folge einer Reihe von Fehlern die ihn seit langer Zeit vorbereiteten. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, seine Verluste abzuwenden, der Untreue seines Freundes vorzubeugen und sich vor den traurigen Wirkungen dieser Untreue sicher zu stellen, wenn er nur zurückhaltender gewesen wäre, wenn er im Spenden seines Vertrauesn mehr Vorsicht gebraucht und in der Handhabung seiner Geschäfte einen größeren Eifer und eine größere Wachsamkeit entwickelt hätte.

§ 6.Der zahlungsunfähige Mann von Geist und der ungebildete Reiche. "Er hat Kenntnisse, Verstand, Geist, alles zusammen. Woher kommt es, daß er nicht allein sein Vermögen vermehrte, sondern verschleuderte, während sein Nachbar, ein roher Mensch ohne jeden Funken von Bildung, das seinige hundertfach vergrößert hat?" - - Zufall, Fügung des Himmels, Mißgeschick, sagt man, ohne zu bedenken, daß man in beklagenswerter Weise ganz entgegengesetzte Begriffe durcheinander wirft, daß man Tatsachen in Verbindung bringt und voneinander abhängig macht, welche unter sich selbst in gar keiner Beziehung stehen.

Der erstere ist ein geistreicher Mann voll von Kenntnissen, ein Mann von feinster Lebensart. Der andere besitzt weder Gelehrsamkeit noch Bildung. Aber es handelt sich hier um Geschäfte und nicht um Werke der Kunst; es gilt, Verträge abzuschließen, und nicht, eine literarische Arbeit zu beurteilen. Ich gebe zu, daß die Worte des ersteren anmutiger fließen, daß seine Ideen reichhaltiger, seine Bemerkungen witziger, seine Entgegnungen schneller und treffender sind. Aber es findet gar keine Beziehung statt zwischen dieser Ordnung der Dinge und dem, worauf es hier ankommt, der Geschicklichkeit der Geschäfte. Man springt von einem besonderen Standpunkt auf einen ganz verschiedenen Gesichtspunkt über.

Beobachte diese beiden Menschen mit etwas größerer Aufmerksamkeit und du wirst erkennen, daß der Wohlstand des einen und die zerrütteten Verhältnisse des anderen ganz natürliche Ursachen haben. Der letztere, muß man zugeben, spricht, schreibt, entwirft, rechnet mit seltener Leichtigkeit. Er wägt alles ab, antwortet auf alles; - Vorteile, Nachteile, günstige und ungünstige Konjunkturen, alles weiß er und hat er vorhergesehen; er hat seinen Gegenstand völlig erschöpft.

Bei dem anderen ist der Blick, das Urteil, die Sprache weniger schnell; dagegen sieht er klarer, richtiger und zuverlässiger. Ihm ist es nicht gegeben, auf Berechnungen und Beweise mit Gegenberechnungen und Gegenbeweisen zu antworten; aber sein richtiges Gefühl, sein Scharfsinn, der sich durch Beobachtung und Erfahrung entwickelt hat, warnen und leiten ihn, sozusagen, auf unfehlbare Weise. Alle seine Fähigkeiten lassen sich in Eins zusammenfassen, in den gesunden Menschenverstand, von dem der sogenannte Geistreiche nur den mit prunkenden Flittern ausgestatteten Nachdruck besitzt.

Was schadet es dem ersteren, daß er einen engeren Gesichtskreis umfaßt, wenn er nur das, was er sehen muß, deutlicher sieht? Was tut's, daß es ihm an Reichtum von Gedanken und an Redekunst fehlt? - das sind zwar glänzende Eigenschaften, aber in Geschäften reine Nebendinge.

§ 7.Sophisterei und gesunder Menschenverstand Lebhaftigkeit und Tiefe des Verstandes sind nicht dasselbe. Reichtum an Gedanken setzt keineswegs immer Richtigkeit und Klarheit der Gedanken voraus. Ein zu schnelles Urteil ist größtenteils verdächtig. Zuweilen versteckt sich der Sophismus unter jenen langen Beweisführungen, in denen die Spitzfindigkeit den schlichten Verstand irre führt und unvermerkt seine Stelle einnimmt.

Sophismen und Trugschlüsse zu enthüllen, besonders wenn sie mit dem Zauber der Rede oder des Stiles bekleidet sind, ist eine sehr schwierige Arbeit. Die Hilfsquellen des Geistes sind unermeßlich. Einige Menschen besitzen so hinreißende Talente, wissen mit so viel Kunst einen Gegenstand darzustellen, daß häufig der gesunde Verstand und das gediegenste Urteil durch jene verführerischen Gegner zum Schweigen gebracht, in die Notwendigkeit versetzt werden, sich auf die Zeit und die Erfahrung zu berufen, um die Trüglichkeit jener Sophismen ans Licht zu bringen.

In der Tat! - es gibt Dinge, die man besser fühlt als begreift, - andere, die man einsieht und nicht beweisen kann. Auch gibt es feine Einzelheiten, zarte Beziehungen, die sich nicht darlegen lassen und die für immer verborgen bleiben, wenn sie nicht beim ersten Blick bemerkt werden. Ebenso gibt es Gesichtspunkte, die so schnell vorübereilen, daß es unmöglich ist sie wiederzufinden, wenn man sie nicht im günstigen Moment und sozusagen im Flug erfaßt hat.

§ 8.Die Praxis allein offenbart gewisse intellektuelle Erscheinungen. In der Ausübung der Verstandeskräfte oder überhaupt aller anderen Fähigkeiten der Seele treten Erscheinungen ans Licht, die man durch Worte nicht ausdrücken kann. Um denjenigen zu begreifen, der sie empfindet, muß man sie selbst empfunden haben. Für den, der sie nicht empfunden hat, sind sie ebenso unverständlich, wie für den Blindgeborenen der Begriff der Farbe.

Solche schwer zu fassende Eigentümlichkeiten, solche feine Schattierungen, wenn ich mich so ausdrücken darf, zeigen sich reichlich bei allen Tätigkeitsäußerungen des Geistes. Daher können wir nie genug vor leeren Abstraktionen, vor rein erfundenen Systemen auf der Hut sein. Suchen wir stets die Sachen so aufzufassen, wie sie sind, nicht, wie wir sie uns wünschen oder erträumen. Im letzteren Fall stehen die Vorstellungen, welche wir uns bilden, immer im Widerspruch zur Wirklichkeit und unsere noch so reiflich erwogenen Pläne lösen sich in Nebel auf.

Außerdem müssen wir beachten, daß im wirklichen Leben, zumal in den Beziehungen der Menschen zueinander, keineswegs ausschließlich der Verstand seinen Einfluß ausübt, sondern daß mit dem Verstand gleichzeitig die anderen Seelenvermögen in Anwendung kommen. Denn nicht bloß zwischen Verstand und Verstand, sondern auch zwischen Herz und Herz finden Wechselbeziehungen statt. Außer dem gegenseitigen Austausch der Gedanken gibt es einen nicht weniger lebhaften Austausch der Gefühle.

§ 9.Ungereimtheiten. Vergessen wir nicht (dieser Wahrheit eingedenk zu sein, wird uns im Leben vielfachen Nutzen gewähren) vergessen wir nicht, daß es Menschen gibt, die von der Natur stiefmütterlich behandelt werden, bei denen sich gewisse Verstandeskräfte in höchst mangelhaftem Zustand befinden. Sie sind verglichen, mit denen, welche jene Kräfte besitzen, eben das, was dem wohl organisierten Menschen gegenüber der Unglückliche ist, dem eines oder mehrere Sinneswerkzeuge fehlen.

Wer hat nicht wohl bei den Anstrengungen gelächelt, die ein Mann von Geist in redlichster Absicht anstellte, um einen im gröbsten Irrtum befangenen Kopf eines Besseren zu belehren. Mit kaltem Blut hat er eine Ungereimtheit vorgebracht; es kommt zu einer Erörterung und du bemühst dich, einem Menschen der dich nicht versteht, ein unbestreitbare Wahrheit auseinander zu setzen. Vergebliche Arbeit! Fehlt es deinem Gegner an Kenntnissen? Nein, es fehlt ihm an gesundem Menschenverstand. Seine natürlichen Anlagen seine Gewohnheiten haben ihn zu dem gemacht, was er ist. Es muß dir einleuchten, daß eine Person, die fähig ist, eine Ungereimtheit aufzustellen und zu verteidigen, nicht imstande ist, die Beweisgründe zu fassen, welche gegen jene Ungereimtheiten gerichtet sind.

§ 10.Verschrobener Kopf. Es gibt Menschen, deren Kopf von Natur aus verschroben zu sein scheint, - denn sie sehen Nichts unter dem richtigen Gesichtspunkt. Ist es Torheit? ist es völliger Mangel an Urteil? Nein! Sie sind leistungsunfähig wegen übermäßiger Tätigkeit. Sie zeichnen sich durch unerträgliche Geschwätzigkeit aus. Mit großer Geläufigkeit binden und lösen sie Beweisgründe auf Beweisgründe ohne Wert. Sie sprechen über alles und fast immer irrtümlich. Kommen sie zufälliig auf die rechte Fährte, so gehen sie vorüber, ohne sich aufzuhalten; bloßen Scheingründen laufen sie nach. Zuweilen gewahrt man in ihren Darstellungen glänzende Ansichten, Luftspiegelungen, von denen sie selbst getäuscht werden und die sie für festbegründete Wirklichkeiten halten. Der Schlüssel zu ihren Irrtümern liegt in Folgendem: sie haben etwas Unsicheres, Zweifelhaftes, Ungenaues oder völlig Irrtümliches für eine unbestrittene Tatsache ausgegeben; sie stellten eine willkürliche Annahme als Prinzip ewiger Wahrheit auf; sie nehmen eine Hypothese für die Wirklichkeit.

Voll Stolz und Anmaßung hören sie auf Nichts und folgen keinem anderen Führer als ihrem irregehenden Verstand. Hingerissen durch einen unüberwindlichen Eifer zu sprechen und zu streiten, versunken und verloren im Wirbel ihrer Ideen und im Geräusch ihrer eigenen Worte vergessen sie den Ausgangspunkt und bemerken nicht, daß das Gebäude, welches sie errichten, ohne Stützen oder gar ohne Fundament ist.

§ 11.Ihre Unfähigkeit im Geschäft. Wehe dem Geschäft, an welches solche Personen die Hand anlegen, weh' ihnen selbst, wenn sie ihrer eigenen Führung überlassen sind!

Die wesentlichen Eigenschaften eines praktischen Geistes sind Reife, gesundes Urteil und Takt. Jene entbehren diese Eigenschaften im höchsten Grad. Um nicht der Spielball einer Täuschung zu sein, müssen wir unsere Vorstellungen mit der Wirklichkeit in Einklang bringen. Jene aber lassen fast immer die Wirklichkeit außer Acht, um sich nur mit ihren Vorstellungen zu beschäftigen. Während es darauf ankommt, die Dinge zu betrachten, wie sie sind, beschäftigen sie sich nur damit, wie sie sein sollten oder sein könnten.

Was der gesunde Verstand auf der Stelle sieht, kann der verschrobene Kopf gar nicht begreifen. Eine für jenen unleugbare Wahrheit scheint diesem ein noch sehr zu bestreitender Gegenstand zu sein. Jedes Mal, wo der erstere irgendeine Frage in schlichter und natürlicher Weise vorbringt, gleich wird sie der andere unter einem verschiedenen Gesichtspunkt auffassen. Kurz: sie verstehen sich nicht, und werden sich nicht verstehen. Der eine, gewissermaßen mit einem geistigen Schielen behaftet, setzt Jenen, der die Dinge vom richtigen Standpunkt aus betrachtet, förmlich in Verwunderung und Verlegenheit.

§ 12.Dieser geistige Mangel hat gewöhnlich einen moralischen Grund. Sucht man den Grund dieser verkehrten Geistesrichtung, so findet man ihn häufiger im Herzen als im Verstand. Eitelkeit ist der Hauptfehler solcher Personen. Eine übelverstandene Eigenliebe treibt sie, sich überall hervorzutun, und da sie nicht denken und reden wollen, wie die übrigen Menschen, so geraten sie unvermerkt in einen Zwiespalt mit dem gesunden Menschenverstand.

Gerade ihre Beharrlichkeit im Widersprechen beweist, daß sie ihrer Vernunft allein überlassen, häufiger die Wahrheit erkennen würden. Man sieht nämlich daraus, daß ihre Verkehrtheiten weniger aus irrigen Ansichten hervorgehen, als vielmehr aus dem zur Gewohnheit gewordenen lächerlichen Wunsch, sich beständig auszuzeichnen. Läge die Schuld an der Urteilskraft, so würden sie nicht bei jeder Frage Widerspruch erheben.

Es ist ganz auffallend, will man sie dazu bewegen, der Wahrheit ein Zeugnis zu geben, so muß man in ihrer Anwesenheit das Gegenteil behaupten.

Es ist allerdings einzuräumen, daß sich Personen dieser Art sehr häufig keine Rechenschaft über sich selbst geben, daß sie insgeheim kein klares Bewußtsein haben von der Haupttriebfeder ihrer Handlungen, der Eitelkeit. Nichtsdestoweniger ist dieselbe vorhanden. Sofern sie sich dessen innewerden, so ist das Übel nicht ohne Heilung, insbesondere, wenn nicht schon vorgerücktes Alter, soziale Stellung, Schmeichelei ihre Vernunft gänzlich verfälscht haben. Oft folgen bittere Täuschungen, grausame Demütigungen dem Mißbrauch, den sie mit ihrem Geist getrieben haben. Niedergebeugt durch Unglück, belehrt durch Erfahrung und Leiden, haben sie wohl lichtvolle Zwischenzeiten, aus denen ein aufrichtiger Freund einen Vorteil ziehen könnte. Hat aber Erfahrung ihre Eigenliebe noch nicht enttäuscht, und siehst du, daß sie sich, verblendet von Leidenschaft ohne allen Rückhalt ihren eitlen Entwürfen und Träumen hingeben, so suche ihnen nicht zu widerstehen; es wäre unnütze Mühe. Beobachte ein strenges Schweigen und warte mit gekreuzten Armen, in stoischem Gleichmut, bis die Lawine vorüber ist. Diese Kälte bringt vielleicht heilsame Wirkung hervor. Das Schweigen hebt jeden Anlaß zum Streit auf, denn wo kein Gegner ist, da kann kein Widerspruch sein. - Es ist nicht selten, daß diese unerträglichen Zänker, durch das Schweigen gleichsam abgekühlt, in sich gehen und sich wegen ihrer Lebhaftigkeit entschuldigen. Ihr hitziger, unruhiger Geist, der von Widerspruch lebt und auch das Bedürfnis fühlt, bei Anderen Widerspruch zu finden, gibt ihn von selbst auf, wenn sich ihnen keine Gelegenheit zum Kampf darbietet, insbesondere, wenn sie sich bewußt werden, daß sie statt eines zu jeder Zeit schlagfertigen Gegners ein immer bereitwiliges Opfer ihrer Laune vor sich haben.

§ 13.Die christliche Demut im Umgang mit der Welt. Die christliche Demut ist diejenige Tugend, die uns die Grenzen unserer Kräfte bezeichnet, die uns unsere Fehler offenbart, die nicht erlaubt, daß wir unsere Verdienste überschätzen, uns über Andere erheben und Andere erniedrigen. Sie spornt uns an, aus allen guten Beispielen, aus allen guten Ratschlägen einen Vorteil zu ziehen. Sie belehrt uns, daß es eines ernstes Geistes unwürdig ist dem Beifall der Menge, dem Vergnügen der Eitelkeit, dem Schattenbild des Ruhmes nachzujagen. Sie bewahrt uns vor dem Glauben an unsere eigene Vollkommenheit. Sie entsiegelt unsere Augen und zeigt uns entweder die unabsehbare Bahn, die wir noch zu durchlaufen haben, - oder die Überlegenheit derjenigen, die vor uns einherschreiten. Demut! - Demut ist die wahre Erkenntnis unser selbst und unserer Beziehungen zu Gott und den Menschen. Sie ist der unfehlbare Leitstern inmitten der Klippen, welche die Eigenliebe auf unseren Weg streut. Die Demut ist vorzugsweise eine praktische Tugend und nicht allein in göttlichen, sondern auch in weltlichen Dingen von äußerstem Nutzen.

Die Vorteile dieser Tugend, vom rein menschlichen Standpunkt aus betrachtet, sind unermeßlich. Der Hochmütige kauft die Befriedigung seiner Eigenliebe sehr teuer. Er sieht nicht in seiner Torheit, daß er oft seine teuersten Interessen, seinen Ruf, ja sogar den Ruhm selbst, dem er mit so unruhiger Hitze nachjagt, dem Götzen zum Opfer bringt, den er in seinem Herzen errichtet hat.

§ 14.Gefahren der Eitelkeit und des Hochmuts. Wieviele Menschen haben nicht durch eine elende Eitelkeit ihren Ruf gefährdet, in Schatten gestellt, ja gänzlich eingebüßt? Wie leicht verschwindet jenes Gefühl von Ehrfurcht, das uns ein großer Name einflößt, wenn wir im Träger desselben einen Menschen finden, der immer von sich selbst spricht und alles auf sich bezieht? Mit Bescheidenheit auftretend würde er unsere Verwunderung erregt haben; sein Stolz verstimmt uns und reizt zur Satire. In jedem Großtun mit einer Überlegenheit, selbst wenn sie begründet ist, liegt etwas Verletzendes und zugleich etwas Lächerliches. Die Torheit ist Tochter des Hochmuts. Der Hochmütige läßt sich leicht in verderbliche Unternehmungen ein; er verliert seinen Kredit und richtet sich zugrunde, weil er nur auf seine Einsichten baut. Was helfen ihm die Vorstellungen, die Kenntnisse und die Belehrungen eines Anderen? Er dünkt sich zu hochgestellt und fürchtet sich zu erniedrigen, wenn er einem gegebenen Rat Folge leistet. Von seinem Himmelssitz, den ihm seine Eitelkeit erbaut hat, steigt dieser falsche Gott nicht mehr in die Tiefe hernieder, wo die armen Sterblichen wohnen.

Betrachte diese übermütige Stirn, welche dem Himmel zu drohen scheint! Sein Blick gebietet Ehrfurcht, seine Lippen atmen Verachtung; auf seinem ganzen Gesicht liegt eine unendliche Selbstzufriedenheit, ein unerschütterliches, unumschränktes Vertrauen auf sein eigenes Verdienst. Sein geziertes, abgemessenes Wesen läßt uns in ihm einen Menschen erkennen, der voll von sich selbst ist und vor seiner eigenen Person eine unterwürfige und eifersüchtige Verehrung besitzt. Still! er nimmt das Wort! - Versuchst du ihm zu entgegnen, so unterbricht er dich und fährt fort zu reden. Bestehst du darauf, an der Reihe zu sein, so zeigt er dieselbe Geringschätzung, diesmal aber in Begleitung eines herrischen Blickes, der Aufmerksamkeit gebietet. Endlich schweigt er aus Müdigkeit und Erschöpfung, und du willst die lang ersehnte Gelegenheit ergreifen, deine Gedanken vorzutragen. Vergebliche Mühe! Der Halbgott hört dich nicht an; er ist zerstreut; er richtet das Wort an Andere. Vielleicht ist er auch in tiefe Betrachtungen versenkt, und wie er da sitzt, mit gerunzelter Stirn, und halbgeöffneten Lippen, bereitet er sich vor, uns von Neuem durch feierliche Orakelsprüche und Wunder der Beredtsamkeit in Staunen zu versetzen.

Wie ist es möglich, daß ein Mensch, der so töricht in sich selbst vernarrt ist, nicht in die gröbsten Irrtümer fällt? Zwar erreicht der Stolz nicht immer eine so traurige Höhe. Aber man sei schon im frühesten Alter auf der Hut. Die größte Gefahr droht dem, der sich da nicht zeitig daran gewöhnt, Lobsprüche abzuweisen und auf ihren wahren Gehalt zurückzuführen, der da nicht in sich zu gehen und den treulosen Einflüsterungen der Eigenliebe Gehör zu versagen weiß. Wenn er mit den reiferen Jahren zu den Geschäften und in eine selbständige Stellung kommt, wenn sein Ruf gegründet ist, verdienter- oder unverdientermaßen; wenn er Untergebene besitzt; - so wird sich die Zahl der unabhängigen, aufrichtigen Freunde vermindern, die Zahl der Schmeichler aber zunehmen. Ein Sklave der Eitelkeit wird er sich blindlings von ihren Eingebungen bestimmen lassen; von Tag zu Tag versenkt er sich tiefer in sich selbst und in ein unumschränktes Vertrauen auf seine Verdienste, und aus der Eigenliebe ist eine Selbstvergötterung entstanden.

§ 15.Hochmut. Die Selbstüberschätzung offenbart sich nicht immer unter gleichen Gestalten. Bei Menschen von gediegenem Charakter, von tiefer Einsicht wird dieses Gefühl zum Hochmut; bei mittelmäßigen und schwachen Geistern bleibt es Eitelkeit. Der Gegenstand des Strebens ist derselbe; die Mittel allein sind verschieden. Der Hochmut trägt gewissermaßen die Maske der Tugend; die Eitelkeit macht ein offenes Geständnis ihrer Schwäche. Schmeichle dem Hochmütigen und er wird dein Lob zurückweisen, aus Furcht, sich lächerlich zu machen und so seinem Ruhm zu schaden. Man hat mit großer Wahrheit vom Hochmütigen gesagt, daß er zu stolz ist, um eitel zu sein. Im Grunde ist er für Lobsprüche äußerst empfänglich, aber er weiß, daß es nicht ehrenvoll ist, sich davon berauschen zu lassen. Darum gibt er uns auch nie das Rauchfaß in die Hand und wird uns sogar nötigen, es seitwärts zu halten.

Der Göttliche erlaubt, daß man ihm prachtvolle Tempel errichtet; ein glänzender Kultus ist ihm sehr willkommen, aber er will hinter dem Vorhang im Allerheiligsten verborgen bleiben.

Diese Leidenschaft jedoch, welche in den Augen Gottes ohne Zweifel weit strafbarer ist, als die Eitelkeit, bietet dem Spott weniger Anlaß dar. Wir sagen bloß, weniger Anlaß; denn es ist äußerst schwer, daß der Hochmut sich eines Herzens bemächtigt, ohne in Eitelkeit auszuarten. Das Trugbild kann nichts ins Unendliche fortbestehen. Wohlgefallen an Lobsprüchen haben und tun, als ob man sie verschmäht; im Genuß des Ruhmes sein Glück suchen und ganz verschiedene Gefühle erheucheln, eine solche Vorstellung geht über alle Kräfte. Früher oder später wird der Schleier zerreißen und die Wahrheit in schimpflicher Nacktheit endlich ans Licht treten.

Man kann also den Hochmütigen nicht mit dem Eitlen verwechseln. Er flößt uns ein noch größeres Mißbehagen ein. Zum Spott, den der Eitle hervorruft, lädt er noch unsere Entrüstung auf sich.
LITERATUR - Jaime Balmes, Der praktische Verstand, Münster 1862