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HANS KLEINPETER
Die Erkenntnistheorie der
Naturforschung der Gegenwart

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"Aus dem Begriff des Wissens geht ohne Weiteres hervor, daß dieses Ziel überhaupt unerreichbar ist; denn von einem Wissen kann nur in Bezug auf einen Sachverhalt gesprochen werden, der von unserem Belieben ganz unabhängig ist; ebendeshalb können wir aber demselben nichts vorschreiben. Der Mensch findet sich vielmehr seiner Umgebung gegenüber in der wesentlich passiven Rolle des Zuschauers vor; er muß mit gegebenen Verhältnissen rechnen, an denen er nichts zu ändern vermag."


V. Die Tragweite der Erkenntnis
1. Die Grenzen der Erkenntnis

Im Vorhergehenden sind in wenigen Umrissen die der wissenschaftlichen Forschung offenstehenden Wege gekennzeichnet und die Voraussetzungen hervorgehoben worden, von denen die Richtigkeit ihrer Resultate abhängt. Den Ausführungen des letzten Abschnitts ist ferner zu entnehmen, daß mit den auf streng wissenschaftlichen Wegen erzielbaren Ergebnissen sich nicht einmal die für die Anforderungen des gewöhnlichen praktischen Lebens berechnete natürliche Weltanschauung zufrieden gibt. Schon die Annahme der Existenz unserer Mitmenschen stellt sich als eine nie verifizierbare Hypothese heraus. Daraus ergibt sich dann der Schluß, daß es nicht für alle Zwecke möglich ist, sich einer auf streng wissenschaftlichem Weg erreichten Wahrheit zu bedienen. Die Menschheit wäre verhungert, wenn sie den Genuß des Brotes und der anderen Nahrungsmittel solange aufgeschoben hätte, bis ihr deren Nahrungswert nachgewiesen worden wäre. Auf viele Fragen läßt sich heute keine Antwort geben; bei manchen kann man hoffen, mit dem Fortschritt der Wissenschaft zu einer solchen zu gelangen; in anderen Fällen ist es möglich, die Sinnlosigkeit der Fragestellung aufzudecken; trotzdem verbleiben aber noch einige, bei denen wir uns, wie es scheint, auf ewig in Demut bescheiden müssen. Solcher Art ist z. B. die bereits erwähnte Frage nach der Grenzlinie des Bewußtseins oder etwa die nach den Arten des Bewußtseins. Viele Fragen - und namentlich solche von hoher praktischer Bedeutung - gehören zu den heute auf wissenschaftlichem Weg unbeantwortbaren, ohne daß man immer imstande wäre, auch nur anzugeben, welcher der oben bezeichneten Kategorien sie zuzuzählen sind.

Der Bereich der Wissenschaft ist somit ein engerer als der des Lebens. Diese Beschränkung der Wissenschaft ist übrigens nicht als ein Nachteil für dieselbe aufzufassen; vielmehr bildet sie die erste Bedingung ernster wissenschaftlicher Arbeit. Durch die Beachtung dieses Grundsatzes sind die Wissenschaften, die es zu etwas gebracht haben, groß geworden, während die nach der ganzen Erkenntnis strebenden Systeme der Philosophen keine dauernden Erfolge zu erringen vermocht hatten. Eine genaue Abgrenzung des Gebietes, auf dem wissenschaftliche Forschung möglich ist, erweist sich demnach als eine wichtige Angelegenheit derselben, die für deren guten Fortgang entscheidend in die Waagschale fällt. MAXWELL drückt dies gelegentlich mit den Worten aus:
    "Jedes wissenschaftliche Vorgehen leiten wir ein mit der Abgrenzung eines gewissen Gebietes oder Objektes für unsere Untersuchungen. Auf dieses müssen wir unsere Aufmerksamkeit mit Außerachtlassung aller übrigen Teile des Universums beschränken, bis wir die in Arbeit genommene Untersuchung vollendet haben."
Was für das Einzelproblem gilt, gilt auch für die Gesamtheit derselben. Bei der großen und verwirrenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen können die Grenzen kaum eng genug gezogen werden. Es ist viel wichtiger, in abschließender Weise Probleme mit enggezogenen Grenzen zu erledigen, als über weitumfassende allerlei mehr oder weniger geistreiche Vermutungen zu äußern.

Wichtig ist vor allem die Beachtung der Innehaltung der Grenze zwischen strenger Wissenschaft und Hypothese. Das ist eine Pflicht, die jedem einzelnen Fach zukommt, und der genügt werden kann, auch wenn man sich mit den Ergebnissen der strengen Wissenschaft allein nicht begnügen will. So wird man z. B. von jeder physikalischen Darstellung verlangen müssen, daß sie sehr wohl zwischen den Tatsachen der Wissenschaft und den hypothetischen Zutaten unterscheidet, eine Forderung, die heute allerdings noch bei vielen wissenschaftlichen Werken keine Beachtung gefunden hat.

Andererseits ist es nicht unwichtig, sich den Gedanken gegenwärtig zu halten, daß unsere wissenschaftliche Arbeit Grenzen besitzt, über die hinaus sie nicht fortgesetzt werden kann. Es braucht uns das auch gar nicht zu verwundern. Wo läge denn der Anlaß, die Notwendigkeit einer unbedingten Allmacht unserer Wissen schaffenden Funktionen zu vermuten? Ist doch der Mensch, wie uns die Naturwissenschaft lehrt, ein Geschöpf, das mit vielen Mängeln und Unvollkommenheiten behaftet ist. Außerdem ist er ja im Zustand geistiger Fortentwicklung begriffen. Wir können nicht im Voraus wissen, wie weit uns diese führen wird. Auf Fragen dieser Art läßt sich überhaupt keine Antwort von irgendeiner Berechtigung geben. Wir müssen uns innerhalb gewisser Grenzen bescheiden, wenn es uns auch unbenommen bleibt, an eine spätere stetige Erweiterung der Grenzen des Wissens zu glauben.


2. Die Aufgabe der Philosophie

Aus diesem Sachverhalt entspringt und erklärt sich das Streben des Menschen nach sogenannter philosophischer Befriedigung. Es ist insbesondere der Widerstreit zwischen den Anforderungen des praktischen Lebens und den Grenzen der strengen wissenschaftlichen Forschung, der nach einer Ausfüllung der hier bestehenden Lücke greift. Dies wird Aufgabe der Philosophie. Ich verstehe unter diesem vieldeutigen Wort die Ersinnung einer Weltanschauung, die uns über jene Punkte eine Art Aufklärung zu bieten versucht, über welche die Wissenschaft nichts sagen kann, wiewohl aus anderen Gründen ein Bedürfnis danach vorhanden ist. Sie nimmt somit die Rolle einer Hypothese ein und darf natürlich nicht mit wissenschaftlich erweisbaren Tatsachen in Widerspruch geraten. Es ist daher begreiflich, daß durch den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung viele philosophischen Systeme der Vergangenheit haltlos geworden sind.

Als Hypothese bedient sich die Philosophie fiktiver, durch die Erfahrung nicht nachweisbarer Elemente. Aus ihnen baut sie ein System auf, das nirgends mit der Erfahrung in Konflikt geraten darf und das gewissen Zwecken zu entsprechen sucht. Diese Tätigkeit ist nicht mit Unrecht mit der des Künstlers in Parallele gesetzt worden. Bei beiden spielt die Phantasie die Hauptrolle, beide haben sich in einem gewissen Sinn an die Erfahrung zu halten; der Künstler muß die Technik seines Darstellungsmittels beherrschen und kann sich wohl auch nicht allzuweit ungestraft vom Vorbild der Natur entfernen, der Philosoph darf nirgends mit der Wissenschaft in Konflikt geraten.

Auch die Eindrücke, die die Schöpfungen der beiden machen, sind einander nicht unähnlich; in beiden Fällen geschieht die Hauptwirkung auf das Gefühl, in beiden Fällen geschieht sie unter teilweiser Vermittlung des Verstandes.

Zum Teil mögen sogar die Schicksale beider einander ähneln; mit dem Wechseln der Anschauungen verlieren beide an Wert für die Gegenwart; um sie zu verstehen und zu würdigen, ist ein Versenken in die Anschauungen einer früheren Zeit vonnöten. Geringere Fortschritte der Wissenschaft vermögen ihnen nichts anzuhaben, größere zerstören ihren Wert. Das gilt von den Malereien der Ägypter so gut wie von der Philosophie eines PLATON.


3. Zusammenfassender Rückblick über Wert
und Bedeutung der Erkenntnis

An dieser Abgrenzung unserer Erkenntnis möge nochmals die ihr im Leben der Menschen zufallende Rolle zur näheren Beleuchtung gelangen.

Erkenntnis bedeutet danach eine der Lebensäußerungen des Organismus, die so wie die animalischen Funktionen zur Erhaltung desselben beizutragen bestimmt ist. Der Zweck derselben ist kein anderer als der, uns unangenehme persönliche Erfahrungen zu ersparen. Die Erkenntnis hat einen positiven Zweck, wenn es ihr gelingt, in dieser Richtung etwas zu leisten; sie kennt keine Verpflichtung, alles leisten zu müssen. Man kann ihr also daraus, daß sie nicht alles leistet, daß sie uns Z. B. nicht mit unbedingter Gewißheit über alle Fragen des Lebens belehrt, keinen Vorwurf machen. Aus dem Begriff des Wissens geht übrigens ohne Weiteres hervor, daß dieses Ziel überhaupt unerreichbar ist; denn von einem Wissen kann nur in Bezug auf einen Sachverhalt gesprochen werden, der von unserem Belieben ganz unabhängig ist; ebendeshalb können wir aber demselben nichts vorschreiben. Der Mensch findet sich vielmehr seiner Umgebung gegenüber in der wesentlich passiven Rolle des Zuschauers vor; er muß mit gegebenen Verhältnissen rechnen, an denen er nichts zu ändern vermag. Diese Verhältnisse sucht er nun als Künstler durch seine aktiven Tätigkeiten nachzubilden. Durch Übung auf diesem Gebiet kommen in ihm eine Reihe von Fertigkeiten zur Ausbildung, die ihm diesen Zweck zu verfolgen erlauben. Solange er sich innerhalb des Kreises derselben bewegt, ist er von äußeren Faktoren unabhängig; er hängt nur von seinem eigenen Willen ab, der sich in der Wahl getroffener Festsetzungen (Definitionen) kundgibt. In diesem Fall spricht man von rein formalen Wahrheiten. Zu diesen gehören z. B. die Sätze der Mathematik, solange von ihnen keine Anwendung auf physische Erscheinungen, auf "Realitäten" gemacht wird. Ist dies aber der Fall, so tritt ein "unberechenbarer Faktor in den Kreis der Betrachtung. Keine Wahrheit kann dann mehr als provisorische, zufällige Geltung beanspruchen.

Es wäre eine Welt denkbar, in der keine Wissenschaft möglich wäre. Daß es anders gekommen ist, kann uns nur als Zufall erscheinen. Ein solcher ist für uns die Regelmäßigkeit des Naturlaufs, infolgederen unsere Schlüsse über den Verlauf der Naturerscheinungen, denen ansich nur provisorische Gültigkeit "bis auf Weiteres" zukommen würde, praktisch eine unbegrenzte erlangen; es fällt uns nicht ein, an eine Änderung der Naturgesetze auch nur zu denken, wiewohl wir nicht sagen können, daß sie unmöglich wäre.

Ein zweiter günstiger Umstand, der unsere Wissenschaft praktisch viel höher stellt, als sie es theoretisch sein kann, ist die Gleichartigkeit der Menschen in Bezug auf die Erkenntnisfunktionen. Wäre diese nicht vorhanden, so hätte das, was ein Individuum findet, gar keine Bedeutung für ein zweites. Dann wären nicht nur die realen, sondern auch die formalen Wissenschaften unmöglich. Man sieht also - woran oft nicht gedacht wird -, daß auch deren Möglichkeit von einer Voraussetzung abhängt, die glücklicherweise praktisch immer erfüllt ist, wiewohl wir dies zu erwarten nicht das geringste Anrecht besitzen.

Wir sehen also, das wirkliche Vorhandensein von Wissenschaft im üblichen Sinn des Wortes hängt von einem glücklichen, zufälligen Erfülltsein zweier Voraussetzungen ab, das zu erwarten wir theoretisch gar kein Recht besitzen. Es sind im Vorhergehenden die Wege beschrieben worden, auf denen der Mensch es versucht, ein Wissen zu erreichen; daß ihm dies gelingt - ist nur ein glücklicher Zufall. Mehr können wir von unserem Standpunkt aus nicht sagen.
LITERATUR - Hans Kleinpeter, Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart, Leipzig 1905