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SUZY GABLIK
Magritte - und der gesunde Menschenverstand
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Magritte und das Objekt
Lebenslauf
Der Mann mit dem Bowler
Gesunder Menschenverstand
Magrittes Sprachgebrauch
Welt der Ähnlichkeit
Die Bildsprache Magrittes<

Magritte hat versucht, die Mehrdeutigkeit zu definieren, die zwischen einem realen Gegenstand, der geistigen Vorstellung davon und der gemalten Darstellung besteht.

Es ist eine Erfahrungstatsache, daß das Werk einer kleinen Zahl außergewöhnlicher Individuen die Probleme, die spätere Generationen intensiv beschäftigen werden, vorwegnimmt und sogar für diese Probleme die Grundlage schafft. MAGRITTE war ein solcher Vorbote. Er bereicherte die Syntax des Bildermachens nicht durch irgendwelche formalen Erfindungen (wie so viele seiner Zeitgenossen), aber sein Werk hat in der Projektion der Phantasie die gesamte Reihe von Problemen vorgebildet, deren endgültige Lösungen zur zentralen Tatsache der Kunst des 20. Jahrhunderts führten: zum Zusammenbruch der konventionellen Mittel illusionistischer Darstellung.

In der Malerei MAGRITTEs werden die Fragen der Bezugsidentität von Objekten und Symbolen, gleichwertiger Ähnlichkeiten und der gesamten Gültigkeit des "darstellenden Sehens" fortwährend aufgeworfen. Immer wieder wird die Krise, die die bereits festgelegten Verfahren der Kunst befallen hat, in seinen Bildern prophetisch definiert. So formuliert z. B. Die "Beschaffenheit des Menschen I" geradezu den Widerspruch zwischen dem dreidimensionalen Raum, den die Gegenstände in der Realität einnehmen, und der zweidimensionalen Fläche der Leinwand, die für die Darstellung benützt wird. Die Vieldeutigkeit in diesem Bild MAGRITTEs weist darauf hin, daß irgend etwas in der Gegenüberstellung von realem Raum und räumlicher Illusion nicht stimmt. Mit diesem einen Bild allein hat er die gesamte Vielschichtigkeit der modernen Kunst abgegrenzt - eine Vielschichtigkeit, die zu einer Entwertung der Naturnachahmung als grundlegender Voraussetzung der Malerei geführt hat.

Ein anderes wichtiges Bild, "Der Sprachgebrauch I", setzt sich mit einem verwandten Problem auseinander: es zeigt das Auseinanderfallen von Objekt und dessen Symbol auf. Indem er eine Pfeife mit der unmittelbar darunter angebrachten Beschriftung "Das ist keine Pfeife" malte, hat MAGRITTE den gesamten Prozeß der Darstellung oder Abbildung in Frage gestellt, durch den ein Bildnis "für ein Objekt" steht und bei unrichtigem Sprachgebrauch sogar für das Objekt selbst genommen werden kann. In "Der Sprachgebrauch I" demonstriert MAGRITTE, daß ein Bild nicht dasselbe ist wie das Objekt, das es darstellen soll, und daß diese beiden auch nicht dieselbe Funktion haben (oder kann man die Pfeife rauchen?). (Auf der anderen Seite signierte MARCEL DUCHAMP, als er in Los Angeles war, richtige Zigarren, die dann jeder rauchte.)

Die Kunst wurde nun aus dem Bereich des darstellenden Jllusionismus in den der autonomen Gegenständlichkeit gerückt, wo Kunstwerke geschaffen werden, um als Objekte an sich zu bestehen, ohne ein anderes Objekt abzubilden oder ihm zu ähneln. Es ist dies das Ergebnis eines lang andauernden Konfliktes zwischen den Überlieferungen der Malerei und Bildhauerei und dem Status realer Gegenstände. Denn, wie E. H. GOMBRICH festgestellt hat, die reale Welt sieht nicht aus wie ein ebenes Bild, obwohl ein ebenes Bild aussehen kann wie die reale Welt.

MAGRITTE selbst hat die Grenzen der bildlichen Darstellung in seinem Gemälde "Der gesunde Menschenverstand" angedeutet, in dem Stillebenobjekte, anstelle auf Leinwand gemalt zu sein, auf einer leeren eingerahmten Leinwand, die auf einem Tisch liegt, stehend gezeigt werden. Die Krise der Kunst des 20. Jahrhunderts rührt von eben diesen Umständen her, die MAGRITTE hier geschildert hat - die Tatsache, daß wirkliche Gegenstände dreidimensional sind und Tiefe haben, während die Leinwand flach ist. In der "Süßen Wahrheit" legt er dieses Problem in anderer Art dar: Das Gemälde zeigt Stillebenobjekte auf einem mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch, aber die Gegenstände und der Tisch sind lediglich auf eine Ziegelwand gemalt, wodurch angedeutet wird, daß sie ohne Substanz sind, als ob sie zweidimensional wären. Das Bemühen um die Lösung dieses Konflikts ist nach CLEMENT GREENBERG die Ursache, daß die Kunst abstrakt wurde. Das heißt, daß, sobald die Malerei das Bemühen um realistische Illusion aufgegeben hatte, der Raum zweidimensional und eben wurde, so daß dreidimensionale Objekte darin nicht länger existieren konnten.

MAGRITTE hat in seinem "Gesunden Menschenverstand" eine Krise vorweggenommen, als er die Stillebenobjekte auf der gerahmten Leinwand stehend zeigte. Die Pop-Künstler fanden eine direktere Lösung dieses Problems: sie schlossen echte Gegenstände der Umwelt ein, und diese erstreckten sich ganz natürlich über den Rahmen der Leinwand hinaus. Als JIM DINE zum Beispiel ein richtiges Porzellanwaschbecken an einem Gemälde anbrachte, erzielte er damit ein neues Maß an Realismus, der das Bild mit dem richtigen Gegenstand gleichsetzte. Das reale Objekt wirkt direkt und nicht nur stellvertretend auf das Erlebnis. ROY LICHTENSTEIN sagte einmal:
"Es sieht nicht aus wie ein Gemälde von irgend etwas, es sieht aus wie das Ding selbst",
und TOM WESSELMANN sagt:
"Ich benütze reale Objekte in meiner Arbeit, weil ich Objekte verwenden muß, und nicht, weil die Objekte verwendet werden müssen ... mein Teppich ist nicht dazu gemacht, daß man darauf geht."
JOHNs hingegen malt nur flache Gegenstände (Zahlen, Flaggen, Zielscheiben); wenn es sich darum handelt, dreidimensionale Gegenstände abzubilden, benützt er wirkliche Gegenstände und macht auf diese Weise jene wichtige Unterscheidung zwischen Bildnis und Gegenstand ganz eindeutig klar, die MAGRITTE verschiedentlich in Gemälden wie zum Beispiel "Der Sprachgebrauch I" mit der Pfeife und "Der gesunde Menschenverstand" zu formulieren versucht hatte.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie MAGRITTE im Parameter eines einzigen Bildes versucht hat, die Mehrdeutigkeit zu definieren, die zwischen einem realen Gegenstand, der geistigen Vorstellung davon und der gemalten Darstellung besteht; das klarste Beispiel dafür ist "Die Beschaffenheit des Menschen". Wie bei den meisten von MAGRITTEs Schlüsselwerken gibt es eine Reihe von Variationen, die ein komplexes System von Querverbindungen schaffen und verwandte Elemente einbeziehen und übereinanderschichten. Das Bild-im-Bild-Thema ist auf verblüffende Art dem Renaissancekonzept von der Malerei als "Fenster auf die Wirklichkeit" entgegengestellt. Ist die Landschaft, die wir sehen, auf die Leinwand im Inneren des Raumes gemalt, oder ist sie außerhalb des Fensters? In der "Beschaffenheit des Menschen" beobachten wir die Wechselbeziehung von zwei Phänomenen, die sich an der Grenze zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven abspielt - eine Verwischung der Identität von innerer und äußerer Welt.

Die Art, wie MAGRITTE diese Wechselwirkung darstellt, weist auf das Studium der Philosophie hin: "Wo spielt sich das Denken ab?" scheint er zu fragen, da die Doppeldeutigkeit des Bildes eine Befassung mit dem Wesen und dem Ort des Denkens ausdrückt. Die logische Antwort scheint zu sein: "Das Denken spielt sich im Kopf ab"; aber WITTGENSTEIN, der sich mit dem gleichen Problem herumschlug, bemühte sich, das grammatikalische Mißverständnis herauszuarbeiten, das hinter dieser Antwort steht:
Ich frage Dich, beobachtet der als Subjekt Experimentierende ein Ding oder zwei Dinge? (sage nicht, daß er ein Ding zweifach beobachtet, nämlich von innen und von außen; denn das beseitigt nicht die Schwierigkeit.) Ich kann sagen "in meinem Gesichtsfeld sehe ich das Bild des Baumes rechts von dem Bild des Turmes" oder "ich sehe das Bild des Baumes in der Mitte des Gesichtsfeldes". Und nun möchten wir fragen: "und wo siehst Du das Gesichtsfeld?"
In den "Promenaden des Euklid" kehren wir wieder zu einer Szene zurück, wo ein Teil der Sicht aus einem Fenster durch eine Leinwand verdeckt ist, die eben jene Aussicht innerhalb des Raumes abbildet. Hier wurde nun aber wieder ein neues Element hinzugefügt, indem MAGRITTE verschiedene Parallelen einführte. Die Form der Straße, die perspektivisch in den Hintergrund hineinführt, entspricht genau der konischen Form des Turmes. Manchmal lösen verschiedene Bilder, die so zusammengebracht werden, im Geist Analogien aus, die unzweifelhaft beweiskräftig haftenbleiben. Durch eine unerwartete Verschmelzung von Ideen schleichen sich unbemerkt viele Prinzipien und Parallelen in das Unterbewußtsein ein: so begann zum Beispiel, nach BERTRAND RUSSELL, die Mathematik damit, daß man entdeckte, daß ein Fasanenpaar und ein Paar von Tagen etwas gemeinsam haben - nämlich die Zahl 2. Das Erkennen ist eine Gestaltform, die das plötzliche aktive Erfassen neuer Beziehungen einschließt. Sie ist gekennzeichnet durch die Vereinigung geistiger und visueller Wahrnehmung, die auch den besten Bildern MAGRITTEs zugrunde liegt.

In allen diesen Gemälden hat MAGRITTE versucht, den Geist so zu polarisieren, daß er nicht mehr die Realität mit den zu ihrer Darstellung verwendeten Mitteln vermengt; oder, um es anders zu sagen, er hat den negativen Rapport zwischen einem wirklichen Gegenstand und der gemalten Illusion erforscht. So malte MAGRITTE einmal ein kleines Bild von einem Stück Käse. Er gab ihm den Titel "Das ist ein Stück Käse" und legte es unter eine Käseglocke. Er schrieb auch einmal:
"Wenn jemand an ein Stück Butterbrot denkt und diesen Gedanken mitteilen möchte, stehen ihm dazu verschiedene Mittel zur Verfügung. Er kann ein Stück Brot und etwas Butter zeigen, oder er kann ein Stück Brot malen und Butter darauf streichen; oder er kann die Butter auf eine richtige Brotscheibe malen. Das Bild eines Butterbrotes ist sicherlich nichts Eßbares, und umgekehrt verändert die Tatsache, daß man ein Stück Butterbrot nimmt und in einer Kunstgalerie ausstellt, nichts an seinem eigentlichen Aspekt, und es wäre unsinnig, zu glauben, daß damit die Beschreibung irgendeines beliebigen Gedankens gelungen sei."
MAGRITTE war der einzige Surrealist, der sich nicht von technischen Neuerungen in der Malerei fesseln ließ wie seine Zeitgenossen, von denen die meisten bereits einen festen Platz in der Geschichte haben. Die anderen Surrealisten, die sich viel enger an die Bewegung angeschlossen hatten als er, experimentierten im allgemeinen mit Techniken, die heute ihren Nutzen erschöpft haben und auf einen Zeitstil fixiert sind. MAGRITTE dagegen beschränkte seine Technik auf eine äußerst gewissenhafte Abbildung der Erscheinung; allerdings war es letztlich sein rigoroses und sachliches Denken, das seinem Werk mehr Rechte auf die Zukunft einräumte, so daß seine volle Größe noch nicht einmal heute wirklich erkannt wird.
LITERATUR - Suzi Gablik, Magritte, München/Wien/Zürich 1971