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SUZY GABLIK
Margritte - Lebenslauf
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Magritte und das Objekt
Lebenslauf
Der Mann mit dem Bowler
Gesunder Menschenverstand
Magrittes Sprachgebrauch
Welt der Ähnlichkeit
Die Bildsprache Magrittes<

Zitiert aus einer Übersetzung des autobiographischen Textes MAGRITTEs, der in der belgischen Zeitschrift "L'Invention collective Nr. 2" (April 1940) veröffentlicht wurde. Es war dies eine revidierte Version eines Vortrages mit dem Titel "La ligne de vie", den Magritte im Musee des Beaux-Arts in Antwerpen am 20. November 1938 gehalten hatte.

Als Kind pflegte ich mit einem kleinen Mädchen in dem alten verlassenen Friedhof des Landstädtchens, wo ich meine Ferien verbrachte, zu spielen. Wir hoben die Eisengitter auf und schlüpften in die unterirdischen Grüfte. Als wir eines Tages wieder ans Licht kamen, bemerkte ich inmitten einiger zerbrochener Steinsäulen und umgeben von Blätterhaufen einen Maler, der aus der Hauptstadt gekommen war und der, wie mir schien, Zauberei trieb.

Als ich um 1915 selbst zu malen begann, lenkte die Erinnerung an diese verzauberte Begegnung mit der Malerei meine Bemühungen in eine Richtung, die wenig mit Vernunft zu tun hatte. Ein merkwürdiger Zufall wollte es, daß mir damals jemand, vielleicht in scherzhafter Absicht, den illustrierten Katalog einer Ausstellung futuristischer Malerei sandte. Dank dieses Scherzes wurde ich mit einer neuen Art Malerei vertraut, und in einem wahren Rausch begann ich belebte Szenerien von Bahnhöfen, festlichen Veranstaltungen oder Städten zu malen, in denen das kleine Mädchen, das mit meiner Entdeckung der Malerei assoziiert war, außergewöhnliche Abenteuer erlebte.

Zweifellos bewahrte mich damals nur ein reines und mächtiges Gefühl, nämlich die Erotik, davor, in die traditionelle Suche nach formaler Perfektion zu verfallen. Das einzige, was ich erreichen wollte, war, einen emotionalen Schock hervorzurufen. Dieses Malen zum Vergnügen wurde dann durch ein sonderbares Erlebnis ersetzt. Da ich glaubte, es wäre möglich, Macht über die Welt, die ich liebte, zu haben, wenn es mir gelänge, ihr Wesen auf die Leinwand zu bannen, begann ich nach ihren plastischen Äquivalenten zu suchen. Das Ergebnis war eine Reihe äußerst bannender Bilder, aber abstrakt und leblos, und bei endgültiger Analyse nur für die Intelligenz des Auges interessant. Diese Erfahrung erlaubte mir aber, die reale Welt in der gleichen abstrakten Weise zu sehen.

Trotz der wechselnden Überfülle der Details und Nuancen in der Natur war ich nun imstande, eine Landschaft so zu sehen, als hinge sie nur wie ein Vorhang vor mir. Ich war nicht mehr überzeugt von der Tiefe der Felder und der Ferne des Horizontes. Im Jahr 1925 entschloß ich mich, diese passive Haltung aufzugeben; es war das die direkte Folge einer unerträglichen Meditation in einem öffentlichen Lokal in Brüssel: Die Leisten einer Türe schienen mir mit einer geheimnisvollen Existenz ausgestattet, und lange Zeit war ich mit ihrer Realität in Fühlung. Dieses Gefühl, das an Entsetzen grenzte, war der Ausgangspunkt für eine gewollte Aktion gegen das Wirkliche, für eine Umgestaltung des Lebens.

Da ich diesen selben Willen in den Werken von KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS - allerdings in Verbindung mit einer überlegenen Methode und Doktrin - fand und außerdem zur gleichen Zeit die Bekanntschaft der Surrealisten machte, die ihre Verachtung aller bürgerlichen Werte - so- wohl der sozialen als auch der ideologischen -, die unsere Welt in ihre gegenwärtigen unwürdigen Verfassung erhalten, heftig demonstrierten, wurde es mir zur Gewißheit, daß ich mit der Gefahr leben mußte, damit die Welt und das Leben besser dem Denken und dem Fühlen entsprächen.

Ich machte Bilder, in denen die Objekte in jenen Erscheinungsformen; dargestellt waren, die sie in Wirklichkeit haben, und in einem Stil, der hinreichend objektiv war, so daß die subversive Wirkung, die sie durch gewisse Kräfte hervorzurufen imstande waren, wieder in der realen Welt existierte, aus der diese Objekte entlehnt waren - sozusagen durch einen vollkommen natürlichen Austausch.

In meinen Gemälden zeigte ich Gegenstände an Orten, wo wir sie niemals finden. Es war die Verwirklichung eines realen, wenn auch nicht bewußten Strebens, das in den meisten Menschen vorhanden ist.

Die Risse und Falten, die wir an unseren Häusern und in unseren Gesichtern sehen, fand ich am Himmel viel ausdrucksvoller. Gedrechselte Holzbeine verloren die unschuldige Existenz, die ihnen üblicherweise zugeschrieben wird, sobald sie, einen Wald beherrschend, auftraten. Der Körper einer Frau, der über einer Stadt schwebt, führte mich in einige Geheimnisse der Liebe ein. Ich fand es sehr lehrreich, die Jungfrau Maria im schmeichelhaften Neglige zu zeigen. Und die eisernen Glocken, die von den Hälsen unserer bewunderten Pferde hängen, ließ ich wie gefährliche Pflanzen am Rande eines Abgrundes sprießen.

Die Erschaffung neuer Objekte, die Umformung bekannter Objekte, die Materialveränderung bei gewissen Gegenständen, die Verwendung von Wörtern im Zusammenhang mit Bildern, der Einsatz von Ideen, die durch Freude an mich herangebracht worden waren, die Verwertung bestimmter Visionen aus dem Halbschlaf oder aus Träumen, all das waren weitere Mittel, die ich im Hinblick auf die Herstellung eines Kontaktes zwischen dem Bewußtsein und der äußeren Welt verwendete. Die Titel der Gemälde wurden so gewählt, daß sie im Betrachter ein entsprechendes Mißtrauen gegenüber jeder mittelmäßigen Neigung zu leichter Selbstzufriedenheit erregen mußten.

Eines Nachts im Jahr 1936 erwachte ich in einem Raum, in den man einen Käfig mit einem darinschlafenden Vogel gestellt hatte. Ein großartiger Irrtum veranlaßte mich, anstelle des Vogels ein Ei in dem Käfig zu sehen. Damals erfaßte ich ein neues und erstaunliches poetisches Geheimnis, weil der Schock, den ich erlebte, gerade durch die Verwandtschaft zweier Objekte, nämlich Käfig und Ei, hervorgerufen worden war, wohingegen ich bisher den Schock meist dadurch hervorgerufen hatte, daß ich ein Zusammentreffen beziehungsloser Objekte herbeiführte.

Seit dieser Entdeckung versuchte ich herauszufinden, ob auch andere Gegenstände als der Käfig auf ähnliche Weise - indem sie ein für sie spezifisches und streng vorausbestimmtes Element ans Licht brachten - dieselbe offensichtliche Poesie ausdrücken konnten, die das Ei und der Käfig durch ihr Zusammentreffen hervorgerufen hatten. Plötzlich war im Laufe meiner Untersuchungen dieses Element da, das entdeckt werden mußte, dieses Ding, das vor allen anderen auf geheimnisvolle Art einem Objekt zugeordnet ist, und ich begriff nun, daß ich es immer schon gewußt hatte, daß aber dieses Wissen irgendwie in der Tiefe meines Geistes verlorengegangen war. Da das Ergebnis dieser Untersuchungen jeweils nur eine einzige exakte Antwort für jedes Objekt sein konnte, glichen meine Maßnahmen der Suche nach der Lösung eines Problems, für das ich drei Angaben hatte: das Objekt, dann jenes Ding, das ihm im Schatten meines Bewußtseins zugeordnet war, und dann das Licht, in dem dieses Ding sichtbar werden konnte.

Das Problem der Tür verlangte eine Öffnung, durch die man hindurchgehen konnte. In der "Unerwarteten Antwort" zeigte ich eine geschlossene Tür in einem Raum. In der Türe enthüllt eine unregelmäßige Öffnung die Nacht.

Was das Licht betrifft, glaube ich, daß - obwohl es die Macht hat, Gegenstände sichtbar zu machen - seine Existenz nur unter der Bedingung erwiesen ist, daß ein Gegenstand das Licht aufnimmt. Ohne Materie ist das Licht unsichtbar. Das scheint mir im Licht des Zufalls deutlich zu werden, wo ein ganz gewöhnlicher Gegenstand, ein weiblicher Torso, durch eine Kerzenflamme beleuchtet ist. Hier hat es den Anschein, als ob das beleuchtete Objekt dem Licht Leben verleihe.

Das Thema der Frau erbrachte als Ergebnis die "Notzucht". In diesem Gemälde ist das Gesicht einer Frau aus den wesentlichsten Teilen ihres Körpers gebildet. Die Brüste wurden Augen, die Nase ist durch den Nabel dargestellt und das Sexualorgan ersetzt den Mund.

Die "Beschaffenheit des Menschen" war die Lösung des Fensterproblems. Vor ein Fenster, das vom Inneren eines Raumes gesehen wird, stellte ich ein Gemälde, das genau jenen Teil der Landschaft darstellt, der durch das Gemälde verdeckt wird so verbarg der im Gemälde dargestellte Baum den Baum, der sich außerhalb des Raumes dahinter befand. Er existierte im Geist des Betrachters tatsächlich nun gleichzeitig, sowohl innerhalb des Raumes im Gemälde und außerhalb in der wirklichen Landschaft. Und so sehen wir die Welt: wir sehen sie als etwas außerhalb von uns Befindliches, obwohl sie nur eine geistige Darstellung dessen ist, das wir in uns erleben. Auf gleiche Weise verlegen wir manchmal etwas, das sich in der Gegenwart vollzieht, in die Vergangenheit. Raum und Zeit verlieren so jene grobe Bedeutung, die allein die alltägliche Erfahrung in Rechnung stellt.

Ein Problem, dessen Lösung mich lange beschäftigte, war das Problem des Pferdes. Im Zuge dieser Untersuchungen zeigte es sich mir wieder einmal, daß ich in meinem Unterbewußtsein im voraus genau wußte, was ans Licht gebracht werden mußte. Die erste aufblitzende Idee war bereits die endgültige Lösung, wenn auch noch so vage empfunden. Es war die Idee eines Pferdes, das drei formlose Massen trug, deren Bedeutung ich erst nach einer Reihe von Experimenten und Schritten in alle Richtungen verstand. Zuerst malte ich einen Gegenstand, der aus einem Glas und einem Etikett mit dem Bild eines Pferdes und der Aufschrift "EINGELEGTES PFERD" bestand. Dann dachte ich an ein Pferd, dessen Kopf durch eine Hand ersetzt war; der Zeigefinger wies die Richtung "vorwärts". Aber dann wurde mir klar, daß dies nur das Äquivalent eines Einhornes war.

Ich zögerte lange Zeit über einem fesselnden Effekt: in einem dunklen Raum setzte ich eine Reiterin an einen Tisch, die ihren Kopf auf ihre Hand stützte und träumerisch auf eine Landschaft blickte, die durch die Silhouette eines Pferdes bestimmt war. Der untere Teil des Tierkörpers und seine vier Hufe waren erdfarben, während oberhalb einer horizontalen Linie auf der Augenebene der Reiterin das Fell des Pferdes die Farbe des Himmels annehmen sollte. Schließlich fand ich den rechten Weg mit einem Reiter in der Stellung, die er auf einem galoppierenden Pferd einnehmen würde; aus dem Ärmel seines vorgestreckten Armes ragte der Kopf eines Rennpferdes, und der andere Arm hielt dahinter eine Reitgerte.

Neben den Reiter setzte ich einen Indianer in der gleichen Position, und plötzlich wurde mir auch die Bedeutung der drei formlosen Massen klar, die ich zu Beginn meiner Untersuchung auf dem Pferderücken placiert hatte.

Ich wußte, daß es Reiter waren, und so begann ich nun mit der "Endlosen Kette". In einer Atmosphäre von Wüste und dunklem Himmel trägt ein steigendes Pferd einen modernen Reiter, einen Ritter des ausgehenden Mittelalters und einen Reiter aus der Antike.

NIETZSCHE vertritt die Auffassung, daß RAFFAEL ein überhitztes Sexualsystem hatte, sonst hätte er nicht so viele Madonnen gemalt. Das weicht in einzigartiger Weise von den Motivationen ab, die diesem verehrungswürdigen Maler meistens zugeschrieben werden: priesterliche Interessen, glühende christliche Frömmigkeit, ästhetische Ideale, die Suche nach reiner Schönheit usw.... Aber diese Auffassung führt uns zu einer gesünderen Interpretation malerischer Phänomene zurück, und ihre Brutalität beruht nur auf der hellsichtigen Macht des Denkens.

Dieselbe Freiheit des Geistes könnte ganz allein eine heilsame Gesundung auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit ermöglichen.

Kurz gesagt, diese unsere widersprüchliche und regellose Welt wird mehr oder weniger kraft sehr umständlicher Erklärungen zusammengehalten, die abwechselnd kompliziert und klug sind und sie zu rechtfertigen scheinen und die jene, die schlecht auf ihr vorwärtskommen, entschuldigen sollen. Diese Erklärungen stellen gewisse Erfahrungen in Rechnung.

Aber hier muß bemerkt werden, daß es sich dabei um "vorgefertigte" Erfahrungen handelt und daß eine solche Erfahrung, wenn sie auch Anlaß zu brillanten Analysen ist, selbst nicht das Ergebnis der Analyse ihrer eigenen echten Voraussetzungen sein kann.

Die Gesellschaft der Zukunft wird im Laufe des Lebens eine Erfahrung entwickeln, die eine Frucht grundlegender Analysen ist, deren Aussichten direkt vor unseren Augen dargelegt werden. Und dank einer strengen vorherigen Analyse ist es von nun an möglich, bildliche Erfahrungen, wie ich sie verstehe, zu erzielen.

Die bildliche Erfahrung, die die reale Welt in Frage stellt, bestärkt mich im Glauben an die Unendlichkeit der dem Leben noch unbekannten Möglichkeiten. Ich weiß, daß ich nicht allein bin, wenn ich behaupte, daß ihre Eroberung das einzige Ziel und der einzig gültige Grund für die Existenz des Menschen ist.

LITERATUR - Suzi Gablik, Magritte, München/Wien/Zürich 1971