ra-2 F. C. DahlmannJ. FröbelK. RodbertusC. Frantz    
 
FRIEDRICH GOGARTEN
Politische Ethik
- Versuch einer Grundlegung -

"Ethik, meint die Selbstmächtigkeit des Menschen, meint den Menschen, der schlechthin frei über sich verfügen soll. Gewiß, nicht willkürlich und nicht nach zufälligen Einfällen, sondern in der Unterordnung unter ewige Wahrheiten und Ideale."

Einleitung

Man ist heute zweifellos bereitwilliger, auf die christliche Verkündigung zu hören als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Damals ertrug man in weiteren, nicht spezifisch christlichen Kreisen höchstens ein Reden vom Christentum, das imstande war, christliche Religion als eine feine innerliche, von seelischen Werten erfüllte Humanitätsreligion zu deuten, wobei man solchen Phänomenen möglichst aus dem Weg ging, die wie Sünde, Rechtfertigung, Jüngstes Gericht, göttlicher Zorn die harmonische Selbstgenügsamkeit der Humanität verletzten. Das ist heute anders geworden. Der Versuch, christlichen Glauben gerade aus seinen humanitätswidrigen Elementen zu verstehen, begegnet in der heutigen Generation, auch in nicht ausgesprochen kirchlichen Kreisen, einer merkwürdigen Aufmerksamkeit. Man hat, charakteristischerweise, auf liberal-theologischer Seite von diesem Versuch als von einer Inflationstheologie gesprochen und hat, kurioserweise, gemeint, ihn damit erledigen zu können. Nun hängt die Tatsache, daß die humanitätswidrigen Elemente des christlichen Glaubens uns überhaupt wieder zu einer Frage geworden sind, zweifellos mit dem Krieg und den Ereignissen nach dem Krieg eng zusammen. Das scheint mir auch durchaus in Ordnung zu sein. Denn wer, dessen Denken auf menschliche Dinge gerichtet ist, wollte nach einem solchen Ereignis, wie dieser Krieg eins ist, einfach so weiter denken, wie er vor ihm gedacht hat? Das war ja nicht ein Krieg, wie es sonst Kriege gegeben hat, sondern dieser Krieg ist der Anbruch eines Endes einer Geschichtsepoche. Und zwar der Epoche der Humanität. Wenn dieser Krieg einen Sinn hat, dann ist es der, daß er die Menschen aus dem Traum der Humanität geweckt hat. Das ist der Traum des Menschen davon, daß ihm sein Leben in seine souverände Gestaltungskraft gegeben ist; der Traum davon, daß der Mensch ein System von geistigen Anlagen, Vermögen und Fähigkeiten hat, das es auszugestalten gilt und mit dem er sich zum souveränen Herrn seiner selbst und der Welt machen kann. Und um jenes Schimpfwort von der Inflationstheologie zu gebrauchen: dieser Krieg und was aus ihm gekommen ist und noch kommen wird, ist die Folge einer ganz ungeheuren Inflation der geistigen Werte, für die man keine andere Deckung hatte als die Idee der Humanität. Und daß die humanitätswidrigen Elemente des christlichen Glaubens uns wieder zu einer Frage geworden sind, das liegt daran, daß uns die Idee der Humanität fraglich geworden ist. 1902 konnte TROELTSCH noch schreiben, daß die Ethik die übergeordnete und prinzipiellste Wissenschaft sei, in deren Rahmen die Religionswissenschaft sich einfüge. Vom allgemeinen ethischen Problem der letzten Werte und Ziele menschlichen Lebens und Handelns aus nähere man sich dem Religionsproblem. Hier ist ganz deutlich gesagt, daß die "letzten Werte und Ziele des menschlichen Lebens und Handelns" (1), so wie man sie damals verstand, ihre letzte, ihre eigentliche Begründung nicht in der Offenbarungstat eines souveränen Gottes finden, sondern in der Idee einer Humanitas, die sich selbst genügt und die wohl etwas Göttliches in sich schließt, die aber keinen Gott kennt und erträgt, der jenseits ihrer wäre. Sie kennt wohl gegebenenfalls ein religiöses Vermögen und den Wert oder die Wahrheit des Religiösen. Aber das ist der Humanitas als grundsätzlich immanent gedacht, es gehört zum System ihrer Anlagen und Fähigkeiten. Es ist eine Weise, wie sie sich selbst genügt und wie sie ihrer selbst mächtig ist. Für diese sich selbst genügende Humanität muß freilich das Ethische das Übergeordnete sein und das Religiöse muß sich dem einfügen.

Uns ist diese Ordnung mehr als zweifelhaft geworden. Ethik, so wie wir sie bisher verstanden haben, meint die Selbstmächtigkeit des Menschen, meint den Menschen, der schlechthin frei über sich verfügen soll. Gewiß, nicht willkürlich und nicht nach zufälligen Einfällen, sondern in der Unterordnung unter ewige Wahrheiten und Ideale. Aber diese Wahrheiten sind Wahrheiten, die zur Humanitas gehören, die in ihrer harmonischen oder unter Umständen auch disharmonischen, dialektischen Einheit die Humanitas ausmachen. Religion aber, zumindest christlicher Glaube, so wie wir ihn heute neu verstehen lernen, meint nicht die Selbstmächtigkeit des Menschen, sondern sie meint den Menschen, über den schlechthin verfügt wird, und sie meint, daß sich die Macht, unter der der Mensch steht, in Werken Gottes äußert, die nicht kindlich, nicht bürgerlich, nicht menschlich, sondern göttlich sind und über menschliches Vermögen hinausgehen. (2)

Jener Zeit, für die TROELTSCH noch spricht, kam es gar nicht in den Sinn, daß der Mensch so radikal unter einer fremden Macht stehen könnte, daß es keinen Sinn mehr hätte, von seiner Selbstmächtigkeit und Souveränität zu sprechen. Es hätte für sie keinen Sinn mehr gehabt, ein solches Wesen einen Menschen zu nennen. Uns ist heute diese Selbstmächtigkeit und Souveränität des Menschen durchaus nicht mehr so fraglos. Unsere Generation ist durch den Krieg und im Krieg in die Gewalt eines furchtbaren Schicksals gefallen, das kein Mensch zu meistern imstande ist, ja, das meistern zu wollen frivol wäre. Hier gilt nur noch eins: stillehalten. Nicht nur einen Augenblick oder auch eine kleine Weile, um dann weiter zu gehen, wie und man bisher ging. Sondern schlechtweg stillehalten. Nicht mehr einen Schritt weitergehen auf dem Weg, auf dem uns in so entsetzlicher Weise Halt geboten ist. Der Weg, auf dem wir gingen, war der der schlechthinnigen Selbstmächtigkeit und Souveränität des Menschen, ein wahnwitziges Vertrauen auf die Humanitas. Hat man je so wenig wie bei diesem Krieg, gewußt, daß Kriege Strafgerichte Gottes sind, nicht über dieses oder jenes Volk, sondern über die Völker? Als man ihn beendigte und den Frieden diktierte, wußte man es jedenfalls nicht. Wie wäre es sonst möglich gewesen, von einem Volk ein Schuldbekenntnis erzwingen zu wollen? Es gibt in der ganzen Menschengeschichte kein Dokument so wahnwitzigen Vertrauens auf die Humanitas wie den Versailler Friedensvertrag: die Humanitas gilt als souveräne Herrin über die Geschichte; sie kann die Geschicke der Einzelnen und der Völker vernünftig lenken; bricht ein Krieg aus, so muß einer daran schuldig sein; es muß einer frevelnd die Allmächtigkeit der Humanitas mißbraucht haben.

Wenn wir auch weitergehen müssen auf diesem Weg, so selbstsicher wie vorher gehen wir nach  diesem  Memento nicht mehr. Nach diesem grauenvollen Exzeß in Selbstvertrauen ist uns die Selbstmächtigkeit und Souveränität der Humanitas jedenfalls nicht mehr so selbstverständlich und fraglos wie vorher. Es erscheint uns nicht mehr so ausgeschlossen, daß der Mensch radikal unter fremder Macht steht, und daß er umso besser, umso wahrer um sich selbst weiß und sein Wesen und seine Möglichkeiten erkennt, je tiefer und radikaler er um die Macht weiß, die seiner schlechthin mächtig ist. Und darum fragen wir heute wieder nach dem christlichen Glauben und können nach ihm fragen, ohne von vornherein dasjenige an ihm, was dem Glauben an die Humanität widerspricht, umzudeuten oder als unwesentliche oder zeitgebundene Züge wegzulassen. Wir können, heißt das, nach ihm fragen, ohne daß diesem Fragen von der Ethik, als der bisher freilich übergeordneten und prinzipiellsten Wissenschaft, Grenzen gezogen werden. Im Gegenteil, dieses Fragen - das ist für den Außenstehenden, den Zuschauer, das Auffallendste, oft das Einzige, was er sieht und begreift - kümmert sich nicht um die Grenzen, die die Ethik bisher allem Fragen zog. Hier wird gefragt, selbst auf die Gefahr hin, daß die Ethik, so wie wir sie bisher verstanden haben, aufhört, "die übergeordnete und prinzipiellste Wissenschaft" zu sein. Das ist das Unerhörte, das Aufwühlende, das - wir verhehlen es uns wirklich nicht - Gefährliche dieses Fragens nach dem christlichen Glauben, daß nun mit einemmal dasjenige in Frage gestellt wird, was bisher als das fraglos Gültige die Grundlage allen Denkens über menschliche Dinge war. Wo bleibt die Ethik? Dieser besorgte Ruf ist der eigentliche Inhalt der leidenschaftlichen Proteste, die dieses neue Fragen nach dem christlichen Glauben von links und rechts, aus kirchlichen nicht weniger als aus nichtkirchlichen Kreisen begleitet und ihm am liebsten Einhalt gebieten möchte.

Aber wenn es wirklich um den christlichen Glauben geht, so darf hier kein Einhalt geschehen. Erkenntnis der Sünde, Rechtfertigung allein aus dem Glauben, Jüngstes Gericht einerseits und eine Ethik andererseits, die die Selbstmächtigkeit des Menschen meint, schließen einander rund und glatt aus. Da gibt es kein Sowohl-Als auch, auch nicht, wie das manche gerne möchten, unter dem Stichwort "Heiligung". Sondern da gilt es in aller Entschlossenheit zu fragen, was das heißt, daß der Mesch ein Wesen ist, das radikal unter fremder Macht steht und was das für eine Selbsterkenntnis ist, die darin geschieht, daß ich um die Macht weiß, die meiner schlechthin mächtig ist. Und dann weiter von da aus fragen, was für diesen seiner selbst ganz und gar nicht mächtigen Menschen, was also für diesen - das ist ja wohl dasselbe positiv ausgedrückt - hörigen Menschen die Ethik bedeutet, wie für ihn die Ethik aussieht.


1. Kapitel
Das ethische Phänomen

1. Der zweifache Sinn der ethischen Forderung

Wenn wir von einer Macht sprechen, die des Menschen schlechthin mächtig und der der Mensch ebenso schlechthin hörig ist, so liegt es nahe, zu meinen, daß da von Gott die Rede sei. Und allerdings ist von ihm die Rede. Aber es muß dann auch so von ihm die Rede sein, wie er des Menschen schlechthin mächtig ist. Wie wir aber heute für gewöhnlich dieses Wort verstehen, füllen wir es nur allzuoft willkürlich mit diesem oder jenem Inhalt. Eben darum bedeutet es für uns auch keine fraglose, zweifellose Wirklichkeit, sondern etwas mehr oder minder willkürlich Erdachtes, worüber wir darum heute so und morgen anders denken können. Das würde ja nur anders sein, wenn wir bestimmt darum wüßten, daß wir und wo und wie wir in der Macht Gottes und ihm darum hörig sind. Das heißt, wir müßten dieser Macht an irgendeiner Stelle unseres Lebens innegeworden sein, so daß sie uns unbezweifelbar wäre. Und das wiederum nicht nur im Glauben, also nicht nur insofern wir Christen sind, sondern insofern wir uns selbst ernst nehmen. Denn gerade wenn diese Macht wirklich Gott ist, dann ist sie ja nicht nur des Christen mächtig, sondern jedes Menschen. Und es wird sich in jedes Menschen Leben seine Macht irgendwie erweisen und darum erfahren lassen.

Aber eine andere Frage ist es, ob sie sich als Gottes Macht erfahren läßt. Ob sich also aus ihrer Erfahrung erkennen läßt, daß sie die Macht Gottes ist. Oder ob die Art, wie sie sich des Menschen mächtig erweist, nicht vielmehr so ist, daß es in keines Menschen Sinn kommen kann, zu meinen, es sei Gott, der ihm da begegnet. Es sei denn, er wisse auf andere Weise, eben aus dem Glauben an den geoffenbarten Gott, um Gottes rätselvolles und fremdes Tun. Aber selbst dann wird er nicht aus der Erfahrung dieser Macht selbst schließen können, diese Macht sei Gott. Und wenn das so ist, dann würde man ja dadurch, daß man diese Macht auf vorschnelle Weise Gott nennt, weder Gottes noch dieser Macht auf vorschnelle Weise Gott nennt, weder Gottes noch dieser Macht selbst innewerden. Darum tun auch wir gut, hier, zunächst jedenfalls, nicht von Gott zu sprechen. Es geht - so merkwürdig es klingen mag, ich muß es sagen - um Ernsthafteres, Wirklicheres als das, was man heute normalerweise mit dem Namen "Gott" bezeichnet.

Dafür, daß wir jener Macht innewerden, ist - ich deutete es eben schon an - eine Bedingung gesetzt. Die nämlich, daß wir uns selbst ernst nehmen. Das hat seinen Grund darin, daß die Macht, von der wir hier sprechen müssen, unser mächtig ist in Bezug auf unser Selbst oder, besser, in Bezug auf uns selbst. Also sie ist unser selbst mächtig. Das soll heißen: es geht nicht um eine Macht und Hörigkeit, die für den Menschen mehr oder weniger zufällig sind, denen der Mensch gelegentlich unterworfen sein kann oder denen er nur unterworfen ist, insofern er einen Leib oder eine Seele oder Geist hat; die ihn nur treffen in Bezug auf das, was irgendwie zu ihm gehört, wessen er zu seines Leibes oder Geistes Notdurft bedarf. Sondern die Macht und Hörigkeit treffen den Menschen selbst, sie treffen ihn als den selbst, der er ist. Ich könnte auch sagen: er wird durch sie als er selbst identifiziert. Denn das ist die eigentliche Gewalt, die diese Macht über den Menschen hat, daß sie ihn unweigerlich ihn selbst sein läßt. Er wird druch sie bei sich selbst festhalten. Er muß der sein, der er selbst ist. Es gibt keine Ausflucht, kein Sichverstecken, keine Vertretung vor dieser Macht, sondern es bleibt nur noch dies, daß ich mich bekenne als den, der ich bin.

Was hier gemeint ist, ist der eigentliche Kern des ethischen Phänomens. Es wird von dem, was wir für gewöhnlich das Ethische nennen, ebensosehr verdeckt, wie andererseits das Ethische seine Bedeutung seinen Ernst, seine Gültigkeit allein von diesem ihm zugrunde liegenden Phänomen hat. Es ist darum auch nur im Zusammenhang hiermit sichtbar zu machen. Und zwar so, daß man den Unterschied und zugleich den Zusammenhang aufzeigt.

Ich bezeichne diesen eigentlichen Kern des ethischen Phänomens als die Forderung des "Du Sollst". Oder, um nicht den Irrtum aufkommen zu lassen, als handle es sich um zwei voneinander getrennte Forderungen, tun wir besser, von diesem "Du Sollst"- Sinn der ethischen Forderung zu sprechen, der von dem anderen, auch in jeder ethischen Forderung steckenden Sinn - ich nenne ihn den "Man tut das und das"-Sinn der ethischen Forderung - zu unterscheiden ist. Es handelt sich bei diesem "Du sollst" um ein Gefordertsein des Menschen, das geschieht, indem der Mensch auf eine direkte Weise, eben als "Du" gefordert wird. Er wird damit herausgenommen aus dem Kreis von Menschen und Bestimmtheiten, in dem er steht und dementsprechend er sich versteht; er wird auf eine sehr betonte Weise als Einzelner angeredet. Er wird außerhalb der Sitte und der sittlichen Konvention angeredet. Nicht als ob das, was von ihm gefordert wird, dem, was in Sitte und sittlicher Konvention gilt, unter allen Umständen entgegengesetzt wäre. Sondern er wird dadurch, daß er mit einem "Du sollst" angeredet wird, aus dem schützenden Kreis der sittlichen Konventionen und Selbstverständlichkeiten herausgestellt und wird so zum Einzelnen. Er wird in unbedingter Weise gefordert. In welchem Sinn das gemeint ist, das kann ich vielleicht schon hier deutlich machen, wenn ich sage, daß diese ethische Forderung, so wie wir sie in dem, was wir für gewöhnlich Ethik nennen, verstehen, nicht diesen "Du sollst"-Sinne hat, sondern den "Man tut das und das"-Sinn. Denn so, wie wir für gewöhnlich ethische Forderungen vernehmen oder sie an andere richten, tun wir es nicht in der Weise des "Du sollst", sondern vielmehr in der des "Man tut das und das". Ich denke an Forderungen etwa wie die: "Man sagt die Wahrheit!" Diese Forderung ist nicht in direkter, nicht in unbedingter Weise an einen gerichtet. Sondern es ist da immer, eben in diesem "Man", mit dem man angeredet wird, ein "Wenn" enthalten: wenn du zu diesem Kreis gehören willst, dann mußt du dir klarmachen, daß du das und das tun bzw. das und das lassen mußt. Oder: wenn dir das oder das ein Ideal oder ein sittlicher Wert ist; wenn du begriffen hast, daß das oder das Gesetz herrscht, dann mußt du das und das tun oder lassen. Eine ethische Forderung im Sinne eines "Man tut das und das" oder "Man tut das und das nicht" gilt mir immer nur unter der Bedingung, daß ich zu einem "Man" gehöre, in dessen Namen ich da angeredet werde. Der Kreis, den ein solches "Man" bezeichnet, kann enger und weiter sein. Er kann so weit sein, daß alle Menschen zu ihm gehören. Für gewöhnlich ist es sogar so, daß er alle Menschen umfaßt. Denn es ist die Art ethischer Forderungen und gerade der Forderungen von dieser Qualität des "Man tut das und das", daß sie für alle gültig sein wollen. Aber das ändert nichts an ihrer Bedingtheit sie sind für alle gültig, sie treffen alle, wenn der Wert, das Gesetz, das Ideal für alle gültig ist, in dessen Namen sie aufgestellt werden. Die ethische Forderung in ihrem "Du sollst"-Sinn dagegen gilt unbedingt; sie trägt kein "Wenn" in sich; sie kennt keine Bedingung; sie meint den Menschen, an den sie gerichtet wird und der sie vernimmt, unbedingt.

Ich kann das zunächst nur behauptend sagen. Warum es so ist, kann erst deutlich werden, wenn dieser "Du sollst"-Sinn der ethischen Forderung selbst und das, was sie, in diesem Sinn verstanden, fordert, und der, an den sie gerichtet ist, weiter sichtbar gemacht wird. Ich will versuchen, es sichtbar zu machen, indem ich weiter den Unterschied zwischen diesen beiden Sinnbedeutungen ethischer Forderungen aufzeige.

Dasjenige, was in einer Forderung im Sinne des "Du sollst" von einem gefordert wird, versteht sich nicht von selbst. Wohingegen das, was sie in ihrem "Man tut das und das"-Sinn von einem fordert, sich von selbst versteht, wie ja, nach dem bekannten Wort von FRIEDRICH THEODOR VISCHER, das Moralische sich von selbst versteht. Das will zweierlei besagen. Erstens: im "Man tut das und das"-Sinn einer ethischen Forderung ist von dem Menschen, an den sie gerichtet ist, vorausgesetzt, daß er selbst weiß, daß man das und das tut und daß er es, weil er zu diesem "Man" gehört, auch tun soll; er kann sich das, was ihm da gesagt wird, auch selbst sagen. Er wird nur daran erinnert, daß man das und das tut. Er wird ermahnt, weil er aus irgendwelchen zufälligen Gründen in Gefahr steht, es zu vergessen oder es sich nicht klarzumachen. Hätte er es sich genügend klargemacht, dann käme es für ihn, das ist das zweite, gar nicht in Frage, daß er gegen diese Forderung handelt. In ihrem "Man tut das und das"-Sinn appelliert eine ethische Forderung sozusagen vom schlecht informierten an den besser zu informierenden Täter. Sie nimmt, indem sie sich gegen den Angeredeten wendet, doch Partei für ihn; sie redet ihn an, so wie er eigentlich ist und will ihn damit von einer von vornherein für vorübergehend gehaltenen Trübung seiner ethischen Einsicht und einer nur zufälligen Schwächung seiner ethischen Kraft befreien. In ihrem "Du sollst"-Sinn ist sie dagegen schlechthin gegen den vor ihr Angeredeten gerichtet. Was ihm in einer solchen Forderung gesagt wird, kann er sich auf keine Weise selbst sagen und zwar darum nicht, weil diese Forderung nicht einem Gesetz entspricht, das er im freien Entschluß zu seinem eigenen Gesetz machen kann. Sondern sie entspricht einem Gesetz, das ihm, ob er will oder nicht, ohne daß er befragt ist, auferlegt wird.

Das mag eine erste, noch vorläufige Verdeutlichung erfahren, wenn ich sage, daß die ethische Forderung in ihrem "Man tut das und das"-Sinn den Menschen anspricht als einen, der eigentlich gut ist, der jedenfalls in der Lage ist, das, was von ihm gefordert wird, zu tun. In ihrem "Du Sollst"-Sinn dagegen spricht sie den Menschen an als einen, der nicht gut ist und der auch nicht in der Lage ist, diese Forderung zu erfüllen. Spricht man in einem "Man tut das und das"-Sinn einer ethischen Forderung zu jemandem, der dieser Forderung zuwider gehandelt hat, so geschieht es doch eben so, daß vorausgesetzt wird: eigentlich tut er so etwas nicht. Der Grad seiner ethischen Verderbtheit mag groß sein, aber solange man in diesem Sinne eine ethische Forderung an ihn richtet, setzt man voraus, daß er nicht schlechthin verderbt ist. Im anderen Fall hätte die Forderung nicht mehr die Qualität des "Man tut das und das", sondern die des "Du sollst". Denn die Forderung etwa: "Du sollst die Wahrheit sagen", redet den Menschen, wenn sie nicht nur die äußere "Du sollst"-Form hat, sondern auch den von uns noch genauer zu explizierenden "Du sollst"-Sinn, als schlechthin verlogen an.

Man wird fragen dürfen, ob eine solche Anrede aber überhaupt noch ethischen Sinn hat. Ja, wenn ethische Forderungen nur den Sinn haben, den Menschen zu einem ethischen Tun oder Lassen aufzufordern und wenn sie zur Voraussetzung haben, daß der Mensch eines von ihm geforderten Tuns oder Lassens fähig ist, dann hat eine solche Anrede schlechthin keinen Sinn. Man wird auch, ungeachtet der Frage, ob ethische Forderungen nicht auch einen anderen Sinn und eine andere Voraussetzung haben können, wohl sagen dürfen, daß eine Anrede im Sinne eines "Du sollst", so wie wir es hier verstehen, zwischen Menschen, von einem an den andern gerichtet, keinen Sinn hat und darum auch eine ethische Forderung, die nur in ihrem "Du sollst"-Sinn zu verstehen wäre, zwischen Menschen nicht vorkommt. Sie wird, von einem Menschen an den andern gerichtet, ganz von selbst zu einer "Man tut das und das"-Forderung und setzt dann eben beim Angeredeten die Möglichkeit voraus, entsprechend der Forderung als Anrede zwischen Menschen nicht vorkommt, dafür werden wir den Grund erkennen, wenn wir später die Frage zu beantworten suchen, wer es denn ist, der den Menschen so anredet. Immerhin, es gibt einen Fall, wo ein Mensch mit dem vollen Bewußtsein dessen, was er damit tut, die andern so anredet. Das ist JESUS. Ich erwähne das darum hier an dieser Stelle, weil ich an der Forderung, die er an die Menschen richtet, den "Du sollst"-Sinn der ethischen Forderung noch deutlicher machen kann. Ich denke vor allem an seine Auslegung des Dekalogs in der Bergpredigt. In der Entgegensetzung dessen, "was zu den Alten gesagt ist" und dessen, was JESUS den Seinen sagt, wird dem "Man tut das und das" das "Du Sollst" entgegengesetzt. Den Alten ist gesagt "Du sollst nicht töten", "Du sollst nicht ehebrechen": So wie die Juden zur Zeit JESU diese Forderungen verstehen, sind sie durchaus erfüllbar. Als die bürgerlichen Gesetze des jüdischen Volkes fordern sie nichts, was über das Vermögen des Menschen hinausginge. So wie es da verstanden wird, kann man sich sehr wohl des Totschlags und des Ehebruchs enthalten. Dagegen so, wie JESUS sie auslegt, kann man gar nicht anders als sie übertreten: "Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt Racha! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig" und: "Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen." Das ist schlechthin jeer, der hört, was da zu hören ist, als Mörder und Ehebrecher angeredet. In ihrem "Man tut das und das"-Sinn kann man eine ethische Forderung hören und wenn man tut oder getan hat, was sie fordert, so geht sie einen nichts an. In ihrem "Du Sollst"-Sinn kann man sie anders hören als so, daß sie einen trifft und zwar als einen, der sie nicht erfüllt. Und wo sie so gehört wird, da trifft sie einen immer.

Man hat gesagt, mit dieser Auslegung des Dekalogs sei eine neue, tiefere, innerlichere Ethik einer alten, äußerlichen Auffassung gegenübergestellt worden und man hat darum von einer Gesinnungsethik gesprochen, die im Gegensatz zur alten jüdischen Gesetzesethik stünde. Davon kann aber meines Erachtens keine Rede sein. Die Worte JESU sind gewiß nicht der Ausdruck einer sogenannten Gesetzesethik, aber geradesowenig einer sogenannten Gesinnungsethik. (3) Sie bringen vielmehr das eigentliche ethische Phänomen zum Ausdruck, das verdeckt, aber nie ganz unterdrückt auf dem Grund jeder ethischen Forderung liegt. Und dieses eigentliche ethische Phänomen besteht darin, so viel können wir hier schon sagen, daß das unaufhebbare Bösesein des Menschen aufgedeckt wird. Darum weil der Mensch unaufhebbar böse ist und doch nicht darin verharren kann, darum gibt es das Problem der Ethik und von daher will es verstanden werden, soll es recht verstanden werden.
LITERATUR: Friedrich Gogarten, Politische Ethik, Jena 1932
    Anmerkungen
    1) ERNST TROELTSCH, Gesammelte Schriften II, Tübingen 1911, Seite 553
    2) MARTIN LUTHER, Weimarer Ausgabe XVIII, Seite 627
    3) RUDOLF BULTMANN, Jesus, Berlin 1926