ra-2p-4Oswald KülpeJonas CohnEdmund BurkeAugust Döring    
 
ROBERT VISCHER
(1847-1933)
Über das optische Formgefühl
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    Vorwort
1. Über die Formen der räumlichen Auffassung
2. Gesichtsempfindung
3. Bildvorstellung
4. Gefühl und Gemüt
5. Der Phantasiewille
6. Der Künstler
7. Das künstlerische Umbilden

Inhalt des Willens ist ursprünglich stets die Befriedigung eines Lustbedürfnisses. Der Wille geht also wesentlich, sei es nun in der Vorstellung oder in der Wirklichkeit, auf eine Tat aus, auf eine tätliche Reaktion. Diese nun unterbleibt, wenn wir uns an einem "freien Schein" freuen. Wenn sie aber eintritt oder möglich ist, so zerstört sie denselben.


Der Künstler

Rein subjektiv genommen, beruth also die Phantasie, wenn wir das Resultat der erörterten Mischungsteile erwägen, auf einer warmen gegenseitigen Fühlung zwischen Sinn und Seele, auf einem ehrlichen Bund derselben, worin beide identisch erscheinen, so daß man von einem seelenvollen Auge und einer augenhaften Seele sprechen möchte. - Beide sind freilich von Haus aus identisch; allein immerhin hat sich die geistige Kraft mit dem Verlauf ihrer Entwicklung der sinnlichen gegenüber gestellt und die Wiedervereinigung beider gelingt nur dem Künstler. Ein pantheistischer Hang zu vollkommener Gestaltung liegt allerdings bereits im sinnlich unbewußten Leben, aber geweckt und am Einzelnen bewiesen kann der nur dadurch werden, daß die vn der Idee der Vollkommenheit überzeugte und begeisterte Seele sich ganz und gar in ihre Sinnlichkeit einströmen läßt. - Das Wechselverhältnis zwischen Sinn und Seele ist also ein absolutes, so daß kein sinnlicher und kein abstrakter Rest abfällt.

Auf dieser inneren Ganzheit beruth nun das eigentümliche Talent des Künstlers zu kollektiver Stoffbewältigung. Dem rein sinnlich oder rein abstrakten Bewußtsein gelingt bei allem Fleiß doch nur ein sehr langsames Kombinieren, weil es jeden Stein aufheben und prüfen muß, auf den es treten will. Ist aber Eile notwendig, so verzappelt man sich den Sprung durch Reflexion. Die künstlerische Phantasie (1) aber ist deshalb so sprungfertig, weil sie unbewußt mit mystischen Ballungen fortschreitet. Sie hat die Teile des Ganzen implizit und erst nachdem sie die Grundzüge hervorgezaubert, nimmt sie den peinlichen Rat der Verständigkeit zu Hilfe.

Doch abgesehen vom  Wie  seiner Leistungen verdankt der Künstler dieser Ganzheit, dieser ruhigen Einigkeit in ihm selber überhaupt die Lust zum reinen Betrachten. Er macht die Augen auf; das ist seine auffälligste Gewohnheit. Im Gegensatz zum Stumpfgeborenen, welcher immer schwer zusammenklebt mit dem Element seiner Umgebung, lebt er in einem ebenso zutulichen, wie reservierten Obstupescere [Erstarrung - wp]. Weil er die Augen aufmacht, wird er beständig überrascht. Die Dinge sind ihm erstaunlich objektiv. Er schaut sie nicht an wie einer, der zur Bürgerschaft gehört und im Stadtrat mitschwatzt, sondern wie ein schweigender, einsamer Fremdling, der ausgezogen ist, um die Welt als sein ersehntes alter ego zu erspähen, die ganze Welt. Und daher gibt es keine Zeit für ihn, sich in die Einzelteilnahme zu zerstückeln und zu verlieren. Er kommt vom Weltgeist her und schaut so hin über die Wertverkündungen des Lebens als die lächelnde Mitte von allen. Es bleibt ihm alles unbenommen, er braucht sich für keines zu erwehren und doch ist ihm alles neu; er muß sich immer wieder verwundern über die Eigenart seiner Weltkinder, wie jedes sein besonderes Leben lebt und doch unsterblich bleibt.

Die Kunst ist ebensowohl eine Potenzierung der Sinnlichkeit, als eine höhere Physik der Natur. Wie sie rein subjektiv ist, so ist sie rein objektiv. Denn sie liefert ein allgemein gültiges Produkt und versteht es, die Unbestimmtheit und Haltlosigkeit des Innenlebens sowie das chaotische Durcheinander des Naturlebens zu einer frappanten Gegenständlichkeit, zu einer klaren Spiegelung freier Humanität herauszuarbeiten. Ihr Bild ist nur Form und nur Inhalt, es ist ein klarer Quelle, dem man ganz auf den Grund sieht, eine reine Bergluft, hoch über den Dünsten der Ebene webend.

Es ist eben gerade recht das Wesen der künstlerischen Idealität, sich nicht selbst ideal zu wissen, sondern sich an einem einzelnen Gegenstand zu reflektieren. Weit entfernt, das spezielle Gepräge desselben zu verwischen, zwingt sie nur den Formtrieb, sich ihr als seiner Urvorstellung anzubilden. Zu dem Zweck harmonisiert sie ihn und zwar nicht nach einem abstrakten, allgemeinen Kanon, sondern nach dem subjektiv konkreten, wie ihn der Mensch psychophysisch an sich selber hat.

Und so entlarvt sich uns jedes Kunstwerk als der an einem verwandten Objekt sich harmonisch erfühlende Mensch, als die in harmonischen Formen sich objektivierende Menschlichkeit.


Das künstlerische Umbilden
a) Die reine Form und die Stilisierung

Wir haben gesehen, wie uns die reine Form bedeutsam und seelenvoll erscheinen kann. Als eine reine Form sind wir gewohnt, die anorganische Natur zu betrachten und selbst die organische Gestalt vermögen wir einer ganz formalen Auffassung zu unterwerfen. Dieses ganze Verhalten kann mit dem Wort  Formsymbolik  bezeichnet werden. Es handelt sich aber für uns um harmonische Formsymbolik. Der einfache Akt der Unterschiebung eines Gefühlsgehaltes muß daher zu einer kompositionellen und partiellen Umbildung der stets mangelhaft erfundenen Naturformen.

Zunächst entsteht in unserem Inneren ein kollektiver Plan. Die Zufühlung erzeugt mit einem raschen Blick ein Totalbild, worin die Beleuchtungs- und Körpermaßen in ein ungefähres Gleichgewicht gebracht, worin die Einzelteile oder Nebenformen den Grund- oder Hauptformen untergeordnet sind.

Gedrängt vom Bedürfnis einer Läuterung des Formgeistes und einer Sicherung gründiger Lebensgefühle gegen die Anmaßungen des Bagatells, geht die Kunst stets darauf aus, das Wesentliche, die Dominante der Erscheinung zu befreien und zu ihrer wahren Geltung zu bringen. Dies gelingt aber wahrhaft erst damit, daß das ganze innere Naturbild herausgeformt und dargestellt wird. Die Harmonisierung entwickelt sich mit der Stylisierung. Wir haben also ein Pendant vom innerlichen Verhalten des Schauens und Nachfühlens. Hier wird aber das Objekt durch den genetischen Zeitakt nicht nur evolviert und näher bestimmt, sondern auch realisiert. Das harmonische Ensemble erhebt sich solchermaßen zu einer rhythmischen Bewegung und obgleich es mit dem letzten Handgriff des Künstlers wieder zur früheren Simultaneität zhurückgeführt ist, fühlt man doch die Bewegung immer noch heraus. Die gesetzmäßige Ordnung und Abteilung des Ganzen erscheint nun zugleich als ein reiner und freier Schwung der Pinsel- und Meisselführung, der seine natürlich abgesteckten Ruhepunkt hat, der zwischen Wiederholung und Veränderung seiner Bewegungsläufe wohltätig abzuwechseln weiß. - Wir können daher jetzt, da wir ein geschaffenes Abbild der Natur haben, ebensowohl von einer  Symbolik des Vortrags  (vom stürmischen Charakter, von der rauschenden Energie der RUBENSschen Technik u. a.) sprechen, wie von einer Symbolik der reinen (Natur-) Form.

Eben hierauf beruth das spezifische Wesen des künstlerischen, d. h. des technischen Interesses. Wie in der formalen Natursymbolik die subjektive Körperintention ganz emanzipiert wurde von jeder wirklichen Objektivität, so sehen wir in der Kunst zunächst völlig ab von einem gegenständlichen Gehalt und nehmen das Bild rein nach seiner  äußeren  Erscheinung.

Die Darstellung, als ein genetischer Zeitakt, ist aber nicht etwa bloß eine Analogie der Nachfühlung, sondern vielmehr eine identische Konsequenz derselben. Weil sie aber äußerlich ist, kommt nun auch die sinnliche Prämisse, das handliche Tasten, das Nachempfinden wieder zu größerer Geltung. Wie dasselbe früher weckende und leitende Ursache des Gefühles war, so ist es jetzt wieder sein Ausdrucksmittel.

Gleich dem innerlich Nachfühlenden arbeitet nun der darstellende Künstler, als solcher, immer von Außen nach Innen. Dieses Innere kann sich entweder auf die Phantasie des Beschauers beziehen oder zugleich objektiv auf einen darzustellenden scheinbaren oder wirklich individuellen Inhalt (Anfühlung zum Zweck der Einfühlung). Einen solchen kann er aber (wie bei der zufühlenden Komposition) nur innerlich, also vorher, vor der Darstellung umgestalten. Die Art,  wie  er darstellt, wird immer für sich einen stylistischen, subjektiven Wert behalten.

Es gibt zwar ein rein mechanisches Bilden seelenloser, abgestumpfter Künstlerhände (Routine. Mache. Vgl. Photographie). Doch häufig wird auch die technische Tätigkeit eines edlen Künstlers als ein handwerksmäßige, d. h. gefühlloses Attribug der ästhetischen Produktion bezeichnet und lediglich auf den Wert des dargestellten Gegenstandes verwiesen. Diese Verachtung der unmittelbaren Ausdrucksweise des Künstlers kann ich nicht verstehen. Erstens zeigt er uns damit überhaupt seinen Charakter und zweitens zeigt er denselben in einer bestimmten Modifikation, welche von der Sensation des Gegenstandes herrührt. Also fehlt es durchaus nicht an Inhalt und "Idee".


b) Die unbewußte Kraft der organischen Gestalt und die künstlerische Potenzierung derselben (Organisierung) (2)

Die Stylisierung realisiert nicht nur den zugefühlten allgemeinen Kompositionsplan, sondern auch das eingefühlte stereometrische Konkretum. Erst mit dieser Realisation wird dasselbe so völlig potenziert, wie es die vorschwebende Körpernorm verlangt.

Trifft nun aber unsere Gefühlsversetzung mit einem organischen Objektinhalt zusammen, so fragt sich zuerst, ob dieser unbewußt, d. h. leiblich, pflanzenhaft oder bewußt, d. h. geistig ist; näher, ob derselbe als dieser oder jener aufgefaßt wird.

Ein Gegenstand, der uns nicht sowohl ein Leben bedeutet, als selber eines für sich hat, erscheint uns, wenn er  unbewußt  ist, ausdrucksvoll. Die Kunst aber begnügt sich nicht mit der ausdrucksvollen Körpergestalt, weil diese immer mehr oder weniger verheimlicht und verbuttet ist. Sie strebt danach, den "Lebensfond", die "Lebensfähigkeit" (3) herauszuarbeiten. Die organischen Intentionen müssen herauskommen und sich entladen. Die organischen Intentionen müssen herauskommen und sich entladen. Die Schlaffheit des Zusammenhangs der Teile muß adstringiert [straff gezogen - wp], die Selbständigkeit dieses schlecht disziplinierten Teildaseins muß zum körperlichen Zentrum zurückgezwungen, alles Überflüssige, welches da heraustaumelt über die natürlichen Grenzen, muß getilgt oder gemäßigt werden. - Es gibt ein "ruhiges Pathos des Seins", (4) eine stille Mystik des einfachen, atmenden Leibens und Lebens, worüber der wahre Künstler in das höchste Entzücken geraten kann. Man betrachte nur die Studien eines RAPHAEL oder DÜRER; die Hälfte davon spricht nur durch diese gewächsartige Gediegenheit und durch die erstaunliche Entwirkung desselben (Torso des HERKULES, Reiz eines fragmentarischen Gliedes, Armes, Beines).

Zunächst haben wir hierbei natürlich an die Darstellung  vegetabilischer  Gestalten zu denken, dann allerdings auch in gewissem Sinne an das Tier- und Menschenbild. Im letzteren Fall ist eben die Art der Verschmelzung des (meines) subjektiven Gefühls mit dem objektiven eine dunkle, träumerische (Barberinischer Faun). - Die menschliche Seele wird nur geahnt; ähnlich, wie in aller sinnlichen Empfindung immer ein Ansatz zur Vergeistigung, zum Gefühl enthalten ist. Man könnte sagen: das ist eine Degradierung der menschlichen Existenz; aber in diesem sinnlichen Stillleben liegt doch eine solche Unendlichkeit geistiger Anlage und Vorbereitung, daß von selbst die idealsten Seelenregungen anschließen. Besonders gegenüber solchen zuständlichen Antiken ist uns oft zumute, als ob wir die ersten naturwüchsigen Menschen schauten, wie sie soeben vom Herrgott geschaffen wurden; noch feucht vom Nichtsein, noch unkundig des Lebens und doch dunkel hingenommen von einem Erinnern, als ob das alles schon einmal empfunden und erlebt worden sei.

Das Prinzip dieser organischen Lebenspotenzierung ist immer die Wahrheit der Realität, ob sie nun auf eine allgemeine, gattungsmäßige Wirkung oder auf eine individuelle Besonderung derselben ausgeht. Immer wählt sie den positiven Kern zum Ausgangspunkt, immer gibt sie die lebendige Wärme einer treibenden Existenz. Das Innere kommt hier rein im Äußeren zum Austrag, weil es wie dieses sinnlich genommen ist.

Der Grundcharakter dieser Potenzierung ist Ruhe; sie frägt nur nach dem unwillkürlichen Habitus der Raumerfüllung, nach der brütenden Zuständlichkeit. Allerdings kann auch die Bewegung ästhetisch lediglich als eine durch die statischen Körperverhältnisse streng gebundene Raumerfüllung aufgefaßt und insofern organistisch, d. h. als eine harmonische Kraft betrachtet werden. Man sollte aber festhalten, daß es sich hier um die Gestalt an sich, abgesehen von einer äußeren Alteration, handelt. Durch die Bewegung treten einzelne Formen und Kräfte einseitig heraus und pointieren so ablenkend auf einen äußerlichen Zweck, auf ein anderes. Es gibt keinen schlimmeren Feind für die Tätigkeit, welche wir Organisierung nennen möchten, für die angestrebte Darstellung einer sinnlich-konkreten, selbständigen Lebensharmonie als den schielenden, zerstreuenden Reiz.


c) Die bewußte Gestaltidee und die Idealisierung

Durch die Idee wird alles Ausdruck eines bestimmten, geistigen Lebens, wird alles sprechend. Das Sinnliche ist dann nur Transparent des geistigen Inhaltes, der uns um so ergreifender erscheint, je mehr er mit unserem Gedanken der Vollkommenheit, mit unserem Ideal übereinstimmt.

Ich brauche nicht noch einmal darauf zurückzukommen, daß die anorganische und unbewußt organische Erscheinung (Pflanze) in harmonisierter Form zu einem ahnungsvollen Symbol von Seelenharmonie wird.

Der Vollständigkeit halber muß noch kurz von der Tier- und Menschengestalt die Rede sein, angesichts welcher eine unmittelbare geistige Einfühlung stattfindet, leicht zusammenrinnend mit ihrem (objektiv) an und für sich schon geistigen Ziel. - Dann aber realisieren wir auf äußerlichem Wege der Stylisierung und dem relativ innerlichen der Potenzierung der sinnlichen Kraft (Organisierung) auch die ganze Macht des Innengeistes. Die zentrale Sammlung der Teile wird zu einer geistigen Absorbierung derselben. Alles erscheint als bestimmte Kund und Herrschaft der Idee (Blick, Miene). Durch dieses geistige Wecken und Durchläutern der organischen Substanz gewinnen die Gestalten einen unendlichen geistigen Hintergrund, einen Schein von Intimität und Seligkeit. Unser Herz wird unmittelbar ergriffen. Nun erst stehen wir vor der schleierlosen Schönheit. Bisher glaubten wir nur Form und Gestalt zu haben, ahnungslos einer verkappten Idee folgend, jetzt glauben wir nur eine Idee zu haben und vergessen fast den Dank an ihre Repräsentantin, die Form.

Der Künstler nun unternimmt es, diese im Leben der Wirklichkeit stockende Idee zu befreien und makellos herauszubilden. Die kann er sowohl durch "direkte" als durch "indirekte Idealisierung". Im ersten Fall macht er eben eine schöne Gestalt, einen Gott, ein Urbild der Gattung, d. h. er realisiert das vorschwebende Ideal ohne alle und jede Rücksicht. Im letzteren Falle wird es ihm mehr um eine energische Individualisierung derselben zu tun sein; er wird die Schönheit einseitig machen, er wird sie beschränken, um die gegen diese Schranken ankämpfende Idee in einen aufleuchtenden, rächenden Kontrast zu bringen. Wir glauben dann, wie in einem Palimpsest [wiederbeschriebene Papierrolle, - wp] durch die später aufgesetzten Buchstaben die große Hand der Urschrift herauszuerkennen. So ein Bild nennt man auch charakteristisch. Man könnte es auch sokratisch nennen: die Schönheit, das Götterbild ist wie der tiefe Sinn der sokratischen Reden in das Fell eines wilden Satyrs gehüllt.

Beide Fälle, direkte und indirekte Idealisierung, unterliegen ihrerseits wieder einer doppelten Behandlung: entweder der bloß gefühlsmäßigen Darstellung einer idealen Kraft und Macht (Farnesischer HERKULES) oder der gemütsmäßigen einer idealen Güte und Trefflichkeit (Christus. Luther. "Seelenschönheit").

Wir haben bisher nur von der einzelnen Gestalt gesprochen und ihr zugesehen, wie sie sich (ohne alle äußeren Zeichen und Attribute) noch nachdenklich mit ihrer Idee beschäftigt (DÜRERs vier Apostel). Die Kunst sieht aber ihr höchstes Ziel darin, einen bewegten Konflikt von Kräften darzustellen. Mit Recht nennt der Dichter gewiß diesen Zweck seinen eigentlichen Beruf. Allein für die bildende Kunst war und ist es immer eine gewagte Aufgabe, weil bei allen handelnden und redenden Beziehungen ein solches Übergewicht auf den geistigen Pol fällt, daß sie hiermit gar leicht ihre eigenste Sphäre, die Welt der reinen Anschaulichkeit und Leibhaftigkeit preisgibt und sich ihrer wahren Existenz entäußert. Die deutschen Maler haben neben einer großen Neigung für gedankenhafte, stoffliche Effekte doch auch wieder stets eine etwas schwerfällige, aber gesunde Abneigung gegen das Darstellen von bewegten, aufgerührten Szenen gehabt. Die Romane dagegen haben hierin Erstaunliches geleistet. Aber wir kennen auch die Exzesse dieser Entäußerung der Einzelgestalten, die Wirbel des Barockstils und die Feuerwerke der Effekthascher.

Der bildende Künstler soll Freude an der Bewegung als einer solchen haben und zunächst ganz von ihrem Motiv absehen. Die Bewegung ist immer die Form der Beziehung zwischen den Formen der einzelnen Körper. Sind diese nun bewußte Individuen, so mengt sich ein abstrakter Begriff, eine reflektierende Spannung in die Anschaulichkeit der Bewegung, der Begriff der Ursache und Wirkung. In dem Moment aber, wo mich dieser beschäftigt, wird mir auch die reine objektive Bildwirkung gestört; ich verhalte mich halb poetisch zum Gegenstand, ich sehe Geister herhuschen neben den sichtbaren Gestalten. Dieselben werden mir leicht zu Buchstaben, welche die Wahrheit in der Leere zwischen den Zeilen zeigen. - Es handelt sich nun eben darum, daß der Künstler diese poetische Abstraktion ganz anschaulich, ganz gefühlsmäßig in der bewegten Gestalt zu sammeln versteht, so daß implizit aus ihr leuchtet, was sie explizit tut, so daß sie ein Mikrokosmos für sich bleibt. Andererseits muß die Vielheit der Erscheinungen harmoisch zu einer Gesamtindividualität zusammenfluten welche ihre inneren Wechselbeziehungen versöhnend umfaßt und zusammenhält.

Diese Wechselbeziehungen können nun rein gefühlsmäßiger, rein willensmäßiger Natur sein. Wir wollen die Energie eines Lebensaktes dargestellt haben, sei es nun in der spezifischen Aktion eines Individuums oder einer Gesellschaft, Gemeinde etc., sei es in geschichtlichen oder mythischen Taten. - Eine im besten Sinne poetische Wirkung tritt aber ein, wenn sich hiermit eine gemütvolle Versöhnung verbindet, wenn sich die Weihe der Güte und Liebe, der menschlichen Rührung über die Gestalten ausgegossen hat.
LITERATUR Robert Vischer Über das optische Formgefühl - ein Beitrag zur Ästhetik, Leipzig 1873
    Anmerkungen
    1) Sie gleicht der realen Ahnung, welche immer aus einer dunklen Kumulation von Schlußreihen besteht.
    2) Der Ausdruck  Organisierung  würde sich durch seine Kürze und durch seine den Begriffen  Stylisierung  und  Idealisierung  enstprechende Fassung sehr empfehlen, wenn er nicht dem gewöhnlichen Gebrauch widersprechen würde, welcher ein äußerliches Ordnen und Arrangieren darunter versteht.
    3) M. Unger, Das Wesen der Malerei, Seite 130 und 131
    4) K. A. SCHERNER, Das Leben des Traumes, Seite 11