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EGON FRIEDELL
Der heutige Mensch
[kulturelle Synthese]
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"Wir haben von England das neue Material an naturwissenschaftlichen und sozialen Ideen empfangen und von Frankreich die Werkzeuge einer neuen Psychologie. Der Kopf ist aber heute noch nicht da. Oder vielmehr: es sind erst einige Versuche gemacht worden, wie etwa in der vorklassischen Zeit des 18. Jahrhunderts. Man könnte in dieser Richtung Lessing und Nietzsche in Parallele stellen. Ihre Position ist eine ganz ähnliche: sie waren beide keine eigentlichen Neubegründer, so sehr sie auch dafür galten, sondern mehr Luftreiniger, Forträumer des Alten, Platzmacher und Wegbahner, die den Boden umgruben, um ihr für Neues wieder fruchtbar zu machen."

"Der Mord gehörte damals ganz einfach zur Ökonomie des Daseins, wie heutzutage ja auch noch die Lüge zur Ökonomie des Daseins gehört. Unser Zeitungswesen, unser Parteiwesen, unsere politische Diplomatik, unser Geschäftsverkehr: dies alles ist auf einem umfassenden System des gegenseitigen Sichanlügens, Übervorteilens und Bestechens aufgebaut. Niemand findet etwas dabei."

"Wenn ein Politiker aus Gründen der Staatsräson oder im Interesse seiner Partei einem anderen Zyankali in die Schokolade schütten wollte, so würde die ganze zivilisierte Welt in Entsetzen geraten; daß aber ein Staatsmann aus ähnlichen Motiven betrügt, Tatsachen fälscht, heuchelt, intrigiert: das finden wir ganz selbstverständlich."

Wir sagten am Anfang unserer Beobachtungen, daß der Mensch von heute kein Präsens hat, daß er eine Mischung aus Perfektum und Futurum ist. Indem wir nun zum Schluß noch einen kurzen Blick in dieses Futurum werfen, begeben wir uns natürlich in das Reich abenteuerlicher und selbst grotesker Vermutungen. Zudem wird es wohl am Platz sein, diese Untersuchungen noch problematischer und skizzenhafter zu halten, als dies ohnehin schon bisher geschehen ist.

Da müssen wir uns zunächst über die Frage einig werden: was versteht man denn eigentlich unter Entwicklung? Ganz gewiß nicht eine Steigerung jener Kräfte, die wir als die intellektuellen bezeichnen, eine Weiterbildung der Funktionen des Verstandes oder der Gaben der Vernunft. In dem, was wir Logik, Kausalitätsgefühl, Kraft des Schließens und Folgerns nennen, hat die Menschheit seit dreitausend Jahren keinerlei Fortschritte gemacht; und das liegt in der Natur der Sache. Die Fähigkeiten unseres Intellekts gehören zu unserer natürlichen Ausrüstung: wir haben sie, der eine mehr, der andere weniger, aber keinesfalls sind sie einer sogenannten Vervollkommnung fähig, aus dem einfachen Grund, weil sie von allem Anfang an vollkommen waren. Man kann so wenig behaupten, daß der Mensch von heute besser zu denken vermag als der Mensch am Beginn der historischen Zeiten, wie man sagen könnte: wir vermögen heute besser zu laufen oder zu schwimmen als vor so und so vielen Jahrtausenden. Unsere Denkorgane waren, soweit die Geschichte reicht, immer genauso vorzüglich wie unsere Fortbewewgungsorgane, und wir haben keinerlei Grund zu der Annahme, daß die Gedanken der alten Ägypter oder Inder weniger gut liefen als die Gedanken des Menschen von heute. Daher gibt es auch tatsächlich auf dem Gebiet der reinen Intellektualität keinerlei Fortschritte, und die Leugner des historischen Entwicklungsgedankens geben ihren Argumentationen dadurch eine Art Scheinkraft, daß sie sie in einseitigster Weise nur aus diesem Gebiet holen. Auch gibt es in der Tat hier wirklich nichts Neues, und es ist vollkommen wahr, daß alle neuen Wahrheiten nichts anderes sind als die Wiederholungen oder Variationen uralter Wahrheiten. Was also dieses Gebiet anlangt, hat der alberne BEN AKIBA vollständig recht. Das Kunstdenken (nicht die Kunst) der alten Griechen repräsentiert einen absoluten Höhepunkt, über den hinaus wir uns nichts vorstellen können; ein Geschichtsdenker wie THUKYDIDES wird niemals überholt werden; eine bessesre Logik als die vom Port Royal im 17. Jahrhundert editierte "l'art de penser" ist unmöglich; das juristische Denken der Römer ist heute noch die Grundlage aller Rechtswissenschaft; die Grammatik des PANINI, obgleich vierhundert Jahre vor Christus geschrieben, wird von den Kennern als die beste Grammatik der Welt bezeichnet; und das Religionsdenken der alten Inder ist sogar bis zum heutigen Tag nicht einmal erreicht worden.

Ja auch in dem, was gemeinhin Weistheit genannt wird schreiten wir nicht fort. Es hat zu allen Zeiten Weise und Unweise gegeben, vielleicht ist der Prozentsatz der ersteren heute etwas größer, aber keineswegs können wir sagen, daß die Neuzeit die Weisheit der Alten in irgendetwas übertroffen hat. Die Gedankentiefe eines PLATO oder HERAKLIT, die Staatsklugheit eines CÄSAR, die Menschenkenntnis eines PLUTARCH, die dialektische Geschmeidigkeit eines SOKRATES, die wissenschaftliche Denkschärfe eine DEMOKRIT: - das sind lauter Höhepunkte, denen wir den einen oder anderen neueren Denker bestenfalls an die Seite stellen können. Ja wir können nicht einmal behaupten, daß wir "aufgeklärter" sind als frühere Zeiten; denn aufgeklärte Menschen, d. h. solche, die gesund, vernünftig und menschlich empfinden, hat es zu allen Zeiten gegeben. Man weist darauf hin, daß unsere Zeiten "humaner" sind, daß die Dinge wie die Ermordung der Bürger von Platää oder die Inquisitionsgerichte heute nicht mehr möglich sind, aber warum sind sie es nicht mehr? Keineswegs infolge erhöhter "Einsicht" in das Irrationale oder, wenn man es pathetisch ausdrücken will, Inhumane dieser Dinge. Wir dürfen wohl annehmen, daß die athenische Armee, in deren Mitte sich ein PERIKLES, THUKYDIDES und SOKRATES befanden, ebenso gescheit war wie ein heutiger Leitartikler; und daß die Menschen des Mittelalters sogar viel moralischer gewesen sind, d. h. frömmer in ihrem Wissen und Wollen, erfüllter vom Drang, sich zu entsündigen und das Gute zu verwirklichen, das ist doch sogar erwiesen: die Schriften jener Zeit sind von einem inbrünstigen ethischen Pathos getragen, dessen wir heute gar nicht mehr fähig sind. Und warum tun wir dennoch diese Dinge nicht mehr, die frömmere und klügere Zeiten ohne Bedenken getan haben? Aus einem viel prosaischeren Grund: weil wir nicht mehr "die Nerven haben", solche Dinge zu ertragen, oder richtiger ausgedrückt: weil jene Menschen noch nicht genug Nerven hatten, um solche Dinge nicht zu ertragen. Eines Tages wird es auch sicher keine Kriege mehr geben und keine Duelle, aber nicht, weil wir einsehen werden, daß solche Dinge unvernünftig oder bestialisch sind - das wissen wir längst -, sondern weil eines Tages unser Organismus so verfeinert sein wird, daß er diese Dinge nicht mehr aushält.

Und damit sind wir auch bei der Definition des Begriffs Entwicklung angelangt. Entwicklung, Fortschritt vollzieht sich nämlich nur auf physiologischem Gebiet. Eine andere Form der Evolution gibt es nicht. Unsere Intellektualität wird immer die gleichen Formen behalten, sie muß sie sogar behalten; aber unseres Sinneswerkzeuge sind der unbeschränktesten Vervollkommnung und Ausgestaltung fähig. In diesem Sinn läßt sich auch von einer geistigen Entwicklung reden; aber nur in diesem.

Was nun sind Sinnesorgane? Sie sind nichts anderes als die Form, in der die Lebewesen auf die im Weltall verbreiteten Energien reagieren. Jede Energieform bildet sich früher oder später ihren "Sinn", durch die sie apperzipiert wird. So schuf sich die photische Energie den im Auge lokalisierten Lichtsinn, die thermische Energie den in der Haut lokalisierten Temperatursinn usw.

Es gibt aber eine uns bekannte Energieform, die sich in unserem Körper noch nicht zu einem bestimmten Sinnesorgn ausgebildet hat: das ist die magnetelektrische Energie. Wir wollen unter diesem Kollektivbegriff all jene Kräfte zusammenfassen, die sich als Fernwirkung äußern. Es ist übrigens nicht ausgeschlossen, daß ganz neu entdeckte Energien, wie zum Beispiel die Radioaktivität, mit diesen Energieformen, über die wir ja auch erst Ungenaues wissen, eine große Gruppe bilden.

Nun ist es ja längst erwiesen, daß auch der Mensch magnetische und elektrische Energien besitzt. Sie sind jedoch diffus vorhanden, keineswegs zentralisiert, noch nicht zu einem spezifischen Apparat verdichtet. Die Vervollkommnung der menschlichen Sinnesempfindung liegt also möglicherweise in der Richtung eines magnetelektrischen Sinnesorgans.

Dies klingt nur auf den ersten Moment wie eine vage Hypothese. Es gibt eine ganze Reihe von Sinneserscheinungen in der Tierwelt, für die wir absolut keine Erklärung haben; zum Beispiel der sexuelle Witterungssinn gewisser Schmetterlinge, die auf viele Kilometer weit das Weibchen spüren und finden. FABRE, der hierüber die genauesten und mühsamsten Versuche angestellt hat, hat auf das Zuverlässigste nachgewiesen, daß dieser Sinn mit keinem der uns bekannten Sinne analog ist, daß er nicht etwa ein zu besonderer Leistungsfähigkeit gesteigerter Geruchssinn ist, wie das Witterungsvermögen des Hundes, sondern ein ganz neuer unerklärlicher Sinn. Ähnlich verhält es sich mit dem mysteriösen Orientierungssinn der Biene, über den u. a. MAETERLINCK Experimente gemacht hat. Eine Biene findet einen Honigtropfen, sie eilt nach dem mehrere hundert Meter entfernten Bienenstock, macht ihren Kolleginnen davon Mitteilung und zeigt ihnen den Rückweg. Es sind noch andere ähnliche Beobachtungen, vorwiegend an Insekten, gemacht worden. Alle diese Sinneserscheinungen sind Leistungen eines geheimnisvollen Fernsinns.

Der Mensch besitzt noch kein Fernsinnorgan, in dem seine magnetelektrischen Energien lokalisiert sind. Die Fernkräfte sind aber die allerverbreitetsten und zugleich die allermächtigsten. Denn unser ganzes Planetensystem, das ganze Weltall verdankt ihnen seine Entstehung und besteht allein durch sie fort.

Wie nun aber wird dieses neue Organ möglicherweise beschaffen sein? Dazu gelangen wir vielleicht an der Richtschnur folgender Erwägung.

Es ist schon seit längerem beobachtet worden, daß alle technischen Erfindungen nichts anderes sind als die bewußute oder unbewußte Nachahmung gewisser Einrichtungen unseres Körpers. Unsere optischen Apparate, Mikroskop, Teleskop usw., sind nach demselben Prinzip konstruiert wie unser Auge, man könnte sie tote Augen nennen. Die vielbestaunten neuen Erfindungen auf dem Gebiet der Akustik, Telephon, Grammophon usw. haben ihr genaues Vorbild am menschlichen Ohr. Unser Skelett ist auf die feinste und vollkommenste Weise nach den Gesetzen der modernsten Ingenieurtechnik gebaut; jeder Muskel ist die einfachste und sicherste Anwendung des Hebelgesetzes; die Aviatik [Flugkunde - wp] versucht sich mit mehr oder weniger Erfolg am Vogelflug zu orientieren. Daß unser Auge eine camera obscura ist, lern jedes Kind in der Schule; neueste Forschungen neigen aber sogar der Ansicht zu, daß das Sehen dadurch zustande kommt, daß wir die unsere Netzhaut treffenden Bilder mit Hilfe gewisser lichtempfindlicher Substanzen photographieren; somit wäre das Auge nichts anderes als ein in ununterbrochener Tätigkeit befindliches photographisches Atelier. Kurz: die Physik läuft der Physiologie nach, und alle unsere Erfindungen sind lauter - allerdings meist unbewußte - Versuche, die Gesetze, nach denen unser gesamter Organismus seit ungezählten Jahrtausenden funktioniert, auf die tote Materie zu übertragen.

Nun könnte sich aber auch einmal der umgekehrte Fall ereignen. Wir haben in der letzten Zeit eine Reihe von Erfindungen gemacht, die in unserem Körper keinerlei Analogon haben: es sind die auf dem Gebiet des Magnetismus und der Elektrizität. Man hat allerdings eine Zeitlang geglaubt, daß wir in unnseren Nerven solche Organe besitzen; daher die bekannte Identifizierung des Nervensystems mit einem Telegraphenamt, in dem die Nervenfasern den Drähten entsprechen, die Ganglienknoten den Stationen und das Gehirn der Zentrale. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, daß das Nervensystem keineswegs mehr elektrische Kapazität besitzt als alle übrigen Organe, sondern diese Eigenschaft mit aller belebten Materie teilt; die Sache kann daher nur noch die Bedeutung einer Metapher beanspruchen. Halten wir sie jedoch fest; sie ist lehrreich. Was wir nämlich noch nicht besitzen, ist ein Akkumulationsapparat. Jeder Mensch, der sieht: mikroskopiert und teleskopiert; jeder Mensch, der hört: telephoniert usw.; aber es gibt noch keinen Menschen, der drahtlos telegraphiert. Wir sind wandelnde chemische und physikalische Laboratorien, Fernröhren und Lupen, Grammophone und Phonographen, aber wir sind keine wandelnden elektrischen Batterien, keine Dynamohallen und Induktionsmaschinen. Wir haben noch kein Zentralorgan für Telepathie oder kürzer und umfassender gesagt: wir haben noch keine Seelenorgan.

Der Mensch der Zukunft wird der Trancemensch, der Odmensch, der radioaktive, telepathische, drahtlos telegrafierende Mensch sein.

Was würde nun ein solches Organ leisten? Alles, was magnetische, elektrische Apparater schon heute zu leisten vermögen. Ein Lebewesen, das ein solches magnetelektrisches Seelenorgan besäße, würde ganz andere Zugänge zur Welt haben als wir; seine Fähigkeit der Sinnesempfindung würde unseren Sinnesorganen genauso überlegen sein wie die neuen Kraftmaschinen den mechanischen Maschinen überlegen sind oder ein Funktelegraph einem Menschen, der seine Signale durch ein Schallohr abgibt. Wir würden eine viel vollkommnere und nuanciertere Welt konzipieren können, weil die im Weltall befindlichen magnetischen und elektrischen Energien ein Organ hätten, das sie apperzipieren könnte wie die Nase die chemischen Energien.

DIe Entwicklung dieses Organs ist abhängig von der Höherentwicklung unserer Nervenenergien. Und wir sehen auch wiederum: wir müssen unbedingt nervöser werden.

Wir nannten dieses Organ das "Seelenorgan" und in der Tat läßg es sich nicht anders bezeichnen. Es wird das eigentliche Organ für Gefühl, für Empfindlichkeit sein. Ein solches Organ besitzen wir selbstverständlich noch nicht. Die Dichter nennen das Herz den Sitz der Seele: etwas Falscheres läßt sich gar nicht denken. Das Herz ist nämlich unser allerseelenlosestes Organ, es ist nichts als ein Pumpwerk, es dient ausschließlich mechanischen Zwecken. Man könnte sich denken, daß ein genialer Chirurg es herausnimmt und durch ein anderes ersetzt; wäre dieses Herz kräftiger, so wäre unser Blutkreislauf besser in Ordnung, wäre es schwächer, so könnte er leichter Störungen erleiden. Aber in unserem Seelenleben würde sich nicht das Geringste verändern. Auch vom Gehirn kann hier nicht die Rede sein, denn wie wir schon erwähnten, das Gehirn hat eine bloß administrative Bedeutung. Die Richtung ist nicht im Zentralnervensystem zu suchen, sondern im sympathischen Nervensystem, wie der Name eigentlich schon andeutet. Dieser Teil unseres Nervensystems ist in der Tat noch nicht so entwickelt, als er es sein könnte. Immerhin besitzt er bereits eine Art Zentrum: das, was die Physiologen "Bauchhirn" nennen. Wir dürfen aber dabei nicht stehen bleiben, wir müssen, um es rund herauszusagen, auch ein Bauchherz bekommen. Es läßt sich in der Tat einiges dafür anführen, daß sich hier, in der Gegend des Zwerchfells, der Sitz besonders zarter und differenzierter Seelenempfindungen befindet oder doch einmal befinden wird. Wenn er Gemütsbewegungen schildern will, so sagt er: "Ihm erbebte das Zwerchfell." Der Bauch gilt als profanes Organ, weil in ihm die Verdauung vor sich geht, aber vielleicht werden wir eines Tages sogar darüber umlernen und finden, daß die Verdauungstätigkeit ein Vorgang ist, der unser Seelenleben mehr beeinflußt als so mancher andere weniger prosaische. Soviel läßt sich jedenfalls sagen, daß gewisse besonders subtile, besonders mysteriöse und besonders subjektive Empfindungen bisweilen schon heute im Sonnengeflecht lokalisiert sind. Jeder Verliebte wird dies schon empfunden haben: es ist ein Gefühl, das langsam vom Zwerchfell heraufsteigt, eine eigenartige prickelnde Nervosität in der Magengegend erzeugt und die "Kehle zuschnürt", wie die bekannte Redensart in den Romanen lautet, in der wir aber nur die Beobachtung einer Nebenerscheinung erblicken dürfen. Vielleicht wird der Romancier der Zukunft einmal ebenso pathetisch sagen: "Er erblickte ihre geliebten Schriftzüge, und sein Sonnengeflecht erzitterte" oder: "Das Zwerchfell krampfte sich zusammen, als er sie wiedersah."

Aber wenden wir uns zu etwas Greifbarerem und Näherliegenderem. Wenn die Annahme gilt, daß irgendwelche neue physiologische Energien, neue Organe, neue Apperzeptionsformen sich vorbereiten, welche seelischen Folgen müßte dies schon für die allernächsten Zeiten haben?

Zunächst zweierlei. Erstens: ein Zurückgehen der alten Ausdrucksmittel und zweitens: eine langsame Herausbildung oder eigentlich nur Vorahnung neuer Ausdrucksmittel.

Positiv feststellbar ist vorläufig nur das erste. Es ist in der Tat schon in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren eine solche Rückbildung der vorhandenen Ausdrucksmittel fühlbar geworden. Die alten Formen der Mitteilung: Wort und Gebärde verlieren, man kann sagen, allmählich ein wenig an Kredit. Es läßt sich überhaupt als ein allgemeines Kriterium fortschreitender Kultur feststellen, daß die Ausdrucksbewegungen an Heftigkeit und Sinnfälligkeit verlieren. Ungebildete Menschen haben eine viel lebhaftere Gebärdensprache als geistig höher stehende. Die südlichen Völker haben eine viel ausgeprägtere Mimik als die nördlichen. Ein Araber wirf für die Mitteilung der Tatsache, daß ein Wagenrad gebrochen ist, mehr Material an Gesten und lauten Reden aufwenden als ein Engländer für eine Todesnachricht. An Anstandsregel des kultivierten Gesellschaftsmenschen gilt ja schon allenthalben eine möglichst geringe Inanspruchnahme der Extremitäten. Die Wortkargheit, das Zurückgehen des Pathos und der Breite gehört in dieselbe Rubrik. An IBSENs unterirdischen Dialog, an MAETERLINCKs Technik des Schweigens braucht bloß erinnert zu werden. In den Dramen dieser beiden Dichter geht eigentlich niemals etwas vor, und dennoch wirken sie nicht undramatisch. Die Handlung ist eben nur gewissermaßen eine Schicht tiefer gelegt. Diese Menschen werden vom Leben sozusagen nur beschattet, und bei jedem der beiden Dichter geschieht das auf eine andere Weise. IBSEN zeigt den Schatten, den die Vergangenheit auf die Seele wirft, MAETERLINCK zeigt den Schatten, den Kommendes über die Menschen breitet. Aber weder dieses Vergangene noch dieses Kommende betritt jemals die Bühne. Wir haben also hier schon eine neue dramatische Form im Urzustand, die einer neuen Verfassung unserer Sinnesorgane entspricht: es ist, wenn man so sagen kann, das telepathische Drama, das Drama der Fernwirkungen und Fernempfindungen. Alle diese Dinge sind aber, wie gesagt, erst der Negativdruck des neuen Tatbestandes. Das eine aber steht so ziemlich fest: es vollzieht sich eine Rückbildung der Lautsprache.

Wir reden weniger, aber nicht etwa, weil wir die Fähigkeit, gut zu reden, eingebüßt haben, sondern weil wir weniger Reden nötig haben. Es gibt in der Tat schon da und dort Ansätze zu einer unterirdischen Sprache der Seele, die keiner Worte mehr bedarf, sondern sich anderer Ausdrucksmittel zu bedienen vermag. Man nennt dies "Fluida": ein Wort, womit man immer Naturkräfte bezeichnet, die man nicht kennt. Auch die Elektrizität nannte man anfangs ein Fluidum, aber es hat sich gezeigt, daß dieses flüchtige, imponderable [unwägbare - wp], sozusagen immaterielle Etwas doch eine sehr respektabe Energie und Realität besitzt.

Eine Kunst, die immer mehr auf diese Mitteilungsmöglichkeiten zurückginge, hätte gar nichts Unsinnliches, so wenig wie die Elektrizitätk etwas Unsinnliches ist; sie wäre sogar in ihrer Wirkung viel sinnlicher als jede frühere. Was wir Persönlichkeitswirkung nennen, ist nichts anderes; es sind Kräfte, die direkt von den Sinnen auf die Sinne wirken, ohne Einschaltung einer toten Semiotik der Laute und Gebärden. Es wäre eine Kunst, die das erreichen würde, was die Musik heute schon erreicht, aber auf Kosten der Artikulationsfähigkeit; es wäre, um mit SCHOPENHAUER zu reden, die unmittelbare Sprache des Willens. Und hier liegt wohl auch der tiefere Grund für die Tendenz zur Konzentration, die unsere Zeit erfüllt. Denn nur durch die äußerste Verdichtung unserer gesamten geistigen Energien läßt sich eine solche Seelensprache ermöglichen.

Mit dem Wort Konzentration begeben wir uns nunmehr in das volle Licht der exakten Historie, um damit unseren Ausblick abzuschließen.

Wir nähern uns einer Periode der Synthese. Was damit gemeint ist, lehrt ein Blick auf die Wirtschaftsgeschichte der letzten Jahrzehnte. LAMPRECHT hat den Satz aufgestellt, daß die Wirtschaftsverhältnisse einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Volkes nicht etwa ein Produkt seiner politischen und kulturellen Lage sind, sondern daß umgekehrt das, was wir "Geistesleben" nennen, sich immer erst aus den Wirtschaftsverhältnissen entwickelt. Dies zugegeben, deutet die ganze Entwicklung auf eine Form der kulturellen Synthese jedoch in Dimensionen, die, soweit wir die Geschichte kennen, etwas durchaus Neuartiges darstellen. Wir sind im Begriff, in ein Zeitalter der Großtstadtkultur im umfassendsten Sinn überzugehen. Immer mehr verdichtet sich das gesamte Geistesleben auf die großen Zentren, und die Provinz wird in jeder Beziehung etwas mehr und mehr Untergeordnetes, ja Überflüssiges. Es heißtk, daß der Nationalismus jetzt wieder eine Zukunft hat, und das ist möglicherweise richtig, aber der Nationalismus in seiner modernen Fassung ist durchaus keine Gegeninstanz gegen den Universalismus: es handelt sich eben um die Konstituierung nationaler Weltreiche. Und auch der Sozialismus wird möglicherweise eines Tages in einem allgemeinen, die ganze Erde umspannenden Trustwesen seine Auflösung erfahren. Was eben die Geschichte immer und immer wieder lehrt, ist die Zusammenfassung scheinbarer Gegensätze zu einer höhren lebensfähigen Einheit. Es ist, als ob jede neue Wahrheit sich zunächst immer an zwei entgegengesetzten Polen entwickeln müßte, bis die beiden Enden sich treffen und die neue Wahrheit nun Wirklichkeit und Leben wird. Betrachten wir das Stadtbild einer modernen Metropole, so zeigt sich uns als architektonische Grundform der Häuserblock: also auch hier wiederum Synthese. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren; aber es ist unnötig: jedermann weiß, was gemeint ist.

Auch unser Seelenleben hat sich an zwei derartigen Gegenpolen zu entwickeln begonnen: die Pole hießen in diesem Fall Intellektualität und Hysterie, Überbewußtheit und Somnambulismus. Seit 150 Jahren vollzieht sich langsam das Erwachen, das Sichbewußtwerden des Menschen. "Es gibt fürwahr Jahrunderte", sagt MAETERLINCK, "wo die Seele schläft und sich niemand mehr ums sie kümmert. Heute ist es klar, daß sie große Anstrengungen macht ... man muß annehmen, daß der Mensch im Begriff ist, den Menschen zu berühren." Mit anderen Worten: es gibt heute zum erstenmal etwas wie Bewußtheit: von sich sowohl wie von den anderen. Der wache Mensch steht an der Schwelle der Geschichte. Aber bisher war uns diese Bewußtheit, die etwa mit der französischen Aufklärung einsetzt, noch nicht organisch, sie war etwas Okuliertes [Veredeltes - wp]. Und wir haben diese kurzen Stunden des Wachseins mit einem umso fieberhafteren und dumpferen Traumleben bezahlen müssen. Unsere moderne Überempfindlichkeit und hypertrophische [vergrößerte - wp] Impressionabilität, die Fähigkeit zu neuen Reizleitungen und Irritationen stand zunächst in geradem Gegensatz zu unserer Intellektualität. Die neuen Reize, Krisen und Werdezustände mit ihrer notwendigen physiologischen Begleiterscheinungen führten jenen bekannten krankhaften, halbwachen Traumzustand mit sich, der lange das Kennzeichen der modernen Geistesverfassung gewesen ist. Nun scheint diese Polarität sich auszugleichen. Der Mensch der nächsten Jahrzehnte wird eine organisierte Neurose sein.

Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte erinnert in mehr als einem Punkt an die vorklassische Zeit des 18. Jahrhunderts. Zunächst war auch diesmal wieder Frankreich führend, vollständig in der Malerie, in sehr bezeichnender Weise aber auch in der Literatur durch den Naturalismus. Nun sind die französischen Naturalisten niemals etwas anderes gewesen als eine Art Klassiker, im französischen Sinne: nämlich Programmatiker. Die neuen literarischen Programme sind immer von Frankreich ausgegangen, freilich auch niemals etwas anderes als die Programme. Wenn man die Sache vorurteilslos ansieht, so besteht zwischen RACINE und ZOLA kein essentieller Unterschied: beide schufen mit großer Energie und Einseitigkeit und bedeutender formaler Begabung ein neues poetisches Reglement, und die wüsten und brutalen Lebenslegenden ZOLAs sind ebensosehr musterhafte Schöpfungen der lateinischen clarté [Klarheit - wp] und Methodik wie die abgezirkelten Hofpoeme der Dichter um LUDWIG XIV. Methodik, Programmatik, poetische Mathematik, System, Reglement: das war immer die Hauptforce Frankreichs, denn jeder Franzose ist ein Cartesianer. Auch die französische Romantik war ja nichts weiter als reglementierte Regellosigkeit. Dies ist, auf das Wesen reduziert, das, was man lateinisches Formtalent zu nennen pflegt: eine Begabung, die künstlerisch gewiß zweiten Ranges ist, denn ihre Bedingung ist große Sehschärfe bei geringem Tiefblick, bedeutende äußere Produktivität bei starker innerer Sterilität; deren propagandistische Kraft aber von außerordentlichem kulturgeschichtlichem Wert ist.

Was Enland angeht, so hat sich auch diesmal wieder der Einfluß in der aktuellen Philosophie gezeigt. Die Engländer sind immer auch in ihren Theorien die praktischsten Köpfe gewesen, so widerspruchsvoll dies klingen mag; sie haben immer Europa mit gangbarem, faßlichem, handgreiflichem Denken versorgt. Der Exportartikel hieß im 19. Jahrhundert Darwinismus. Die Gedanken der modernen Naturwissenschaft sind erst in England zu einer brauchbaren europäischen Marktware geworden, die in die weitesten Kreise dringen konnte. Ferner ging auch diesmal wiederum von England der Anstoß aus zu einer satirischen, gesellschaftskritischen Orientierung der belletristischen Literatur: was STERNE und FIELDING für das 18. Jahrhundert waren, das sind WILDE und SHAW für das 19. gewesen.

England als das wirtschaftlich und politisch fortgeschrittenste Volk war im 18. Jahrhundert zuerst in der Lage, die Summe der Zeit zu ziehen, und der breite Rumpf der neuen Weltanschauung wurde dann auch von England geliefert. Diesem Rumpf hat Frankreich, als das geistig kultivierteste Volk, mit der Volubilität [Beweglichkeit - wp] und Feinheit seiner Ausdrucksmittel die Gliedmaßen gegeben; den Kopf aber hat Deutschland entwickelt, in seinen sogenannten Klassikern.

Wir befinden uns heute in einer ähnlichen Lage. Wir haben von England das neue Material an naturwissenschaftlichen und sozialen Ideen empfangen und von Frankreich die Werkzeuge einer neuen Psychologie. Der Kopf ist aber heute noch nicht da. Oder vielmehr: es sind erst einige Versuche gemacht worden, wie etwa in der vorklassischen Zeit des 18. Jahrhunderts. Man könnte in dieser Richtung LESSING und NIETZSCHE in Parallele stellen. Ihre Position ist eine ganz ähnliche: sie waren beide keine eigentlichen Neubegründer, so sehr sie auch dafür galten, sondern mehr Luftreiniger, Forträumer des Alten, Platzmacher und Wegbahner, die den Boden umgruben, um ihr für Neues wieder fruchtbar zu machen.

Aus all dem müßte man nunmehr den Schluß ziehen, daß wir uns allmählich wieder einer klassischen Periode nähern. Diese neuen Klassiker werden den alten ziemlich ähnlich sein, vor allem darin, daß sie sich ebensowenig mit dem landläufigen Begriff der Klassiker decken werden wie diese.

Wir müßten allerdings erst ganze Krusten von professoraler Rückständigkeit und Ästhetengalle von diesem Begriff abwaschen, bis er wieder einen vernünftigen und gesunden Sinn bekäme. Der Mensch besitzt nämliche eine ganz erstaunliche Geschicklichkeit in der Kunst, sich all seiner Erzieher zu entledigen, indem er sie zu gutmütigen Verziehern und unterhaltsamen Hanswursten ummodelliert.

Denn was war zum Beispiel die Bedeutung jener beiden Erzieher, die er in greulich karikierten Gipsabbildungen auf den Konsolen stehen hat? Sie lebten, und zwar vorbildlich. Darin bestand ihre ganze Tätigkeit.

Das Leben des einen war nichts als Arbeit, Fleiß, Arbeit. Ewige Unrast, immer weiter, vorwärts, hinauf, hinauf: das war der Sinn seines Daseins. Sein ganzer geistiger und physischer Organismus war nichts anderes als eine riesige Kraftmaschine, die unter ungeheurem Hochdruck ununterbrochen Kräfte akkumulierte, weitergab und wieder akkumulierte. Und so jagte er mit fliegendem Atem dahin, ein unersättlicher Renner, bis er mitten im Lauf, bis auf das Letzte ausgepumpt, zusammenbrach. Das war SCHILLER.

Das Leben des anderen war nichts als Wachstum, Entwicklung, Wachstum. Nicht umsonst liebte er so sehr die Anatomie, die Botanik, die Mineralogie. Wie ein Kristall langsam anwächst, durch lautlose "Apposition", immer neue Kristalle ansetzend, in klaren, geradlinigen, gleichmäßigen Formen, so wuchs auch er, nichts wegnehmend oder hinzusetzend, nichts verlangsamend oder beschleunigend, alles ihm Erreichbare zu sich heranziehend und geduldig sich einverleibend, mit nichts anderem beschäftigt als mit der stillen Betrachtung seines eigenen Wachstums. Und als er die größte Höhe und Umfänglichkeit erreicht hatte, die einem Menschen möglich ist, dann - man kann nicht sagen: starb er, nein, blieb er einfach stehen, setzte keine neuen Kristalle mehr an, blieb leuchtend stehen, gradkantik, unverrückbar, in spiegelnden Flächen, in unsterbliches menschliches Kunstwerk, weithin sichtbar für die Jahrhunderte. Das war GOETHE.

Also: rastlose Arbeit und lautloses Wachstum, das hätten die beiden gelehrt? Solche lästige Erzieher konnte der Mensch nicht brauchen und darum erfand er die "Klassiker". Er suchte SCHILLERs wertlose, bombastische Jugendgedichte hervor und ließ sie in der Schule auswendig lernen, und es entstand der SCHILLERsche "Idealismus". Er strich aus SCHILLERs Dramen die lebendigsten und menschlichsten Szenen und ließ die übriggebliebenen so lange von dummen und unwissenden Schauspielern verplatten, bis aus dem Dichter ein unausstehlicher Radaupatriot und knalliger Sensationsdramatiker geworden war; er machte aus "Don Carlos", dem schauerlichen Seelengemäle königlicher Einsamkeit, einen dramatisierten Leitartikel, und es bedurfte erst MITTERWURZERs, um den Schwerpunkt wieder an seine richtige Stelle zu bringen. Dann starb MITTERWURZER, und der "Don Carlos" ar wieder ein Leitartikel. Das Lieblingsstück des Publikums wurde der "Tell", gerade das schwächste. "Tell" oder "Der Sieg der Vollbärte".

Aus GOETHE machte man einen faden Gräzisten [Anhänger Griechenlands - wp] und "Olympier". Den allermenschlichsten Menschen machte man zum unmenschlichsten, indem man ihn in die Wolken versetzte. Man vergaß, daß diese ungeheure Geisteskraft und Selbstzucht dringend nötig war, um einen Organismus von so ungeheurer Labilität im Gleichgewicht zu halten. Es war mit dem "harmonischen" GOETHE wie mit dem "harmonischen" Griechen. Harmonie war hier wie dort kein Gnadengeschenk des Schicksals, ein Zustand glatter, marmorner Ruhe, sondern das Resultat eines ungeheuren inneren Kräftekampfes. Dies paßte aber dem Philister nicht, der harmonisch ist aus Mangel an Disharmonien und Differenziertheiten, und so macht er aus GOETHE eine Wachspuppe.

Es ist freilich richtig: ein unharmonischer, ein nicht zentralisierter Organismus ist nicht lebensfähig, er geht früher oder später zugrunde. Aber andererseits: ein Geist ohne Dissonanzen und Zwiespältigkeiten, ohne Extreme und Polaritäten ist nicht produktiv. Daß GOETHE beides war: souveränder Gehirnmensch und problematische Natur; daß er genug irrsinnig war, um produktiv zu sein, und genug weise, um lebensfähig zu sein: das machte ihn zu einem Paradigma der Menschheit, das machte ihn zum Klassiker.

Es ist das, was GOETHE den Beinamen des "glücklichsten Deutschen" eingetragen hat. NIETZSCHE wendet sich in einer der "Unzeitgemäßen" mit größter Schärfe gegen diese Ausdeutung. Mit Recht, und doch auch wieder mit Unrecht. An ein glückliches Leben im Philistersinn mit viel täglichen Freuden und Annehmlichkeiten, wenig Schmerzen und Enttäuschungen und dauernder Selbstzufriedenheit und Behaglichkeit dürfen wir freilich nicht denken. So genommen war sein Leben sicher das Gegenteil eines glücklichen. Aber so muß es auch nicht gemeint sein. Es liegt in den stehenden Beiwörtern und schmückenden Attributen, die sich im Laufe der Zeit um jeden bedeutenden Menschen ansetzen, doch immer eine tiefere Wahrheit, so platt und schief sie uns schließlich in der abgeschliffenen Form anmuten, die sie durch den ständigen Gebrauch erlangt haben. Aber sie haben allemal einen vernünftigen Sinn, wie jedes Sprichwort, jede Redensart, jede sprachliche Neubildung, als Produkte des menschlichen Kollektivdenkens, das niemals daneben greift. Freilich war GOETHE einer, der "sich's sauer werden ließ", nach seinem eigenen Ausspruch, aber wirklich unglücklich ist er darum doch wahrscheinlich niemals gewesen. Wir können es uns zumindest nicht vorstellen. Denn er ging seinen Weg; immer. Und das ist fast die Definition des irdischen Glücks. Es war in ihm jene Ausgeglichenheit zwischen der Vernunft, ohne die wir nicht leben können, und der Schönheit, ohne die wir nicht leben wollen. Ein Mensch wie KANT hatte das eine, ein Mensch wie BYRON hatte das andere, Menschen wie die Brüder SCHLEGEL und andere Romantiker bewegten sich unstet und unsicher zwischen den Polen hin und her. GOETHE hatte beides. Kein anderer außer ihm. Darum war er der "glücklichste Deutsche".

Wir dürfen annehmen, daß doch niemals, soweit die Geschichte reicht, Schönheit und Humanität vereinigt gewesen sind. Unter Humanität verstehen wir kein moralisches Phänomen, sondern einfach die volle geistige Selbstbeherrschung des Menschen, Vernunft, Güte, Menschlichkeit, wie man es nennen will, im Wesentlichen aber doch nur dieses eine: Wissen um sich selbst. Denn aus dieser einen Wurzel folgt dann alles andere: ein Mensch, der weiß, kann niemals "unsittliche", "böse", "unmoralisch" sein. Aber es scheint, daß der Preis für diese höchste Betätigung unserer natürlichen Bestimmung bisher immer der Verlust der Schönheit war. Wir sahen bereits mehr als einmal wirkliche Schönheit auf der Welt, worunter allein dies verstanden werden kann, daß nicht Einzelne und Einzelnes: Säulen, Tafeln, Geschichten oder Lieder schön sind, sondern alles in allem; daß das ganze Dasein ein Kunstwerk ist, wie es die Natur allemal ist. In Athen muß es so gewesen sein: die Stadt nicht eine Ansammlung unvergleichlicher Bildwerke, sondern eine unvergleichliche Ansammlung von Bildwerken. Ob den Dramen der attischen Tragiker nicht SHAKESPEARE oder IBSEN voranzustellen sind, darüber läßt sich wohl streiten; worüber sich aber nicht streiten läßt, das ist die Einzigkeit und Unerreichtheit jenes antiken Theaters selber, in dem Publikum und Bühne ein Gesamtkunstwerk bildeten. Und sogar die Philosophie, die wir uns als eine weltabgewandte Geheimwissenschaft vorzustellen pflegen, war damals eine allgemeine Angelegenheit. Die Philosophen gingen auf den Straßen, in Säulenhallen, in Gärten umher und machten ihre Philosophie, das ganze Volk arbeitete daran mit. SOKRATES war nicht der einzige dieser Art, er ist das Modell für fast alle griechischen Denker. Ein solches Leben muß schön gewesen sein. Und dennoch, von einer anderen Seite gesehen: dieses unvergleichliche Schönheitsparadies war daneben ein schmutziges Gewimmel von verkommenem, verlogenem, räuberischen Gesindel, eine Stadt, in der kein Mensch in wahres Wort sprach, in der Verleumdung, Bestechung, Intrige, Denunziation die Hauptbeschäftigung bildeten, in der die Besten - und gerade die am meisten - stündlich befürchten mußten, fälschlich angeklagt und verbannt oder hingerichtet zu werden: ein wahrer Hexenkessel von Neid, Habgier, Niedertracht und Irrsinn, der jeden Moment zu explodieren drohte.

Ein solches harmonisches Ineinander von Leben und Kunst ist noch ein zweitesmal erblickt worden: im Italien der Renaissance, vor allem in Florenz. Für uns sind die künstlerischen Genüsse: Theater, Bildergalerie, Roman, Konzert eine angenehme Draufgabe zum Leben, eine Sache, an der wir uns erholen, zerstreuen, ausruhen, meinetwegen auch erheben, aber schließlich doch nur eine kostbare Annehmlichkeit mehr, ein Stück Komfort wie Sekt oder Portwein. Wir empfinden es als Überfluß, als Luxus, wir könnten uns das Leben auch ohne das denken. Aber in Florenz oder Rom war die Kunst eine Lebensfunktion des Menschen, die für seinen Stoffwechsel ebenso notwendig war wie das Fliegen für den Vogel: sie war ein unerläßlicher Bestandteil seiner Vitalität. Ihre Karnevalsaufzüge, ihre Spiele und Feste waren nicht wie bei uns eine rohe Volksbelustigung oder ein Apéritif für die überfeinerte Gesellschaft, sondern eine Lebensangelegenheit, die für jeden wichtig war, bei der alles aktiv dabei sein wollte, wie heute in Amerika bei einem meeting; die schönen, glänzenden Maskeraden waren kein Ulk, keine Komödie, sondern eine bitterernste Angelegenheit: man war mit Leib und Seele bei der Sache wie bei einer Schlacht. Es war eine Nation von Kunstkritikern, und dazu noch von solchen, die etwas verstanden. Als BANDINELLI, ein ganz tüchtiger Künstler, der sicher heutzutage Hofmaler wäre, in Florenz seinen Herkules aufstellte, gab es fast eine Revolution.

Und trotzdem: dieselben Menschen waren eine Bande von Meuchelmördern, Räubern und Wahnsinnigen. Weil wir dieses friedliche Nebeneinander von Talent und Verworfenheit, von feinstem Geschmack und raffiniertester Niedertracht, diesen Wetteifer vollendetster Geistesbildung mit vollendetster Verruchtheit nicht mehr begreifen können, pflegen wir zu sgen: es kann nicht so gewesen sein, im Innern müssen sich diese Menschen doch schuldig und unglücklich gefühlt haben. Wir müßten aber im Gegenteil sagen: diese Menschen müssen sich unbedingt schuldlos und glücklich gefühlt haben, sonst hätten sie diese Dinge niemals begehen können. Die Naivität der Renaissance ist die Wurzel ihrer Laster. Wir müssen, wenn wir die Schilderungen ihrer Schandtaten lesen, bei allem moralischen Schauder dennoch die Anmut, die Wohlerzogenheit, die Formvollendung, man möchte fast sagen: den Takt bewundern, mit dem die Leute sich damals hintergingen, ausplünderten und umbrachten. Der Mord gehörte damals ganz einfach zur Ökonomie des Daseins, wie heutzutage ja auch noch die Lüge zur Ökonomie des Daseins gehört. Unser Zeitungswesen, unser Parteiwesen, unsere politische Diplomatik, unser Geschäftsverkehr: dies alles ist auf einem umfassenden System des gegenseitigen Sichanlügens, Übervorteilens und Bestechens aufgebaut. Niemand findet etwas dabei. Wenn ein Politiker aus Gründen der Staatsräson oder im Interesse seiner Partei einem anderen Zyankali in die Schokolade schütten wollte, so würde die ganze zivilisierte Welt in Entsetzen geraten; daß aber ein Staatsmann aus ähnlichen Motiven betrügt, Tatsachen fälscht, heuchelt, intrigiert: das finden wir ganz selbstverständlich. Die Menschen befanden sich eben im 16. Jahrhundert noch in einer Verfassung, die den gelegentlichen Mord zu einem Ferment des sozialen Stoffwechsels, man möchte fast sagen: zu einer gesellschaftlichen Umgangsform machte; so wie eben heute noch Lüge, Bestechung, kurz jede Art "Korruption" ein unentbehrliches Ingrediens des öffentlichen und privaten Verkehrs bildet. Dies sind nur Grade.

Es hat aber auch Wendungen in der Geschichte gegeben, in denen der sittliche Trieb des Menschen mit elementarer Kraft hervorbrach, die Zeiten des ersten Christentums zum Beispiel oder des hohen Mittelalters. Aber wie lebten diese Menschen? In häßlichen, verrauchten Hütten oder finsteren, dumpfigen Verließen, in armseligen, unschönen Kleidern, ohne bessere Gerätschaften, ohne saubere Straßen, ohne Licht und Luft, ohne Bücher, ohne feinere Formen, ohne Kunst und Wohlerzogenheit. Ja dies ging so weit, daß Schönheit sogar absichtlich gemieden wurde und für Sünde galt. Und doch war dies nur logisch: denn so lag es einmal, der Verlust der Schönheit war eben der Kaufpreis für ein gutes und sündloses Leben.

Oder nehmen wir das 18. Jahrhundert, die größte Epoche des modernen Geistes. In dieser Zeit wurde einfach alles hervorgebracht, was wir heute besitzen; die Chemie, die Philosophie, die Historie, die Staatswissenschaft, der Roman, die Physik, alles wurde damals neu geschaffen. Wir brauchen bloß an Namen zu denken wie LESSING und VOLTAIRE, NEWTON und LEIBNIZ, WINCKELMANN und GOETHE, HUME und KANT, GALVANI und LAVOISIER, um den ungeheuren geistigen Reichtum dieser Zeit vor Augen zu haben. Es war wohl das klügste Zeitalter der bisherigen Geschichte. Aber wie sah das Leben aus? Platt, gewöhnlich, ohne jeden dramatischen Schwung, von langweiligster Selbstverständlichkeit. Das Dasein floß so dahin, es war gewissermaßen in lauter Dialog aufgelöst. Es fehlte an Handlung, an Glanz. Darum wurde die französische Revolution fast wie ein artistisches Phänomen begrüßt: diese leuchtende Feuergarbe, die über Europa emporstieg und den Himmel rötete. Und darum war NAPOLEON, jener geniale Akteur, der dann sein blendendes Kräftespiel entfaltete, der Sinn und die tiefste Erlösung dieser grau in grau dahindämmernden Zeit, was aber von allen Zeitgenossen eigentlich nur GOETHE vollständig begriffen hat.

Was hier von ganzen Zeitläuften zu sagen ist, das gilt auch vom einzelnen. Nehmen wir nur ein einziges solches Paar von Gegenmenschen, das jedermann vertraut ist, und sei es auch nur aus der fadenscheinigen und gefälschten Überlieferung eines Schulbuches: SOKRATES und ALKIBIADES. Es läßt sich sicherlich kein schöneres Leben denken, als es ALKIBIADES geführt hat, dieser bis an den Rand mit explodierenden Energien angefüllte Held, ein Held wie wir uns heute einen Helden zu denken pflegen: kein Held für Ideen, für Devisen und Programme, sondern ein Kämpfer mit dem Leben, sich aufzehrend im Kampf mit diesem seinem ewigen, seinem einzigen Gegner, und doch nur glücklich in diesem Kampf, ihn immer wieder suchend und von Neuem herausfordernd; ein Mensch, der aus seiner ganzen Biographie als gestaltender Künstler ein endloses, reichbewegtes Drama gemacht hat, und zwar - denn dies war sicher der tiefste Grundwille in ihm - ein Drama um seiner selbst willen, weil er nur dramatisch leben konnte; und dabei fortwährend dem Dienst der Schönheit geweiht, von einer unersättlichen Gier nach Schönem, Schönem überall, nach schönen Frauen, Teppichen, Festen, Rüstungen, Blumen, Jünglingen, Gedichten, nach schönen Auftritten und Abgängen, Aktschlüssen und Effekten, nach schönen Schurkereien und schönen Skandalen (denn der Hermokopidenfrevel war nichts anderes) - und dabei dennoch: ein Leben, das wir zwar gerne betrachten, aber um keinen Preis nachleben möchten, denn es war ein Rausch und Taumel animalischer, finsterer Begierden, Eitelkeiten, Barbarismen, Zügellosigkeiten, kurz aller untermenschlichen Triebe, ein Leben ohne Sinn und Vernunft, ohne Klarheit - und darum auch wieder in einem anderen Sinn unschön.

Aber jener andere wiederum, SOKRATES, der aus allem, was in uns dumpf, düster und dunkel ist, eine leuchtende Formel gemacht hat, dessen ganzes Leben eine klare, folgerichtige Gleichung war bis zum Schluß, bis zum Giftbecher, der nichts ist als die letzte Kolonne dieser Gleichung - welch ein Ausbund an Häßlichkeit war schon äußerlich, mit seinem Hängebauch, seiner Doggennase, seiner Glatze und seinen dürren, schlecht angesetzten Gliedmaßen; und bei aller bewunderungswürdigen Logizität, Tugendhaftigkeit und Lebensklugheit: es fehlte ihm dennoch etwas, was viele seiner Volksgenossen, die an Weisheit und Sitte so tief unter ihm standen, im höchsten Maß besaßen: die geheimnisvolle Kraft, aus dem Leben ein Gedicht zu machen.

Die Gleichung aus diesen beiden Stücken, von denen uns immer nur eines in der Hand bleibt, hat bisher nur einer besessen und zu Leben gestaltet: und das war eben GOETHE; darum war er ein Klassiker, und eigentlich der einzige. Und in diesem Sinne soll es gemeint sein, wenn wir vorhin sagten: wir näher uns GOETHE.

Man mag entgegnen: selbst dies alles zugegeben, so war GOETHE doch eben darum ein Unikum, und wir können nicht hoffen, es ihm gleichzutun. Aber dieser Einwand gilt nicht. Es gab Zeiten, in denen die Menschheit wirklich zum großen Teil als kleinen Christussen bestand. Es waren keine Christusse, aber doch nicht übel gelungene Kopien, Miniaturausgaben. Sie wandelten auf den Feldern, saßen in den Wohnungen und füllten die Straßen und Plätze. So groß ist die Macht eines einzigen Vorbilds. Der Mensch, auch der durchschnittlichste, ist viel begabter, als er ahnt. Es liegen in ihm die Keime zu allen möglichen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, Tugenden und Untugenden. Die großen Männer der Geschichte sind es, die mit einer Kraft, die nur sie besitzen, einmal diese, einmal jene Charaktereigenschaft aus dem stumpfen, aber bildsamen Material der Menschheit herausarbeiten, heraushauen, und nun steht sie da als etwas Allgemeines und Selbstverständliches.

Es handelt sich um die Geburt des neuen Menschen, der nicht mehr intellektuelle und sittliche Überlegenheit mit reduzierter physischer Vitalität erkaufen wird, und nicht mehr Posie mit Blindheit und Geisteskrankheit; der nicht mehr wählen müssen wird zwischen "Sinnenglück" und "Seelenfrieden", oder sagen wir etwas unpathetischer: zwischen Schmutz und Langeweile. Er wird nicht mehr rechnen, er wird nicht mehr rasen: er wird beides zugleich tun.

Auf dem Weg zum neuen Menschen liegen die Gefallenen: die für die Eroberung der Vernunftherrschaft ihre besten Lebenssäfte gaben, Asketen und Anachoreten [Einsiedler - wp] des Daseins, Büßer und Märtyrer des Geistes; und die für den Genuß der Lebensfülle, des Reichtums und Glücks, zu sein, ihre Gesundheit und Selbstherrschaft hergaben, Irre und Selbstmörder. SPINOZA mußte für seine Ruhe bezahlen, und NERO für seine Bewegung; aber der kommende Mensch wird Ruhe haben und Bewegung, Schönheit und Güte, Leben und Wissen, und alles umsonst: er wird für nichts mehr bezahlen, denn er wird Erbe sein.
LITERATUR Egon Friedell, Ecce Poeta, Berlin 1912