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OTTO GIERKE
(1841-1921)
Naturrecht und deutsches Recht
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"Allein die Griechen, welche zuerst das von Natur Gerechte (das physei dikaion) dem auf menschlicher Satzung beruhenden Recht entgegenstellten, schieden dabei noch in keiner Weise das rechtliche und das ethische Gebiet, so daß z. B. den Hellenen nicht einmal sprachlich die Frage verständlich zu machen gewesen wäre, ob es sich in der  Antigone  des Sophokles um einen Konflikt von positivem und natürlichem Recht oder von Recht und Sittlichkeit handle."

"Vereinzelt war, seit es den Begriff des Naturrechts gab, auch der Ruf nach Ersetzung allen historischen Rechts durch das Naturrecht laut geworden. Schon aus den revolutionären Zuckungen des späteren Mittelalters tönt er uns entgegen. Mit elementarer Gewalt brach er in Deutschland in den Stürmen der Reformationszeit hervor. Die aufständischen Bauern und die schwärmerischen Sektierer beriefen sich auf das ewig göttliche und natürliche Recht, dem alle menschliche Satzung zu weichen habe und über Leichen und Trümmern erstrebte man sogar schon die Verwirklichung des aus der Bibel selbst deduzierten  reinen  Naturrechts, das in Freiheit und Gleichheit, Abschaffung der Obrigkeit und Gemeinschaft der Güter gipfelte. Doch die weltliche Revolution unterlag."

"Die ständische, genossenschaftliche und herrschaftliche Gliederung der alten Gesellschaft ging in Trümmer, die Gemeinde wurde ihrer Selbständigkeit beraubt, die Kirche selbst zur Staatsanstalt degradiert. Das letzte Ziel der korrekten Theorie, wie Rousseau sie formulierte und die französische Revolution sie annähernd verwirklichte, war die Auflösung des sozialen Körpers in eine allgewaltige zentralisierte Staatsmaschine und eine atomisierte und nivellisierte Masse freier und gleicher Individuen."

Aber während die naturrechtliche Schule selbst im Rausch des Erfolgs die Wahrheit ihrer Prinzipien durch die Tat bewährt zu haben glaubte, lieferte sie dem tieferen Blick nur den Beweis für die unumstößliche Richtigkeit der  geschichtlichen  Rechtsauffassung. Denn dieses ganze System war eben doch auch nur ein geschichtliches Produkt, das durch geschichtliche Voraussetzungen bedingt und bestimmt wurde und nach geschichtlichen Gesetzen wuchs, reifte und zerfiel, - dem geschichtlichen Stoff seinen Inhalt lieferte und geschichtliche Kräfte seine Form verliehen. Wo man mit Hilfe der reinen Vernunft eine raum- und zeitlose Welt aus dem Nichts zu schaffen wähnte, fügte man in Wahrheit unter dem Bann sehr konkret gefärbter Vorstellungen und Tendenzen gegebene Elemente zu einem vergänglichen Gebilde zusammen, dessen Lebensfähigkeit an Boden und Luft eines begrenzten Abschnittes der Kulturbewegung gebunden war. Man konnte schließlich Rechtssätze aus keiner anderen Quelle als aus dem Rechtsbewußtsein schöpfen und man hatte hierfür begreiflicher Weise kein anderes als das eigene Rechtsbewußtsein mit aller seiner Bedingheit und Befangenheit zur Verfügung. So lassen sich dann auch die Keime der treibenden naturrechtlichen Ideen durchweg im positiven Recht nachweisen, welches die Bildner des Naturrechts umgab. Und da dieses positive Recht in der Hauptsache sich in den Systemen des antik-römischen und des mittelalterlich-germanischen Rechts erschöpfte, so sind es zuletzt diese beiden großen historischen Rechtsgebilde, aus denen die materiellen Bestandteile des angeblichen abstrakten Menschheitsrechtes stammen. Beide aber sind zweifellos in ihrem Kern  nationale  Schöpfungen. Denn das römische Recht hatte allerdings die Gestalt, in der es die Justinianischen Sammlungen der Nachwelt überlieferten, erst durch die Aufnahme mancher ursprünglich fremder Elemente und durch die Zusammenfassung gewisser Resultate des gesamten antiken Kulturprozesses erlangt: allein es war durch und durch ein Ausdruck des römischen Rechtsgeistes geblieben, der mit wunderbarer Kraft jeden neuen Baustein geblieben, der mit wunderbarer Kraft jeden neuen Bausein seinem nationalen Gedankenbau einzufügen verstand. Und das germanische Recht, wie es im Mittelalter zunächst so gut die durch germanisches Blut verjüngten romanischen Völker wie die rein germanischen Stämme beherrschte, hatte nicht nur in einem bereits langen und komplizierten geschichtlichen Prozeß seine ursprünglichen Keime eigentümlich entwickelt, sondern es war ihm auch mit den universellen Ideen der christlichen Religion ein ganz neuer Keim von unendlicher Fruchtbarkeit eingepflanzt worden: allein sein Bildner war und blieb der germanische Rechtsgeist, welcher in Entfaltung seiner innersten Anlagen die ihm kongenialen und von ihm in ihrer ganzen Tiefe ergriffenen Gedanken des Christentums auch in der Rechtswelt zu verkörpern strebte, während im sinkenden Altertum Staat und Recht von der siegreichen Weltreligion kaum an der Oberfläche gewandelt wurden und im Grund den heidnischen Typus bis zuletzt niemals verleugneten. Lassen sich so im anti-römischen Recht, in dem zugleich die wichtigsten Resultate der Rechtsgeschichte des gesamten klassischen Altertums geborgen waren und im mittelalterlich-germanischen Recht, das zugleich die Durchdringung des Rechtslebens mit den Ideen der christlichen Religion bedeutete, die Quellen des naturrechtlichen Gedankensystems nachweisen, so war darum freilich die revolutionäre Bedeutung dieses Systems keine geringere. Denn in der Auswahl dieser und der Verwerfung jener Elemente, in der einseitigen Entfaltung mancher unscheinbaren Keime und der rücksichtslosen Ertötung mancher voll entwickelter Blüten, in der eigentümlichen Verbindung und Zusammenordnung der fern voneinander geborenen Gedanken offenbarte es seinen spezifischen Geist und betätigte es seine weltumbildende Kraft. Allein den ursprünglichen nationalen Charakter seiner Grundbestandteile vermochte es nicht auszutilgen und es diente so zuletzt unbewußt und wider Willen der Verwirklichung des von ihm mißachteten Prinzips  nationaler  Ausgestaltung des Rechts.

Fassen wir insbesondere die Bedeutung des Naturrechts für die Geschichte unseres  deutschen  Rechtslebens ins Auge, so müssen wir freilich mit einem scheinbaren Widerspruch gegen das soeben Gesagte anheben. Denn der Begriff und der Inhalt des Naturrechts sind bei uns als ein Teil des gelehrten Fremdrechts importiert worden, dem seit dem Schluß des Mittelalters unser altes volkstümliches Recht mehr und mehr erlag. Allein zunächst bedarf es heute bei allem Meinungsstreit über Wesen und Gründe der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland doch  dafür  kaum des Beweises, daß dieser merkwürdige Vorgang, so gut wie die parallelen Ereignisse in der Geschichte der Kunst, der Sitten oder des wissenschaftlichen Denkens, ein notwendiges Produkt des Charakters und der Schicksale unserer Nation, daß er ein essentielles Moment jener großen historischen Bewegung war, kraft deren unser Volk durch gesteigerte Aneigung wiederbelebter antiker Kulturelemente sein Mittelalter überwand, sein Wesen ergänzte und seine Reife zeitigte. Sodann aber war gerade der naturrechtliche Bestandteil des rezipierten Rechtssystems einer der wirksamsten Faktoren, welchem dasselbe seine mittelalterlich-germanischen Züge und mit ihnen allein die Möglichkeit der wirklichen Durchführung in einem Volksleben verdankte, das sich doch in seinem Kern zuletzt weder antikisieren noch romanisieren ließ. Und endlich spielte in der Folgezeit das Naturrecht auf deutschem Boden eine wichtige Rolle in dem freilich heute noch nicht abgeschlossenen Prozeß der Nationalisierung des fremden Rechts der Wiederausscheidung seiner für uns unbrauchbaren Stücke und der Wiedererweckung schlummernder einheimischer Rechtsideen.

Die Gestalt, in welcher er zunächst bei uns eindrang und wirksam wurde, hatte der naturrechtliche Gedanke durch die vereinte Arbeit der scholastischen Philosophie und der gelehrten Jurisprudenz des  Mittelalters  empfangen. Wohl stammten seine Elemente aus dem Altertum. Allein die Griechen, welche zuerst das von Natur Gerechte (das physei dikaion) dem auf menschlicher Satzung beruhenden Recht entgegenstellten, schieden dabei noch in keiner Weise das rechtliche und das ethische Gebiet, so daß z. B. den Hellenen nicht einmal sprachlich die Frage verständlich zu machen gewesen wäre, ob es sich in der ANTIGONE des SOPHOKLES um einen Konflikt von positivem und natürlichem Recht oder von Recht und Sittlichkeit handle. Und die Römer blieben in der Philosophie bei unselbständiger Entlehnung der griechischen Anschauungen stehen, während sie in der ihrem eigensten Genius entsprungenen Jurisprudenz den Begriff des jus naturale fast nur äußerlichen Schmuck, der das innere Gefüge ihres nationalen Rechts unangetastet ließ, verwandten und daneben den in Wahrheit innerhalb ihres positiven Rechts beschlossenen Gegensatz des jus civile und des jus gentium mit der philosophischen Unterscheidung des gesetzten und des natürlichen Rechts in eine zweideutige Verbindung brachten. Erst die mittelalterliche Schuldoktrin entwickelte aus den überlieferten Elementen, die inzwischen durch die kirchlichen Lehren umgebildet und ergänzt worden waren, ein förmliches naturrechtliches System, in welchem, so mangelhaft die Grenzziehung zwischen Recht und Moral blieb, doch in energischer Weise das Prinzip zum Durchbruch kam, daß das Naturrecht  wirkliches Recht  sei. Damit war demselben eine bisher unerhörte Machtstellung inmitten der Jurisprudenz und inmitten des praktischen Rechtslebens eingeräumt. Das ganze Recht wurde nun dualistisch konstruiert. Es klaffte auseinander in vergänglichen Menschensatzungen und unwandelbare naturrechtliche Normen. Von diesen beiden Bestandteilen aber erschien der letztere als Quelle und Schranke des ersteren. Man wies dem positiven Recht lediglich die Aufgabe zu, die ewigen Prinzipien des natürlichen Rechts zu entfalten und hierbei den zeitlichen und örtlichen Verhältnissen anzupassen und man gestattete ihm zwar Ergänzungen und Modifikationen der natürlichen Rechtssätze, sprach ihm jedoch in aller Form die Befugnis zu deren völliger Aufhebung ab. Dabei wurde aber die praktische Durchführung dieser Gesichtspunkte durch eine Fülle scholastischer Distinktionen ermöglicht, welche das naturrechtliche Gebiet in verschiedene Provinzen von ungleicher Heiligkeit zerrissen. Da stellte man neben und über das durch die natürliche Vernunft einleuchtende Recht das auf übernatürlichem Wege geoffenbarte göttliche Recht (jus divinum), welches die Menschheit in ihrem Zustnd der Verderbnis aus eigener Kraft zu enthüllen nicht vermocht hätte. Da unterschied man weiter das unmittelbar mit der menschlichen Natur gesetzte eigentliche jus naturale und das erst im Gefolge der menschlichen Kulturentwicklung und ihres Abfalles von der ursprünglichen Reinheit daraus abgeleitete gemeinmenschliche Recht (jus gentium). Da sonderte man in jedem dieser Gebiete wieder primäre und sekundäre, unbedingte und hypothetische, absolute und relative Normen. So vermochte man, indem man die einzelnen Rechtsinstitute und Rechtssätze nach Bedürfnis dieser oder jener Kategorie unterstellte und demnach den Grad ihrer konkreten Gestaltbarkeit und Biegsamkeit bestimmte, den gefährlichsten Grundsätzen die schärfsten Spitzen abzubrechen und die breiten Massen des positiven Rechts zu retten. Erklärte man doch das reine Naturrecht, weil es den Stand der Unschuld voraussetze, seit dem Sündenfall überhaupt für unanwendbar. Und das war sehr ratsam! Denn man war sich ziemlich einig, daß vom "reinen" oder "strikten" Naturrecht allgemeine Freiheit, Gleichheit und Gütergemeinschaft gefordert würden und daß daher in der Existenz von staatlicher Herrschaft und privatem Eigentum ein Bruch desselben liege.

Wenn nun so das positive Recht am naturrechtlichen Ideal gemessen wurde, so mußte dies zunächst dem  römischen  Recht mit Einschluß seiner Ergänzung durch das  kanonische  Recht zugute kommen. Schon weil es allen besonderen Rechtsbildungen gegenüber als das für die ganze Menschheit bestimmte gemeine Recht erschien, das von den kraft göttlicher Anordnung herrschenden beiden Häuptern der Christenheit gesetzt war, schien das römisch-kanonische Recht dem natürlichen und göttlichen Recht ungleich näher zu stehen, als die buntscheckigen Gesetze und Gewohnheiten der einzelnen Völker und Stämme. Aber auch seinem Inhalt nach entsprach es vielfach den naturrechtlichen Postulaten, indem es den dahinter versteckten modernen Bedürfnissen und Strebungen entgegenkam. Dazu berufen, bei den neueren Völkern dem alteinheimischen Recht gegenüber eine ähnliche Funktion zu erfüllen, wie einst das jus gentium gegenüber dem jus civile, stellte es sich wenigstens den maßgebenden Kreisen als das freiere, geistigere und darum rationellere Recht, als das die krausen Bildungen des hergebrachten Rechts ebnende Recht der Zukunft dar. Insoweit wurde es wohl auch, wie das jüngst in geistreicher Weise mit allerdings zu scharfer Pointierung der doch nur zum Teil zutreffenden Parallele ausgeführt worden ist, als das dem alten "strengen" Recht (jus strictum) opponierenden moderne "billige" Recht (jus aequum) empfunden. Jedenfalls bahnte seiner Rezeption in Deutschland wie in anderen Ländern vor allem der Glaube an seine wesentliche Übereinstimmung mit den vernunftrechtlichen Axiomen den Weg, - ein Glaube, der sich in den Zeiten der blinden Verehrung des klassischen Altertums bis zu dem Wahn steigerte, daß man im Corpus juris die ratio scripta, das geschriebene Vernunftrecht selbst besitze, während das bisherige einheimische Recht nichts als die Frucht der Verirrungen eines barbarischen Zeitalters sei.

Allein trotz alledem behauptete der naturrechtliche Gedanke auch  gegen  das von den höchsten irdischen Autoritäten stammende positive Recht seine Souveränität. Und so stand er auf der anderen Seite mit all  den  Mächten im Bunde, welche das vom greisen oströmischen Cäsarenstaat hinterlassene Recht zu neuem Leben befähigten, indem sie es mit einer Fülle unverlierbarer germanischer Ideen und unentbehrlicher mittelalterlicher Anschauungen durchtränkten und befruchteten. Trug man diese Elemente zum Teil unbewußt und unwillkürlich in der Form von Mißverständnissen in die Quellen hinein, so brachte man sie zum anderen Teil innerhalb des Systems naturrechtlicher Sätze zur Geltung, mit welchen man alle Lücken in und hinter dem positiven Recht füllte und an welchen man selbst ausdrückliche positivrechtliche Bestimmungen im Falle des Widerstreits zerschellen oder doch stumpf werden ließ. Dieses Mischrecht aber, wie es in oft greller Disharmonie mit seinen Quellen von der italienischen Doktrin gelehrt und von der italienischen Praxis geübt wurde, nicht das Recht der Quellen, wurde in Deutschland rezipiert. Und rezipiert wurde zugleich seine Theorie über die Ergänzung und Korrektur des positiven Rechts durch das Naturrecht, um bei der ferneren Umbildung des fremden Stoffs auf deutschen Boden ähnliche Dienste zu leisten.

Jahrhunderte lang blieb das dualistische System, in welchem sich Naturrecht und positives Recht gewissermaßen das Gleichgewicht hielten, trotz mancher Schwankungen und Verschiebungen in seinen Grundfesten intakt. Aber in der Stille bereitete sich der Kampf der beiden zuletzt unversöhnbaren Mächte um die  Alleinherrschaft  vor. Ihre alte Verquickung wurde allmählich gelöst. Das positive Recht besann sich auf seinen quellenmäßigen Gehalt und schuf für die unerlässlichen Abweichungen durch den Begriff des usus modernus in seinem eigenen Rahmen Raum. Das Naturrecht emanzipierte sich von den Fesseln des mittelalterlichen Dogmas und der scholastischen Methode und empfing durch eine ununterbrochene Kette rechtsphilosophischer Spekulationen eine immer geschlossenere Gestalt, einen immer abstrakteren Inhalt und eine immer radikalere Tendenz. Ein scharfer und bewußter Gegensatz bildete sich aus. Und während nunmehr innerhalb der positivrechtlichen Sphäre der lebendige Fluß der Entwicklung ins Stocken geriet, zerwühlte der anschwellende Strom des Naturrechts alle Dämme und ergoß seine zugleich verheerenden und befruchtenden Fluten in die bisher ihm verschlossenen Gefilde.

Vereinzelt war, seit es den Begriff des Naturrechts gab, auch der Ruf nach Ersetzung allen historischen Rechts durch das Naturrecht laut geworden. Schon aus den revolutionären Zuckungen des späteren Mittelalters tönt er uns entgegen. Mit elementarer Gewalt brach er in Deutschland in den Stürmen der Reformationszeit hervor. Die aufständischen Bauern und die schwärmerischen Sektierer beriefen sich auf das ewig göttliche und natürliche Recht, dem alle menschliche Satzung zu weichen habe und über Leichen und Trümmern erstrebte man sogar schon die Verwirklichung des aus der Bibel selbst deduzierten "reinen" Naturrechts, das in Freiheit und Gleichheit, Abschaffung der Obrigkeit und Gemeinschaft der Güter gipfelte. Doch die weltliche Revolution unterlag. Und auch die siegreiche kirchliche Umwälzung griff beim Neubau, den sie zuerst ohne Anknüpfung an das bisherige Kirchenrecht aufzuführen geplant hatte, auf das kanonische Recht zurück. Es kam die Zeit, in der auf dem Kontinent alle Kraft populärer Bewegungen erlosch und die Völker die Gedanken den Gelehrten, die Taten den Fürsten überließen. So verstummte denn auch zunächst der Ruf nach dem Vernunftrecht auf Märkten und Gassen. Allein umso nachdrücklicher arbeitete in der Wissenschaft die um sich greifende naturrechtliche Theorie an der fortschreitenden Unterminierung des historischen Rechts. . Nachdem sie im 17. Jahrhundert ihren inneren Ausbau vollendet und die Fundamente der gegnerischen Positionen erschüttert hatte, ging sie im 18. Jahrhundert auf der ganzen Linie zum Angriff über und unterwarf zuletzt fast alle Zweige der Jurisprudenz ihrem Szepter. Am vollständigsten triumphierte sie im öffentlichen Recht, im Staatsrecht, im Kirchenrecht, im Strafrecht, in dem von ihr fast erst geschaffenen Völkerrecht. Aber auch die feste Burg des Privatrechts kapitulierte und empfing nur von der Gnade der Siegerin einen Teil ihrer Selbständigkeit zurück. Und nun trat die siegreiche Theorie von neuem ins Leben hinaus und eröffnete den Kampf um die Eroberung der realen Welt. Sie bemächtigte sich der bedeutendsten Fürsten und ihrer Ratgeber und setzte in der Reformgesetzgebung des sogenannten aufgeklärten Absolutismus eine Reihe ihrer Postulate durch. Aber sie drang auch in die Massen und weckte in immer breiteren Schichten ein ungestümes Verlangen nach voller und rücksichtsloser Verwirklichung ihres rationalistischen Ideals. In populäre Formen gegossen, wirkte sie umso gewaltiger, je mehr sie ihre kahlen Abstraktionen durch jenes Feuer der Leidenschaft belebte, wie es in ROUSSEAUs völkerberauschendem Buch vom Contrat social lodert. Selbst die Dichtung verklärte ihre Formeln und verherrlichte ihren Ansturm gegen das historische Recht. Wild gären in SCHILLERs früheren Dramen, in den Räubern, in Don Carlos, die naturrechtlichen Ideen, bis sie in WILHELM TELL auf ihren lautersten Gehalt zurückgeführt und in den Reden STAUFFACHERs auf dem Rütli mit den Gedanken des echten geschichtlichen Rechts verknüpft und versöhnt werden. Allbekannt sind die Worte, die im Faust das ererbte Recht und das  mit uns  geborene Recht in einer für jenes wenig schmeichelhaften Weise gegenüberstellen, - Worte freilich, die GOETHE in den Mund des Geistes legt, der stets verneint. Und was gedacht und gedichtet war, wandelte sich in die Tat. Mit einem Schlag vollzog die französische Revolution das von der Doktrin gesprochene Todesurteil an allem geschichtlichen Recht, das keinen naturrechtlichen Legitimationsschein vorzuzeigen vermochte und richtete auf den Trümmern einer tausendjährigen Ordnung den angeblich rein vernunftrechtlichen Neubau auf. In Deutschland aber bracht die von Westen eindringende Bewegung zwar nur partiell in gleich radikaler Weise mit der überkommenen Rechtsordnung. Allein überall gab sie der im Geiste des Naturrechts voranschreitenden Reformgesetzgebung einen neuen Impuls und steckte ihr höhere und kühnere Ziele. Hatte hier schon die erste große moderne Kodifikatioin, das preussische Landrecht, zugleich eine Fülle naturrechtlicher Anschauungen zum Ausdruck gebracht, so wurden im gegenwärtigen Jahrhundert sukzessiv die alten naturrechtlichen Postulate auch bei uns fast vollständig verwirklicht.

Gerade in Deutschland freilich erstand die junge Wissenschaft, vor welcher die naturrechtliche Theorie inmitten ihrer Siege haltlos zusammenbrach. Und das neu aufgehende Gestirn der geschichtlichen Rechtsauffassung erleuchtete keineswegs bloß die Pfade der Forschung, sondern wies auch dem Leben neue Bahnen. Denn ihm verdanken wir die besonnenere und schonendere Durchführung der das alte Recht abtragenden Reformen, ihm die Erhaltung mancher wertvoller Institution der Vergangenheit, ihm vor allem auch die verheißungsvollen Anfänge schöpferischer Neugestaltung, welche in echt geschichtlichem Geist an die konkreten Züge unserer nationalen Rechtsentwicklung anknüpft und deren verschüttete, aber nicht erstickte organische Gebilde zu neuer freier Lebensentfaltung verjüngt. Allein die neue Richtung konnte nicht nur die von der abstrakten Schule bewirkten Umbildungen nicht rückgängig machen, sondern sie vermochte auch die fortschreitende Durchführung gewisser naturrechtlicher Prinzipien nicht abzuwehren, ja sie sah sich vielfach genötigt, mit eigener Hand das von der überwundenen Gegnerin begonnene Werk zu vollenden. So erfocht das Naturrecht noch lange nach dem Sturz seiner formellen Macht materielle Siege. Und wie gerade diese Erscheinung  Zeugnis  ablegt für seine geschichtliche Berechtigung, so  erklärt  sie sich aus der vorher betonten geschichtlichen Herkunft seiner Elemente und aus dem dadurch bedingten nationalen Charakter seiner treibenden Ideen.

In der Tat hat bei uns die naturrechtliche Invasion zwar viel bis dahin vom fremden Recht noch verschontes mittelalterliches germanisches Recht, aber zugleich unendlich viel rezipiertes oder doch rezipiert geglaubtes römisches Recht beseitigt. Und was sie als Ersatz brachte, das war gerade in seinem fruchtbaresten Kern von germanischem Fleisch und Blut. Wo unsere Naturrechtslehrer aus der abstrakten Vernunft heraus konstruierten, brachten sie unbewußt die im Volksbewußtsein nicht erstorbenen germanischen Rechtsideen zur Geltung. Vielfach aber kämpften sie sogar mit vollem Bewußtsein an der Seite der aufblühenden germanistischen Rechtswissenschaft für das deutsche und gegen das römische Recht. Nicht selten bemerken sie, daß das einfache Recht unserer Vorfahren, wie es schon TACITUS schilderte, dem natürliche Recht weit näher gestanden hat, als das verkünstelte Recht der entarteten römischen Welt und daß es Zeit sei, das uns von der Klerisei und der Juristenzuft aus selbstsüchtigen Motiven auferlegte Joch abzuschütteln und zu den gesunden Grundlagen des deutschen Rechts zurückzukehren. Mit besonderer Energie spricht sich in diesem Sinne der einflußreiche THOMASIUS in zahlreichen Schriften aus, in deren einer er sogar die Wiederabschaffung des naturrechtswidrigen römischen Testaments zugunsten der ursprünglich deutschen Ausschließlichkeit der gesetzlichen Erfolge fordert. Ähnliche deutschrechtliche Neigungen begegnen uns bei J. H. BOEHMER, bei WOLFF und anderen. Und deutlich läßt es sich wahrnehmen, wie gerade hierdurch die deutsche Naturrechtsdoktrin des 18. Jahrhunderts in wesentlichen Punkten eine von der gleichzeitigen Doktrin der Nachbarländer abweichende Gestalt empfing.

Mag es mir nun zum Schluß verstattet sein, in einigen Grundgedanken des Naturrechts das germanische Element auch inhaltlich aufzuzeigen.

Die Kardinalfrage nach dem  Verhältnis des Rechts zum Staat  konnte die naturrechtliche Doktrin niemals völlig im Sinne der ursprünglichen germanischen Anschauung beantworten, für welche der Staat nur der unselbständige Diener des Rechts war. Denn gerade in der Hilfe des antiken Staatsbegriffs vollzogenen Emanzipation des Staates von den mittelalterlichen Fesseln bestand eine ihrer Großtaten. Aber eine ihrer Großtaten war es auch, daß sie trotzdem die Selbständigkeit des Rechtsgedankens wahrte. Sie erreichte dieses doppelte Ziel freilich nur durch ihre äußerliche Zerlegung des Rechts, indem sie das positive Recht der souveränen Gewalt als frei verfügbares Mittel für die Zwecke des öffentlichen Wohles preisgab, das natürliche Recht umgekehrt vor und über alle staatliche Macht stellte. Allein, wenn wir heute diese Spaltung verwerfen und vielmehr Staat und Recht durchweg in und miteinander denken; wenn wir kein den Gesetzgeber formell bindendes Naturrecht mehr kennen, bei dessen Verletzung ein Gebot für den Richter und die Untertanen unverbindlich wäre, dafür aber das positive Recht als einen Ausdruck des nicht erst vom Staat geschaffenen und auch für ihn verbindlichen Rechtsgedankens nur nach seiner formellen Seite dem souveränen Willen unterwerfen: so dürfen wir nicht vergessen, daß es lediglich der Begriff des Naturrechts war, welcher das germanische Erbe einer der Staatsidee ebenbürtigen Rechtsidee in den Jahrhunderten einer ich allmächtig wähnenden absolutistischen Gesetzgebung gerettet hat.

Die naturrechtliche Doktrin war es ferner, welche, während sie zunächst die altgermanische  Beschränkung der Staatstätigkeit  auf die Handhabung von Frieden und Recht überwinden und die Kulturaufgaben des Staates entdecken half, doch in der Folgezeit der nach antikem Muster versuchten Ausbildung des allsorgenden Erziehungs- und Wohlfahrtsstaates energisch entgegentrat. Wenn sie nunmehr sogar unter dem Einfluß neuer nationalökonomischer Lehren in Deutschland wie in England in die Einseitigkeit der ältesten germanischen Auffassung zurückfiel, so hat sich der moderne Staat freilich seinen Kulturberuf nicht wieder wegdisputieren lassen. Allein die Abwehr des mit germanischer Freiheit und Männlichkeit unverträglichen Polizei- und Bevormundungsstaates danken wir nicht am wenigsten jenen naturrechtlichen Protesten, wie sie bei uns vor allem KANT schroff aber markig formuliert hat.

Den großen Fortschritt der dem germanischen Recht ursprünglich fremden scharfen  Sonderung des öffentliche Rechts vom Privatrecht  förderte die naturrechtliche Theorie nur durch ihre römischen Gedankenelemente. Allein wieder war es ihr Werk, daß die Einheit über dem Gegensatz nicht verloren ging, daß auch das öffentliche Recht volles und ganzes Recht blieb, daß der germanische Kerngedanke des Rechtsstaats, in welchem auch die Beziehungen des ganzen zu seinen Teilen rechtlich geordnet und gerichtlich geschützt sind, nach mancher Verdunkelung heute wieder sich machtvoll ans Licht ringt. Hier liegt ein unvergängliches Verdienst all jener uns so seltsam anmutenden Phantasien, welche einen staatenlosen Naturzustand und einen oder mehrere Verträge über die Begründung einer bürgerlichen Gesellschaft und die Einsetzung einer Herrschaft erdichteten, um sodann das gesamte öffentliche Recht im Sinne eines allseitig bindenden Vertragsverhältnisses zu konstruieren.

Unendlich mannigfach gehen die verschiedenen naturrechtlichen Systeme in der Bestimmung des  Verhältnisses zwischen der Allgemeinheit und dem Individuum  auseinander. Einig aber sind sie im Grundgedanken, daß eine Sphäre staatlicher Hoheit und eine Sphäre individueller Freiheit als zwei durch unverbrüchliche Rechtsschranken gesonderte Gebiete naturrechtlich gegeben seien. Und wenn wieder die Hoheitsrechte des  Staates  hauptsächlich mit den der  antiken  Gedankenwelt entlehnten Mitteln erstritten wurden, so lieferte die vom Christentum befruchtete und vertiefte  germanische  Gedankenwelt die Elemente zu einem System der unveräußerlichen und für den souveränen Gesamtwillen selbst unantastbaren Rechte des  Individuums.  Von allen Lehren des Naturrechts hat die Lehre von den angeborenen Menschenrechten am meisten gezündet. Wie immer aber der Begriff dieser angeblich bei Eingehung der Staatsverträge vorbehaltenen und darum vor und über aller Gesetzgebung bestehenden ursprünglichen Rechte, wie immer deren Abgrenzung gegen die erworbenen Rechte, wie immer das zu ihrem Schutz gewährte passive oder aktive Widerstandsrecht theoretisch beurteilt werden mag: die  Wirkungen  dieser Doktrin wird man aus unserer Rechtsordnung nicht wegdenken können, ohne zugleich wegzudenken, was an ihr christlich und was an ihr germanisch ist. Denn wegdenken müßte man zugleich die absolute Verneinung jeder persönlichen Unfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, den gesamten Apparat der sogenannten Grundrechte und ihrer verfassungsmäßigen Garantien. Dann aber stünde man wieder beim antik-heidnischen Staat, in welchem der Mensch im Bürger aufging und inmitten aller politischen Freiheit für die Individualfreiheit kein Raum war.

Unter allen eigentümlich germanischen Bildungen traf  die zwischen Staat und Individuum vermittelnden Verbände  der tödlichste Pfeil der naturrechtlichen Doktrin. Der souveräne Staat und das souveräne Individuum verbündeten sich gegen die Korporation. Die ständische, genossenschaftliche und herrschaftliche Gliederung der alten Gesellschaft ging in Trümmer, die Gemeinde wurde ihrer Selbständigkeit beraubt, die Kirche selbst zur Staatsanstalt degradiert. Das letzte Ziel der korrekten Theorie, wie ROUSSEAU sie formulierte und die französische Revolution sie annähernd verwirklichte, war die Auflösung des sozialen Körpers in eine allgewaltige zentralisierte Staatsmaschine und eine atomisierte und nivellisierte Masse freier und gleicher Individuen. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß wenn in unserem Jahrhundert der uralte Stamm des germanischen Korporationsgedankens bei uns wieder Zweige und Blüten treibt, eine gerade in Deutschland stark verbreitete Richtung innerhalb der naturrechtlichen Schule vorbereitend dafür gewirkt hat. Es ist die Richtung, welche unter die unveräußerlichen Freiheitsrechte des Individuums das Recht der freien Assoziation aufnahm und Ernst mit dessen Durchführung machte. Denn auf dieser Basis konnte man mit Hilfe ähnlicher Sozialverträge, wie sie den Staat geschaffen haben sollten, den korporativen Aufbau in neuer Gestalt aus den Ruinen erstehen lassen. Hinsichtlich der Kirche trat so dem Territorialismus das Kollegialsystem entgegen und erstritt ihr wieder eigenes Recht und innere Selbständigkeit. Aber auch die Gemeinden und alle anderen Körperschaften empfingen wieder eine prinzipiell veränderte Stellung. Ja manche Naturrechtslehrer, wie ALTHUSIUS und später NETTELBLADT, ließen den Staat selbst erst aus dem von unten nach oben voranschreitenden Zusammenschluß engerer gesellschaftlicher Körper emporwachsen. Klingt doch sogar im System des preußischen Landrechts dieser Gedanke an.

Was beim Umbau des Verfassungsrechts der kontinentalen Staaten die naturrechtliche Auffassung mit ihren Irrfahrten nach der absolut besten Staatsform, mit ihren doktrinären Schablonen und mechanischen Konstruktionen, mit ihrem Taumeln zwischen extremer Fürstensouveränität und extremer Volkssouveränität an organischen Lebenskeimen germanischer Herkunft zerstört hat, wiegt wahrlich nicht leicht. Aber wenn doch zuletzt in Deutschland der germanische Grundgedanke organischer Verbindung von Königtum und Volksfreiheit den Sieg behauptet hat, so kann sich die Naturrechtslehre wenigstens das Verdienst zuschreiben, in einer seit dem Mittelalter ausgebildeten und auch in Deutschland nie erloschenen konstitutionellen Doktrin die Brücke geschlagen zu haben zwischen den im Leben durch die Kluft des Absolutismus getrennten Bildungen des ständischen und des repräsentativen Verfassungsstaates.

Im  Privatrecht  vollendet der naturrechtliche Eingriff nicht nur die vom römischen Recht begonnene Auflösung der überlieferten ständischen Sonderrechte, sondern drängte auch hier wie überall im Sinne der romanischen Gleichheitsidee auf möglichste Nivellierung der in natürlichen oder sozialen Verhältnissen begründeten rechtlichen Unterschiede. Nicht dem Naturrecht ist es zu verdanken, wenn germanische Spezialrechte besonders gearteter Berufs- oder Sachsphären noch heute ein zum Teil kräftiges Leben entfalten und wenn wir uns mehr und mehr wieder erinnern, daß wahre Gleichheit nicht Gleichförmigkeit, sondern Gleichmäßigkeit ist, die das Gleiche gleich, aber auch das Ungleiche ungleich normiert. Das Naturrecht verbündete sich ferner mit dem römischen Recht zur Zerstörung der organischen und sozialen Elemente, welche das germanische Recht in reicher Fülle auch auf privatrechtlichem Gebiet als Bande und Schranke der Individualbefugnisse ausgestaltet hatte. Allein in dieser Hinsicht haben zunächst im vFamilienrecht die naturrechtlichen Theorien, so gründlich sie bei ihrer Konstruktion der Familie aus dem Sozietätsbegriff deren organisches Wesen verkannten, doch gerade hiermit wenigstens ein mechanisches Surrogat der organischen Einheit hergestellt und unter diesem Schild eine Reihe germanischer Institute gegen das römische Recht erfolgreich verteidigt oder restituiert. Und Ähnliches begegnet uns auf dem Gebiet der  Eigentumsordnung.  Denn freilich kämpfte das Naturrecht in erster Linie gegen die alte germanische Gebundenheit des Eigentums; gegen das gesamte feudale System, dem es wenig nützte, daß die Pedanterie deutscher Naturrechtslehrer sogar die Konstruktion eines natürlichen Lehnrechts aus der reinen Vernunft heraus fertig brachte; gegen die Beschränkungen der Veräußerlichkeit und Teilbarkeit des Grundeigentums; gegen die althergebrachten ständischen Gemeinschaftsverhältnisse; gegen die dauernden Lasten der dienenden und die Privilegien der herrschenden Güter. Aber das Naturrecht war es doch auch, welches dem römischen Recht gegenüber durch die Entwicklung der Lehren vom dominium eminens [Enteignungsrecht - wp] des Staates und von den unaustilgbaren Resten der ursprünglichen Gütergeeinschaft die publizistische und die soziale Seite des Eigentums zur Geltung brachte und so unter fremdartiger Hülle den Eigentumsbegriff unserer Väter konservierte, die auch das vollkommenste Recht nicht ohne immanente Schranken und ohne korrelate Pflichten zu denken vermochten. - In einer anderen Richtung traf im  Verkehrsrecht  die naturrechtliche Doktrin, so zerstörend sie sich auch hier gegen die altgermanische Form verhielt, mit manchen im germanischen Recht frühzeitig von innen heraus entwickelten Tendenzen zusammen. So bei der Betonung des materiellen Vertragsinhaltes statt der formellen Vertragskategorie; bei der Behandlung des Versprechens als Verpflichtungsgrund; bei der Zulassung der freien Stellvertretung; bei der Anerkennung der Verträge zugunsten Dritter; bei der Verlegung der Substanz der Obligation in den Leistungsgegenstand und der so ermöglichten Lösbarkeit der Forderungen und Schulden einer Person.

Doch ich unterlasse es, auf weitere Einzelheiten einzugehen. Schon die gegebenen Beispiele werden genügen, um die Bedeutung der germanischen Elemente im Naturrecht anschaulich zu machen. Germanisch aber ist vor allem sein universalistischer und idealistischer Grundcharakter. Mag uns darum der Blick auf seine Geschichte mahnen, die überwunden Irrtümer nicht mit neuen, dem tiefsten Wesen unseres Volkstums widersprechenden Irrtümern zu vertauschen; hoch zu halten das Banner der Rechtsidee im Kampf gegen ihre Zersetzung durch die Idee des Nutzens und der Macht; treu zu wahren im wirren Streit der Parteien und Interessen den Gedanken, daß des Rechtes Grund und Ziel die  Gerechtigkeit  ist. Die Gerechtigkeit, von welcher das Naturrecht durch den Mund des großen KANT einst sagte: "Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben."
LITERATUR Otto Gierke, Naturrecht und deutsches Recht, Frankfurt am Main 1883