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Staat und Wirtschaftsgesellschaft
GEORGES GURVITCH

LORENZ von STEIN, dessen Konzeptionen in gewisser Weise nicht ohne Einfluß auf den Marxismus geblieben sind, schöpfte seine Doktrin aus dem eingehenden Studium der sozialen Bewegung in Frankreich und aus einer Mischung der Theorien von FICHTE, KRAUSE und HEGEL. Da er sowohl die Unreduzierbarkeit der Wirtschaftsgesellschaft und des Staates als auch die Unmöglichkeit ihrer eindeutigen Abhängigkeit erkannte, konzentrierte STEIN unter dem Einfluß HEGELs alle positiven Werte im Staat; der Staat wird zur Inkarnation geistiger Aktivität und der Prinzipien von Gleichheit und Freiheit. Die sich selbst überlassene Wirtschaftsgesellschaft würde immer zur Knechtschaft der Schwächeren und zu Herrschaftsverbänden führen. Das Sozialrecht, das aus dieser Gesellschaft hervorgeht, ist ein Klassenrecht, denn es bestätigt die Macht der Besitzenden über die Besitzlosen (Herren und Sklaven, Junker und Leibeigene, Kapitalisten und Arbeiter); wenn dieses Sozialrecht das öffentliche Recht in seine Abhängigkeit bringt, wenn die Wirtschaftsgesellschaft den Staat beherrscht, wird dieser unegalitär und verrät seine Mission, die darin besteht, die Klassenherrschaft einzuschränken und ihre schädlichen Wirkungen zu bekämpfen; die Auflösung des Staates in eine Wirtschaftsgesellschaft würde zu einem Kastenregime führen, wie man es aus Beispielen der Geschichte kennt. Aber es gelingt dem Staat immer wieder, sich über die Wirtschaftsgesellschaft zu erheben und ihrem unegalitären Sozialrecht ein öffentliches Recht und insbesondere sein Verwaltungsrecht entgegenzustellen und so die sozialen Ungleichheiten wieder auszugleichen. Übrigens geschieht dieser staatliche Eingriff in die Rechtsordnung der Wirtschaftsgesellschaft oft in Form einer Dezentralisierung der öffentlichen Dienste als Verwirklichung eines wirtschaftlichen Self-Government unter der Aufsicht und der Kontrolle des Staates (im autonomen Recht dieser öffentlichen Dienste bildet sich also die Synthese zwischen der Rechtsordnung der Gesellschaft und dem vorhergehenden Recht des Staates). So liegen der Staat und die Wirtschaftsgesellschaft fortwährend im Streit und wirken durch Stoß und Gegenstoß aufeinander ein; bald beherrschen sie sich und bald halten sie einander das Gleichgewicht und durchdringen sich gegenseitig in verschiedenen Abstufungen. - Zweifellos hat STEIN einem tiefen Einblick in die soziale Wirklichkeit des Rechts und den antinomischen Charakter ihrer Dynamik gehabt; er hat sowohl die typologische wie die genetische Rechtssoziologie ein Stück weitergebracht. Leider ist er, als er sich von der Idealisierung der dem Staat widerstehenden Gesellschaft befreit hatte, in die Idealisierung des Staates zurückgefallen, d. h. in eine Art Rechtsetatismus. Seiner Ansicht nach muß man das Recht, das der Idee der Gerechtigkeit entspricht, ausschließlich auf seiten des Staates suchen, und zwar des Staates, welcher sich von der Wirtschaftsgesellschaft gelöst hat, da der Begriff des Rechts selbst nur auf eine individualistische Art und Weise gemäß der Tradition des römischen Rechts begründet sein kann. Andererseits hat STEIN die Tatsache übersehen, daß jede Gesellungsform ihre eigene Rechtsart erzeugt, und daß jede einer Gruppe eigene Rechtsordnung, die einen Mikrokosmos von Rechtsarten repräsentiert, sowohl eine Herrschaftsvereinigung als auch eine Vereinigung von Gleichen werden kann.

LITERATUR, Georges Gurvitch,Grundzüge der Soziologie des Rechts, Darmstadt und Neuwied 1974