A. MartyW. WindelbandL. SteinW. SternH. RickertTh. Nagel | ||||
Wer darf in philosophischen Fragen urteilen?
Die Philosophie ist eine herrliche Wissenschaft, weil sie die Grundlage bietet für alle anderen Wissenschaften, weil keine einzige derselben sie entbehren kann. Gehen auch die einzelnen übrigen Wissenschaften ihre bestimmten Wege, so müssen sie doch oft genug selbst bei ihren praktischen Resultaten zurückgreifen auf die Elemente. Wollen sie aber gar - wie es ihre Eigenschaft als Wissenschaft verlangt - sich klar der Bedeutung ihrer eigenen Forschung bewußt werden, so müssen sie wiederum zurückgreifen auf den Ursprung, auf diejenigen Anschauungen, Begriffe, Urteile, welche immer wieder als einfaches Material vorkommen, selbst in den schwierigsten Errungenschaften. Und wenn die einzelnen Wissenschaften theoretisch erkennen wollen, was sie eigentlich tun, wenn sie ihre unentbehrlichen Hypothesen aufstellen, so berühren sie stets die Philosophie, so müssen sie wohl oder übel anfangen zu philosophieren. Verstehen sie es nicht, sind sie hochmütig oder leichtsinnig gegenüber den philosophischen Grundfragen, so verirren sie sich, wie dies auch heutzutage vorkommt (1) und immer wieder dann und wann vorkommen wird. Die Philosophie ist darum so herrlich, weil sie so allgemein ist, weil sie nicht bloß betrieben wird von bestimmten wenigen Menschen, die sie als ihren Lebensberuf gewählt haben, sondern weil es überhaupt gar keine Menschenseele gibt, die sich nicht mit ihr abgeben müßte und abgeben wollte. Man beweist us, wie tief das Bedürfnis nach Philosophie in jedem menschlichen Wesen wurzelt. Ein Kind, das nie den philosophischen Drang fühlte, wäre geradezu ein stupides, tierisches Kind; der Drang nach Erkenntnis des Geheimnisvollsten ist es vor allem, der das Kind immer wieder aufmerksam macht in der Schule, der es immer wieder hineinzieht zum einzelnen Wissen und es damit versöhnt, wenn dieses Wissen ihm widerstehen sollte, wegen einer schlechten Lehrweise, wegen geringer Fähigkeit dafür, wegen einer Überhäufung mit einzelnem Tatsachenstoff. Das wissen die Lehrer sehr wohl, sie erkennen während des Unterrichts in jedem Fach, wie wesentlich das Philosophie ist für eine Auffrischung, für eine Vertiefung, für Allgemeinheit, für den Zusammenhang des Unterrichts überhaupt, ganz besonders für die Vorbereitung auf eine höhere Bildung durch höhere Schulen (2). Mit dieser Bedeutung hängt es zusammen - und dies ist wieder ein Beweis für die Herrlichkeit der Philosophie -, daß aus dem bloß erkennenden Philosophen ein Lebensphilosoph wird, der sein Handeln, seine Lebensauffassung, seinen Charakter durch seine Philosophie mitbestimmt. Und da in einem gewissen Sinn jeder Mensch ein Philosoph ist und philosophiert, so müssen wir auch vermuten, daß jeder Mensch durch seine philosophischen Gedanken in seinem Tun und in seinem Charakter wenigstens etwas mitbestimmt wird. Und diese Mitbestimmung ist wahrlich nicht die schlechteste, weil der Drang nach Philosophie zum Edelsten des menschlichen Wesens gehört. Nicht mit Unrecht sagt man von einem Menschen, der sich in Leidenschaften, in Leiden und Schmerz zu beherrschen weiß, er ertrage und handle mit philosophischer Ruhe. Und nicht mit Unrecht schreibt man den Gedanken an Großes, den philosophischen Gedanken die Fähigkeit zu, die Seele aus der Enge des Kleinen, des Jämmerlichen herauszureißen. Wenn nun aber die Philosophie etwas dem Menschen so Wesentliches ist, so wird auch die Lust bei jedem Menschen groß sein, über philosophische Fragen zu urteilen. In der Tat finden wir bei näherem Zusehen, daß schon Kinder in den schwierigsten Problemen der Philosophie darauflos urteilen, ferner, daß Greise von Neuem das Bedürfnis fühlen eine Entscheidung zu fällen, zumindest für sich, über Leben und über den Tod, der ihnen so nahe steht. Endlich finden wir bei allen regsamen Geistern, also vor allem bei den Männern der verschiedenen Wissenschaften, oft genug auch öffentlich über alle wichtigen Fragen der Philosophie. Natürlich gehen sie dabei von ihrer Wissenschaft aus, mit der sie sich so lange beschäftigt haben und mit der sie sich noch beschäftigen, ihre Urteile sind gewissermaßen dadurch gefärbt. Aber was kann eine Färbung schaden? könnte man fragen. Sie urteilen meist, wenn sie einmal angefangen haben in die Philosophie hineinzudringen und darüber zu sprechen oder zu schreiben, schließlich gern über alles, wenn es auch von ihrer Wissenschaft weit ab liegt. Wundern müssen wir uns darüber nicht. Es ist dies auch kein Zeichen von niederem Geist, es ist das Zeichen eines besonderen Drangs nach allgemeiner Erkenntnis, von dem Bedürfnis noch mehr zu sein als ein Wissender auf einem beschränkten Gebiet und ein solcher Drang ist gewiß edel. Eine andere Frage ist es, ob solche Urteile den Wert haben, der ihnen gewöhnlich von den Urhebern beigelegt wird. Ist die Philosophie eine so allgemein alles angehende, alles begründende Wissenschaft, so muß sie auch schwer sein. Wenn man eine einzelne Technik lernt, so braucht man dazu bereits eine tüchtige Ausbildung, und viele Menschen widmen ihr ganzes Leben der Ausbildung und dann der Ausübung einer bestimmten Technik, zugleich, wenn sie strebsam sind, der Vervollkommnung in derselben. Man schätzt Menschen, welche mehrere Berufe mit Verständnis ausüben können, als geistig höher. Man hört mehr auf ihr Urteil aus auf das der sehr einseitigen. Man findet, daß Philosophen sich mit sehr vielen Dingen beschäftigen. Ist das bloß ein Privatvergnügen von ihnen, oder liegt es im Wesen der Wissenschaft? Es ist leicht darauf zu antworten. Braucht aber ein Philosoph alle die einzelnen Wissenschaften? Das wäre ja geradezu unmöglich, wenn er dieselben kennen wollte in so hohem Grad wie die vollendetsten Fachgelehrten. Früher bei geringerem Umfang der einzelnen Wissenschaften was noch eher möglich für universale Köpfe. Heute kommt es nicht vor, später wird noch viel weniger daran zu denken sein, angesichts des ungeheuren Fortschritts in den einzelnen Fächern, der ungeheuren Ansammlung von einzelnem Wissen. Es ist heute schon viel, wenn ein Mensch in zwei Wissenschaften wirklich als vollberechtigter Forscher auftreten kann, wenn ein Philosoph zugleich ein Forscher auf dem Gebiet einer Spezialwissenschaft ist. Es gibt deren auch heute, es gehen auch heute noch Philosophen aus von einer Spezialwissenschaft; aber, wie gesagt, es wird bewundert, wenn sie hernach doch noch auf ihrem Spezialgebiet Neues leisten äußer wirklichen Leistungen auf dem Gebiet der Philosphie. Soll also der Philosoph gar nichts zu wissen brauchen auf den Gebieten der anderen Wissenschaften? Das wäre natürlich wieder viel zu weit gegangen. Ein Kind, das sich irgendein Urteil erlauben will und es richtig fällt, muß vorher Erfahrungen über Tatsachen gemacht haben, welche in einem solchen Urteil verwendet werden, mögen es nun sinnliche oder rein innerliche Tatsachen sein. Ein älterer Schüler, der sich einer Wissenschaft widmen will, muß vorher eine allgemeine Bildung erworben haben, wie sie die höheren Schulen zu geben suchen, sonst hält man ihn mit Recht im allgemeinen nicht für geeignet. Und ein Philosoph sollte es nicht nötig haben Kenntnis mancherlei Art zu sammeln? Man wird das von ihm verlangen, und er wird es von sich selbst verlangen. Aber er kann nicht alle Wissenschaften wie ein Spezialforscher in ihrem Inhalt kennen. Kann es darum überhaupt keinen gründlichen Philosophen geben? Wir sagten bereits, daß die Philosophie die Grundlagen aller Wissenschaften behandelt. Diese allerdings muß der Philosoph verstehen. Wie es viele Wissenschaften gibt, so wird es auch viele Grundlagen geben. Doch ist dies nicht ansich klar; es könnte ja sein, daß die vielen Wissenschafen die gleichen Grundlagen benutzen müssen. In der Tat liegt ja das Denken allen Wissenschaften zugrunde, und die allgemeinen Denkgesetze müssen für alle dieselben sein, in keiner darf ein Widerspruch gegen das Denken vorkommen. Die Wahrnehmungsgrundlagen sind zwar in den Gegenständen verschieden, bei den meisten aber wird die sinnliche Wahrnehmung benutzt, freilich bei manchen ist die seelische, die innere Erfahrung wichtiger, und bei allen kann man die letztere nicht entbehren, ohne einseitig zu werden. Ich brauche das nicht weiter auszuführen. Auf jeden Fall muß der Philosoph imstande sein, die Elemente der einzelnen Wissenschaften zu verstehen, sich leicht in sie hineinzufinden, wenn er sie nicht mehr oder nicht im Kopf hat. Darf also jeder Mensch philosophisch urteilen? Das wird man ohne weiteres verneinen. Mag auch das kind einen noch so großen Drang haben, sich selbst Antworten auf die schwierigsten Fragen zu geben, mag das auch der Greis noch so sehr wünschen, beiden können wir ein maßgebendes Urteil überhaupt nicht zugestehen, wenn sie nicht geistig fähig sind, in solcher Art die Grundlagen der Wissenschaft zu begreifen. Wir wissen, was bei jedem Kind dazu gehört, um es allmählich zu einem verständigen Urteil auf irgendeinem Gebiet zu führen, zu einem Urteil, das der Sachverständige unterschreiben kann. Ist dem so auf einem technischen oder wissenschaftlichen Einzelgebiet, wieviel mehr muß dem so sein auf dem Gebiet des Schwersten. Und daß die Philosophie sich mit dem Schwersten beschäftigt, das sagten wir schon und davon muß jeder überzeugt sein. Wann also dürfen wir überhaupt zugeben, daß jemand ein richtiges Urteil auf philosophischem Gebiet hat? Da stehen wir wieder vor einer sehr schweren Frage. Der nicht ganz Eingeweihte könnte sagen: Bekanntlich sind die Urteile, die Lehren der Philosophen im Laufe der Zeit sehr verschieden gewesen, und noch heute sind die Philosophen von Beruf keineswegs einig in ihren Ansichten, dieselben sagen oft genug das Gegenteil voneinander. Können wir also überhaupt zugeben, daß ein Philosoph uns in einem Urteil als Autorität gelten soll, so daß wir sagen können: er hat recht, das ist nun die Wahrheit? Wenn der Philosoph in all den wichtigen Fragen, mit denen er sich beschäftigt, die absolut endgültige Wahrheit sagen könnte, so wäre ja durch irgendeinen solchen Philosophen mit seinen Antworten die Weltweisheit, die tiefste Erkenntnis des Menschen abgeschlossen! Wir sahen schon, daß dem nicht so sein kann, daß dies sogar ein Unglück für ihn und die Menschheit wäre. Wir können also auch vom wahren Philosophen gar nicht verlangen, daß er uns endgültig die reine, absolute Wahrheit auf unsere Fragen und auf seine eigenen Fragen geben kann. Und da scheint sich schon wieder die Charakteristik für den Philosophen zu verwischen, da scheint es, als ob also doch jeder über philosophische Fragen urteilen darf. Er darf gewiß, nur darf er nicht den Anspruch erheben, daß wir seinem Urteil irgendeine Bedeutung beilegen. Mag er mit seinem Urteil glücklich werden und daran glauben! Er soll nur nicht verlangen, daß sich andere danach richten und daran mit Überzeugung glauben. Können dann aber andere an die Urteile der berufenen Philosophen mit Überzeugung glauben? Mit dieser Frage wird die Sache so gedreht, als ob man zu einem Philosophen gehen könnte wie zu einem Physiker, von dem man Auskunft über die Einrichtung einer Maschine oder über den Stand der neuesten Ansichten vom Wesen der Elekrizität haben wollte. Geht man zu einem Arzt mit der absoluten Überzeugung, daß er uns heilen kann oder daß er bestimmt das absolut Beste in diesem Fall verordnet? Nicht einmal von einem Spezialforscher können wir das verlangen. Wir hoffen nur, daß er das Gute besser treffen wird als wir, und mit Recht, weil er mehr davon versteht. Wir hoffen nicht auf absolute Heilung in allen Fällen, daß er uns unsterblich machen, uns unter allen Umständen alle Schmerzen nehmen kann. Wir verlangen auch nicht von einem Physiker, daß seine und seiner meisten Mitforscher augenblickliche Theorie vom Wesen der Kräfte sicher richtig ist. Wir verlangen nur das Wissen, welches ihm der augenblickliche Stand der Wissenschaft und sein eigener Fortschritt darin verleihen kann. Vom Philosophen erwarten wir mit Recht Auskunft über das Historische, auch über den Stand der philosophischen Ansichten von heute. Kann er dies nicht sofort geben, ist er dann kein Philosoph? Nicht einmal das dürfen wir behaupten. Es ist nicht nötig, daß ein großer Philosoph all die verschiedenen Lehren der Philosophen jeden Augenblick inhaltlich im Kopf hat. Ja warum ist er dann aber ein Philosoph, warum dürfen wir ihm eher ein Urteil beimessen als irgendeinem Menschenkind? Warum dürfen wir nicht einfach jedem Fachgelehrten, wenn er in seiner Wissenschaft etwas geleistet hat, auch die Fähigkeit zuerkennen in der Philosophie mitzureden so gut wie irgendein sogenannter Philosoph? Wir sollten umso mehr jeden solchen tüchtigen Gelehrten, jeden sehr gebildeten Mann als Philosophen anerkennen, als ja tatsächlich in der Geschichte der Philosophie manche Philosophen zuerst oder nebenbei auch später eine andere Wissenschaft betrieben haben, oder sich gar ihren Lebensunterhalt durch eine äußerliche Technik, etwa durch Glasschleifen erwarben? Es wird niemandem einfallen, die Möglichkeit abzusprechen, daß sich ein Philosoph entwickeln kann aus einem Mann, der zuerst mit Eifer eine Spezialwissenschaft betrieb oder der sein ganzes Leben lang eine Erwerbstätigkeit viel niedrigerer Art ausübte. Wird es heute auch immer schwerer von einem speziellen Beruf abzukommen oder Zeit genug dabei zu erwerben, um philosophisch tüchtig zu werden, so darf man es nicht verwerfen. Gibt es doch auch viele Menschen, die Zeit genug hätten zu sehr vielem Nachdenken und es nicht tun, selbst wenn es ihnen nicht gerade an Klugheit oder natürlicher Begabung mangelt. Gibt es doch so fähige Naturen, daß sie sich während ihrer sonstigen Tätigkeit oder spät abendes nach derselben eifrig mit philosophischen Fragen beschäftigen, dann, wenn anderes sich bloß erholen. Aber soviel sehen wir schon, es muß sich jemand geistig genügen mit der Philosophie beschäftigt haben. Und kann das jeder dann, wenn es ihm einfällt? Etwa darum, weil die Philosophie sich mit den Grundlagen, nicht mit den speziellen Kenntnissen beschäftigt? Es wäre lächerlich zu antworten, ja, jeder kann das. Jeder kann sich damit beschäftigen, kann drauflos urteilen, wie es ihm paßt, aber er darf darum nicht den Anspruch erheben, daß er wirklich philosophisch urteilen kann. Ich sage nicht, daß er die absolute Wahrheit auf eine philosophische Frage antworten kann! Es ist eine bekannte Tatsache, daß Leute von geringer Bildung, sehr junge, besonders schlecht erzogene, wild aufgewachsene Kinder mit ihrem Urteil am schnellsten bei der Hand sind. Im Zögern, im genauen Überlegen, im vorsichtigen Erwägen anderer Ansichten, darin zeigt sich die größere Fähigkeit. Das ist so in jeder Wissenschaft, das ist auch ganz besonders so in der Wissenschaft, welche in einem gewissen Sinn die andere mit umfaßt, über ihnen stehen soll und steht. An der Vorsicht also im Aussprechen der eigenen Ansichten erkennt man den philosophisch besser gebildeten Geist. Darf darum der Philosoph nie ein Urteil aussprechen? Muß er immer bloß sagen: ich weiß nicht, manche sagen so, manche so und ich sage gar nichts Bestimmtes? Es gibt auch solche Philosophen, und man wird ihnen nicht leicht den Namen Philosophen absprechen. Gleichwohl gehören sie nur zu einer bestimmten Richtung der Philosophie, und es gibt auch andere Richtungen. Jedenfalls erkennen wir aus dem Gesagten, daß ein Mensch, der philosophisch miturteilen will und beansprucht wissenschaftlich irgendwie auf einem solchen Gebiet mitzugelten, auch eine gründliche Vorbildung gehabt haben und gelernt haben muß, nicht drauflos zu urteilen, sondern gründlich, möglichst gründlich zu überlegen. Das kann jeder Mensch leichter, wenn er infolge seiner Vorbildung und seiner bisherigen Tätigkeit schon ganz von selbst immer zu solchen Überlegungen geführt worden ist. Es darum nicht falsch, im Allgemeinen von solchen im Übrigen befähigten Menschen ein philosophisches Urteil zu erwarten, die sich berufsmäßig der Philosophie zugewandt haben. Sie haben dann ganz selbstreden zunächst eine entsprechende Schulvorbildung gehabt, auch eine solche auf Hochschulen. Sie haben sich dann ganz selbstverständlich viel geistig mit solchen Fragen beschäftigt, wenn sie in Ausübung ihres Berufes dahin gedrängt wurden, z. B. Privatdozenten oder als Professoren an Universitäten berufsmäßig Vorlesungen halten, Abhandlungen und Bücher schreiben. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß ein solcher Weg unter allen Umständen die Bedeutsamkeit als Philosoph garantiert, oder gar garantiert, daß dann sicher ein großer Philosoph entsteht. Aber es ist natürlich, daß namentlich in neuerer Zeit bedeutende Philosophen oft auf diesem Weg entstanden sind. Es gibt auch andere Wege und auch früher hat es solche gegeben. Müssen wir überhaupt nach dem Weg fragen, wenn wir jemandem ein echt philosophisches Urteil zusprechen wollen? Für den Nichteingeweihten ist es eine gewisse Art von Garantie oder eine Erleichterung in seinem Urteil, wenn er von einem sicheren Bildungsweg des Betreffenden hört. Aber so wenig ihm dies die Garantie gibt, daß er es sicher mit einem bedeutenden, großen Philosophen zu tun hat, so wenig wird er sagen, es kann ohne einen solchen Weg gar keinen Menschen geben, der philosophisch urteilen darf. Ob das der Fall ist, das erkennt man schließlich an anderen Anzeichen, an der Sache selbst, an der Art und dem Wert des Urteils, das der betreffende fällt. Und zwar nicht bloß an einem einzelnen Urteil. Auch die größten Philosophen haben sich in manchen Urteilen geirrt. Freilich wenn wir zuschauen, so sind diese Urteile nicht dumm, sie werden als irrtümlich erkannt entweder, weil die damalige Zeit ein besseres kaum gestattete, oder weil die ganze Richtung des Philosophen ihn drängte, sich an einer einzelnen Stelle zu täuschen, und aus anderen Gründen. Wir wissen ja auch, daß wir es niemals mit der absoluten Wahrheit zu tun haben. Wenn darum ein Philosoph gar sagt, er fälle das Urteil nur von einem gewissen Standpunkt, von gewissen Grundannahmen aus, so können wir ihm gewiß nicht die Fähigkeit absprechen, ein Philosoph zu sein. Es könnte sein, daß eine spätere Zeit der ganzen Richtung seiner Philosophie abhold ist, wie der Realismus einem übermäßigen Idealismus abhold wird. Ferner aber gibt es gewisse Urteile über Grundlagen, welche überhaupt niemals beweisbar sind. Nicht einmal durch Wahrscheinlichkeit läßt sich auf eine mathematisch sichere Art urteilen, ob man recht hat; die Möglichkeit eines anderen Urteils liegt bei gewissen, metaphysischen Grundsätzen immer vor (3). Aber es zeigt sich darin die Bedeutung des Philosophen, daß er keine ewige Wahrheit geben will. Manche sind in ihren Ausführungen, ihrem Temperament enstprechend, oft sehr energisch, auch wohl anderen Ansichten gegenüber absprechend. Das allein ist kein Grund für eine Verweigerung der facultas [Fähigkeit - wp], philosophisch mitzureden. Die Philosophen setzen außerdem meist als selbstverständlich voraus, daß sie sich innerhalb einer gewissen Richtung bewegen und nach langem Ringen zu einer gewissen Richtung bewegen und nach langem Ringen zu einer gewissen Grundlage gekommen sind, die sie zwar nicht wie ein Allwissender begründen und beweisen können, an der sie nun aber für ihre weitere Arbeit festhalten. Und dann ist es natürlich, wenn sie all ihr weiteres Urteilen in einem Gebiet bewegen, das sich aufbaut über den so hergestellten speziellen Grundansichten. Urteilen sie nun entschieden, nicht selbstskeptisch, nicht mehr nach Belieben eine Auswahl gebend, so setzen sie doch immer voraus, daß sie einen Standpunkt vertreten. So etwas also raubt dem Philosophen nicht seine Fähigkeit zu urteilen und mitreden zu dürfen, vorausgesetzt, daß er seine philosophische Fähigkeit weiter beweist und daß er seinen Standpunkt nicht etwa ganz oberflächlich anderswoher entnommen hat, etwa gar von einer Spezialwissenschaft, die selbst erst noch in ihrer Begründung echt philosophischen Nachdenkens bedurft hätte. Es kann also vorkommen, daß jemand in einer Wissenschaft kenntnisreich, tüchtig, selbstleistend und fördernd ist, und doch, hinüberspringend auf das Gebiet der Philosophie, zu schlecht urteilt, um den Namen eines Philosophen beanspruchen zu dürfen. Wann also sind wir vollauf berechtigt, jemandem das Recht abzusprechen, philosophisch zu urteilen und sein Urteil als wissenschaftlich berechtigt hinzustellen? Jedenfalls dann, wenn er bei seinem Urteilen zeigt, wie es ihm fehlt an der allgemeinen philosophischen Kenntnis, an der allgemeinen philosophischen Überlegung seiner eigenen Grundlagen. Er muß wissen, worauf er sich bei seinem Urteil stützen kann, und zwar muß das, worauf er sich stützt, philosophisch sein, nicht etwa mir nichts dir nichts z. B. aus sinnlichen Grundlagen entnommen sein, die noch selbst erst der philosophischen Betrachtung bedürfen. Erst muß er uns beweisen und zeigen, daß er in einem philosophischen Sinn auch diese Grundlagen geprüft hat. Er darf als philosophische Beweisgründe in einer Wissenschaft nicht etwa Anfangsgründe dieser Wissenschaft selbst anführen, die gerade ja erst philosophisch von ihm selbst zu beurteilen wären und zwar unter genügender Berücksichtigung dessen, was die Philosophie auf dem Gebiet dieser Grundlagen an Nachdenken und Prüfen bereits geleistet hat. Noch viel schlimmer, unberechtigter ist es, wenn er sofort dann von seiner Wissenschaft und von seinen scheinbaren philosophischen Behauptungen in derselben hinüberspringt zu den allgemeinsten Urteilen über alle Fragen der Philosophie überhaupt. Der schlimmste Grad aber ist wohl der, wenn jemand bei der philosophischen Überlegung der Grundlagen, bei seinem eigenen, wie er meint, philosophisch berechtigten Urteil die Philosophie nicht selbständig mitsprechen lassen will, z. B. behauptet, es kann nur der mitsprechen, der die Spezialwissenschaft ganz genau in ihren komplizierten Untersuchungen versteht; wenn man also die Wissenschaft der Grundlagen zusammenmengt mit dem, was sich auf diese Grundlagen durchaus erst stützen muß! Sind dann gar diese komplizierten Lehren, die er da als Beweis für seine Ansichten von den Grundlagen vorbringt, innerhalb seiner eigenen Fachwissenschaft noch umstritten, dann steht es äußerst übel mit seiner Selbsteinschätzung auf philosophischem Gebiet.
1) vgl. mein Buch "Moderne Verirrungen auf philosophisch-mathematischen Gebieten; kritische und selbstgebende Untersuchungen, Ebikon bei Luzern, 1909 (direkt vom Verlag). 2) vgl. KURT GEISSLER, Die Bedeutung der Philosophie für den Zusammenhang des höheren Unterrichts, Neue Jahrbücher für klassische Altertumslehre usw. und für Pädagogik, Bd. 22, 1908, Heft 2, 3, 4. 3) vgl. KURT GEISSLER, Eine mögliche Wesenserklärung für Zeit, Raum, das Unendliche und die Kausalität, nebst einem Grundwort der Metaphysik der Möglichkeiten. |