ra-2Wirtschaftsgeschichte innerhalb der Nationalökonomie    
 
HEINRICH HERKNER
(1863 - 1932)
Die Geschichte der Nationalökonomie

"Es gibt immer Leute, welche als Originalgenies in unendlichem Hochmut das geistige Erbe der Vorfahren verachten, welche, ganz ab ovo beginnen und mit ihren, wie sie meinen, funkelnagelneuen Systemen die leidende Menschheit von heute auf morgen beglücken zu können glauben. Dabei handelt es sich aber tatsächlich um sehr alte Ideen, deren Unzulänglichkeit durch die Geschichte der Nationalökonomie längst in überzeugender Weise dargetan worden ist. Die Geschichte der Nationalökonomie ist ja nicht allein die Geschichte der nationalökonomischen Wahrheiten, sondern oft noch mehr eine Geschichte der nationalökonomischen Irrtümer. Vielleicht hat dieser Teil sogar einen höheren Bildungswert. Die ernsthafte kritische Auseinandersetzung mit einem geistvollen Irrtum ist oft viel nützlicher und anregender als die Bekanntschaft mit einer platten Wahrheit. Nach diesem Rezept ist eine große Zahl gerade der hervorragendsten Volkswirte vorgegangen. Jeder Kenner von Smith, Sismondi, List, Marx weiß, wie gründlich sie auch die von ihnen für falsch angesehenen Leistungen ihrer Vorgänger studiert haben."


I.

Wie FEILBOGEN (1) bereits 1890 in dem glänzenden Essay "Smith und Hume" dargelegt hat, kann die Geschichte der Nationalökonmie drei Gestalten annehmen. Sie kann eine Geschichte der nationalökonomischen  Denker  sein. Sie schildert deren Studien- und Lebensgang und wird so zu einem "wahren Zyklus von Faustdramen des Menschen als Forscher". Daneben tritt die Geschichte der nationalökonomischen Gedanken und Theorie. Sie macht dem Forscher "das Erfinden längst erfundener Dinge, das Scheitern an längst entdeckten Irrtümern, das unhistorisch naive Drauflosdenken ohne kritische Stellungnahme zu den bisherigen Meinungen unmöglich". Endlich beschreibt die Geschichte des nationalökonomischen Denkens "die Veränderungen im Verständnis der Volkswirtschaft überhaupt nach ihren Ursachen". Sie ist das "große Epos von den Veränderungen der wirtschaftlichen Anschauungen, ihrer Ideale in der Volksseele, ihrer Schlagworte in der öffentlichen Meinung".

Da zwischen den volkswirtschaftlichen Ideen und Theorien auf der einen, den Tatsachen der volkswirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auf der anderen Seite aber Beziehungen inniger Wechselwirkung bestehen, haben die Historiker der Nationalökonomie des öfteren auch das ganze wirtschaftliche Milieu und die praktischen Folgen wirtschaftlicher Lehrmeinungen so ausführlich dargelegt, daß ihre Werke, obwohl sie als Geschichten der Volkswirtschaftslehre auftreten, fast ebenso gut als Geschichten der Volkswirtschaft angesehen werden können. Diesen Charakter besitzen AUGUSTE BLANQUIs Histoire de l'économie politique nicht weniger als DAMASCHKEs Geschichte der Nationalökonomie, die mir ihren sechs oder mehr Auflagen ja an äußerem Erfolg alle anderen Geschichten der Nationalökonomie weit übertrifft.

Solange wir, trotz der Füllle monographischer Untersuchungen, noch keine wissenschaftlich befriedigende Geschichte der Volkswirtschaft besitzen, auf die ohne weiteres Bezug genommen werden könnte, wird es in der Tat schwer fallen, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Exkurse in der Darstellung der volkswirtschaftlichen Lehren ganz zu vermeiden.

Schon diese Überlegungen deuten auf die eigentümlichen Schwierigkeiten hin, mit welchen man zu kämpfen hat, wenn das eigentliche Arbeitsgebiet für die Geschichte der Nationalökonomie sicher abgesteckt werden soll. Dazu gesellen sich noch einige andere Fragen. Sollen wir uns allen mit den Denkern befassen, die als  Gelehrte  die Literatur bereichert haben? Verdienen nicht auch Männer volle Beachtung, die, ohne tiefere fachwissenschaftliche Studien, aus den eigenen staatsmännischen oder geschäftlichen Erlebnissen heraus, fruchtbare Ideen in genialer Intuition entwickelt und dem Zeitbewußtsein so nachdrücklich eingeprägt haben, daß nicht nur wichtige praktische, sondern schließlich auch bedeutsame theoretische Anregungen von ihnen ausgegangen sind? Dürfen COLBERT, FRIEDRICH WILHELM I., BISMARCK oder LLOYD GEORGE, dürfen die großen Prophetennaturen, an denen die Geschichte des Sozialismus und der sozialreformerischen Bestrebungen so reich ist, ganz fehlen?

Ebenso wichtig sind die mittelbaren Impulse, für die das nationalökonomische Denken Philosophen, Geschichtsschreibern und Biologen verpflichtet ist. ROSCHER hat sich als Schüler von THUKYDIDES und NIEBUHR gefühlt. RANKEs Einfluß auf SCHMOLLER, COMTEs auf BRENTANO wird nicht leicht überschätzt werden können. Im Banne HEGELscher Ideen standen nicht nur MARX, ENGELS und LASALLE, sondern auch LORENZ von STEIN und SCHÄFFLE. Auf letzteren wie auf zahlreiche Volkswirte Englands und Amerikas haben auch DARWIN und SPENCER eingewirkt.


II.

Die deutschen Volkswirte bekommen oft den Vorwurf zu hören, daß sie die Geschichte der Nationalökonomie ungebührlich vernachlässigen. Mit Vorliebe werden ihnen die Leistungen der Franzosen vorgehalten zum Beweis dafür, daß auf diesem Gebiet das Ausland die Führung innehat. Vielleicht läßt man sich hier durch einige Produkte der jüngsten Zeit, etwa durch die Gegenüberstellung des GIDE-RISTschen Buches (2) mit der unglücklichen Arbeit von FRIDRICHOWICZ (3) zu stark beeinflussen. Trotz aller Bewunderung, die ich den französischen Geschichtsschreibern der Nationalökonomie zolle, scheint mir doch keines ihrer Bücher an ROSCHERs monumentale Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland heranzureichen. Bis jetzt ist meines Erachtens noch niemand allen Aufgaben, die eine Geschichte der Nationalökonomie überhaupt zu lösen hat, in so idealer Art gerecht geworden wie WILHELM ROSCHER. Hier finden wir großzügige Schilderungen der zeit-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Hintergründe, der staatlichen Umwelt, der allgemeinen geisteswissenschaftlichen Zusammenhänge. Künstlerisch vollendet Porträts der großen Theoretiker und Praktiker zieren das Werk nicht weniger als die lichtvollen, unparteiischen und kritischen Wiedergaben ihrer Lehrmeinungen und Systeme. Der überreiche Stoff wird mit feinem Takt ausgewählt und meist in weiser Beschränkung vorgeführt.

Aber ROSCHER bietet doch nur einen Teil des Ganzen, nur die deutsche Nationalökonomik von 1500 - 1870! In der Tat. Aber auch DUBOIS (4), GIDE-RIST (5) und DENIS (6) haben uns mit keiner Universalhistorie der Nationalökonomie beschenkt. Will man den Akzent schon einmal auf universelle Verarbeitungen des Stoffes legen, so brauchen KAUTZ, DÜHRING und EISENHART den Vergleich mit COSSA (7), INGRAM und RAMBAUD (8) gewiß nicht zu scheuen. Nur des Amerikaners HANEY (9) jüngst erschienenes Werk stellt einen Fortschritt über das bisher Geleistete dar.

Im übrigen soll nicht bestritten werden, daß die wertvollsten Arbeiten der deutschen Wissenschaft aus neuerer und neuester Zeit dogmen- und problemgeschichtlicher oder monographischer Art sind. Hier verfügen wir über Untersuchungen, denen das Ausland nicht viel Ebenbürtiges an die Seite stellen kann. Ich erinnere vor allem an BRENTANOs kleine, aber methodologisch ausgezeichnete Entwicklung der Wertlehren, an BÖHM-BAWERKs glänzende Geschichte der Kapitalzinstheorien, ZUCKERKANDLs Geschichte der Preislehren, endlich an die prachtvolle Festgabe für SCHMOLLER: Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im XIX. Jahrhundert. Fast scheint es, als ob in diesem dogmengeschichtlichen Sammelwerk mehr Schätze dargeboten wären, als die hastige Gegenwart aufzunehmen imstande ist.

Geradezu unübersehbar ist die Reihe ausgezeichneter Studien, die einzelnen führenden Geistern gewidmet worden sind. Diesen zum Teil hervorragenden Leistungen gegenüber verschlägt es wenig, daß auch viele minder wertvolle Arbeiten in unsere monographische Literatur gekommen sind. Nicht selten haben Anfänger mit Studien über einzelne Nationalökonomen sich die gelehrten Sporen, vor allem aber die Doktorwürde zu erwerben gesucht. Namentlich in Bern sind unter dem Einfluß ONCKENs Dissertationen dieser Art entstanden. Es kann vernünftigerweise nicht erwartet werden, daß Anfänger, zum Teil solche mit bescheidenem Talent und mäßiger Stärke gelehrten Interesses, schon imstande sind, bedeutsame Leistungen richtig zu kennzeichnen. Dazu gehört eine geistige Reife, eine Vertrautheit nicht nur mit dem gegenwärtigen Stand der ganzen Wissenschaft, sondern auch ihrem geschichtlichen Werdegang, die erst nach langjähriger Betätigung erworben werden können. Ob die von DIEHL herausgegebenen Beiträge zur Geschichte der Nationalökonomie (Jena 1913/1914) die vielversprechende Höhe der bis jetzt vorliegenden Arbeiten auf die Dauer werden behaupten können, bleibt abzuwarten.


III.

Mit diesen Hinweisen soll nicht bestritten werden, daß noch umfängliche und gründliche Forschungen auszuführen sind, ehe eine Synthese großen Stils versucht werden darf. Trotz ROSCHER und neuerdings RAFFAEL bedarf die ältere englische Nationalökonomie, trotz LASPEYREs die holländische, trotz WIRMINGHAUS die spanische Nationalökonomie noch eingehender Untersuchungen, ganz zu schweigen von der älteren italienischen Literatur, die einer merkwürdigen Vernachlässigung anheimgefallen ist.

Mit vollem Recht hat LUJO BRENTANO die Ursachen der unzulänglichen Kenntnis dessen, was in früheren Jahrhunderten und im Ausland geleistet worden ist, in der schweren Zugänglichkeit vieler wichtiger Schriften der Vergangenheit und in der fremden Sprache mancher bedeutungsvoller Arbeiten der Gegenwart erblickt. Wir danken seinen und seines Mitherausgebers LESER Bemühungen eine Reihe höchst lehrreicher Werke, die vorher nur in allerengstem Kreis bekannt gewesen sein dürften. Leider scheint das wissenschaftlich so wohl begründete Unternehmen der äußeren Erfolge entbehrt zu haben, ohne die eine kraftvolle Fortsetzung des hoffnungsreich Begonnenen nicht auszuführen war. Glücklicherweise ist in Amerika derselbe Mangel empfunden worden und so sind uns die überaus seltenen Ausgaben von BARBON, NORTH, CANTILLON und anderen durch Neudrucke amerikanischer Universitäten wieder zugänglich gemacht worden.

Gerade auf dem Gebiet der Editionstätigkeit empfindet man es besonders schmerzlich, daß die Wirksamkeit unserer großen Akademie, abgesehen vielleicht von der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, den Bedürfnissen der Nationalökonomie so wenig entgegenkommt. Die praktisch-politischen Interessen, die andere Teile der Nationalökonomie oft direkt oder indirekt fördern, kommen den gelehrten Forschungen zur Geschichte der Nationalökonomie naturgemäß nicht zustatten. Auch gibt es bei uns für sie weder besondere Professuren, wie in Frankreich, noch findet eine ausreichende Berücksichtigung im Prüfungswesen statt. Es lägen also alle Voraussetzungen vor, unter denen sonst gelehrte Körperschaften ihre Unterstützung gewähren. Ob es im Lauf der Zeit möglich werden wird, den Verein für Sozialpolitik, ohne Beeinträchtigung der ihm näher liegenden Aufgaben, auch für diese Zwecke heranzuziehen, erscheint jedenfalls sehr zweifelhaft.


IV.

Vermutlich würde auch bei einem günstigeren Stand der notwendigen Vorarbeiten und Einzelforschungen eine universelle Zusammenfassung, wie sie die Geschichte der Philosophie etwa in den Werken KUNO FISCHERs und WINDELBANDs besitzt, bei uns nicht sehr bald zu erwarten sein. Solange die Unterrichtsverwaltungen es für richtig halten, jeden Professor der Nationalökonomie zur Vertretung des ganzen Fachs in Vorlesungen und Übungen zu verpflichten, wird das Schwergewicht der überlieferten und von den Juristen stärker besuchten drei Hauptvorlesungen immer eine intensivere Beschäftigung mit der Geschichte der Nationalökonomie verhindern und zwar umso mehr, als dasjenige, was an Zeit und Kraft neben dieser Lehrtätigkeit noch verfügbar bleibt, in der Regel durch staatswissenschaftliche Fortbildungskurs und die ins Ungeheuerliche anwachsende Belastung, zu der sich der Seminarbetrieb an vielen Universitäten entwickelt hat, vollkommen aufgezehrt wird. Die literarische Produktivität unserer besten Männer wird heute durch den Unterricht und die Fakultätsgeschäfte (Promotionen, Habilitationen) in einer Weise gelähmt, die wohl noch vor zwanzig Jahren niemand für möglich gehalten hätte. Und hier sind die Professoren selbst nicht von aller Schuld freizusprechen. Sie haben dem Examenwesen hie und da eine Richtung gegeben, in der die eigene gelehrte Spezialarbeit der Kandidaten gegenüber der harmonischen Durchbildung in alen Teilen des Faches meines Erachtens in einer nicht immer zweckentsprechenden Weise überwiegt.

Tatsächlich verfolgt doch nur ein recht kleiner Teil der Studierenden höhere gelehrte Interessen. Die große Mehrheit will und muß im praktischen Leben wirken. Ich verkenne durchaus nicht den hohen erzieherischen Wert, den die eigene wissenschaftliche Arbeit auch für diese Gruppen besitzt. Sie darf aber nicht weiter getrieben werden, als mit der gründlichen Vorbereitung für die berufliche Wirksamkit des praktischen Volkswirts vereinbar ist. Es erscheint mir fraglich, ob diese Beschränkung heute überall in ausreichendem Maß beachtet wird. Vielleicht hat der Brauch, die besseren Dissertationen einer Schule in besonderen Sammlungen herauszugeben, in dieser Richtung nicht immer nützlich gewirkt. Sobald einmal eine Sammlung besteht, haben die Herausgeber das begreifliche Interesse, möglichst viele gute Arbeiten erscheinen zu lassen. Sie stellen dann nicht nur höhere Anforderungen an die Dissertationen, als der bloße Prüfungszweck notwendig machen würde, sondern sind auch sehr geneigt, die Kandidaten in erheblichem Umfang zu unterstützen. Gerade diese weitgehende Förderung ist es aber, welche die Lehrer so stark in Anspruch nimmt, daß ihre eigenen Studien daduch leicht beeinträchtigt werden. Und doch würde die Zeit, welche auf die Hebung und Frisierung so mancher Schülerarbeit verwendet worden ist, in vielen Fällen reichlichere und wertvollere Früchte getragen haben, sofern sie der eigenen Produktion des Lehrers zustatten gekommen wäre.


V.

Aber liegt denn wirklich so viel daran, die Geschichte der Nationalökonomie als viertes Hauptfach im System unserer Literatur und unseres Lehrbetriebes auszubauen? Die Erwägungen, die meines Erachtens zu einer entschiedenen Bejahung dieser Frage führen müssen, sind die folgenden:

Es ist unmöglich, in der ohnehin schon überlasteten Vorlesung über "Allgemeine Nationalökonomie" auch das Werden unseres Wissens zur Darstellung zu bringen. Sie wird in der Regel mehr die bis jetzt gewonnenen Ergebnisse einer großen geisteswissenschaftlichen Entwicklung als diese selbst vorführen und dadurch ein dogmatisches Gepräge erhalten. Der philosophische Kopf will aber auch erfahren, wie dieses ganze Lehrgebäude entstanden ist, woher seine Grundrisse, seine Formensprache, seine Bausteine stammen. Wie an den gewaltigen Kathedralen des Mittelalters haben viele Baumeister, viele Generationen nach oft recht verschiedenen Entwürfen und Geschmacksrichtungen am System unserer Wissenschaft gebaut. Ohne Kenntnis der Baugeschichte ist ein tieferes, freieres Verständnis nicht zu erwerben.

Vielleicht ist indessen ein anderes Gleichnis noch besser geeignet, den Punkt, auf den es ankomt, hervortreten zu lassen. Wir sprechen in der Natur von einer Überproduktion der Keime. Ein großer Teil von ihnen geht im Kampf ums Dasein zugrunde. Nur die tauglichsten, nur die, welche den gegebenen Bedingungen am besten angepaßt sind, behaupten sich und gelangen zur Fortpflanzung. Auch auf wissenschaftlichem Gebiet gibt es eine Überproduktion von Einfällen, Gedanken, Theorien. Das gegenwärtige System der Nationalökonomie enthält, was sich im Kampf der Geister siegreich behaupten konnte. Die Geschichte der Theorie aber zeigt uns, unter welchen Umständen, in welchen Köpfen die einzelnen Lehren entstanden sind, welchen Ideen im Kampf das Schicksal der Sieger oder Besiegten zuteil wurde und warum ihnen dieses Schicksal zugefallen ist. Durch diese Einsicht in die Ausleseprozesse und Daseinskämpfe, die sich unter verschiedenen Lehrmeinungen abgespielt haben, wird eine unschätzbare Vertiefung des perspektivischen Hintergrundes unserer Wissenschaft gewonnen, eine auf anderem Wege kaum zu erzielende Freiheit und Unabhängigkeit des Urteils gegenüber den gelehrten Moden des Tages und den gerade herrschenden Schlagworten der großen Interessengruppen.

FRITZ MÜLLER und ERNST HAECKEL haben das sogenannte biogenetische Grundgesetz aufgestellt: die Entwicklung des Individuums, die Keimesgeschichte, ist die gedrängte Wiederholung der Stammesgeschichte, der Entwicklung der Arten und Gruppen. Dieses Prinzip findet auch in der geistigen Entwicklung eines gewisse Analogie. Die Entwicklung des individuellen Wissens stellt innerhalb bestimmter Grenzen die abgekürzte Entwicklung des wissenschaftlichen Ringens der ganzen Menschheit um die Erkenntnis dar. Unser ursprüngliches, wissenschaftlich ungenügend geschultes Denken zeigt noch heute eine Art Verwandtschaft mit den Auffassungen, die wir auf früheren Entwicklungsstufen der Wissenschaft antreffen. Welcher angehende Nationalökonom hat sich nicht einmal von privatwirtschaftlich merkantilistischen Vorstellungen über das Geldwesen, vom Glauben an die ausschließliche Produktivität des Landbaus, von der Begeisterung für die Staatsallmacht, von der Möglichkeit, die soziale Frage durch Progressivsteuern oder die Wegsteuerung der Grundrent zu lösen und dgl. narren lassen. Beim Eindringen in die Geschichte der Nationalökonomie ergibt sich, daß all diese Ideen schon geprüft und zu leicht befunden worden sind. Wir kürzen den Kampf mit diesen Irrtümern wesentlich ab, wenn wir den zahlreichen Warnungstafeln vor Holzwegen, welche die Geschichte unserer Wissenschaft enthält, die gebührende Beachtung schenken. Das ist umso wichtiger, als manche dieser Irrtümer gleich gewissen gefährlichen Bakterien eine geradezu unverwüstliche Lebenskraft besitzen. Es gibt immer Leute, welche als "Originalgenies" in unendlichem Hochmut das geistige Erbe der Vorfahren verachten, welche, ganz ab ovo [vom Ei weg - wp] beginnen und mit ihren, wie sie meinen, funkelnagelneuen Systemen die leidende Menschheit von heute auf morgen beglücken zu können glauben. Dabei handelt es sich aber tatsächlich um sehr alte Ideen, deren Unzulänglichkeit durch die Geschichte der Nationalökonomie längst in überzeugender Weise dargetan worden ist. Die Geschichte der Nationalökonomie ist ja nicht allein die Geschichte der nationalökonomischen Wahrheiten, sondern oft noch mehr eine Geschichte der nationalökonomischen Irrtümer. Vielleicht hat dieser Teil sogar einen höheren Bildungswert. Die ernsthafte kritische Auseinandersetzung mit einem geistvollen Irrtum ist oft viel nützlicher und anregender als die Bekanntschaft mit einer platten Wahrheit. Nach diesem Rezept ist eine große Zahl gerade der hervorragendsten Volkswirte vorgegangen. Jeder Kenner von SMITH, SISMONDI, LIST, MARX weiß, wie gründlich sie auch die von ihnen für falsch angesehenen Leistungen ihrer Vorgänger studiert haben.


VI.

Gegen die vorgetragene Auffassung erhebt sich ein gewichtiger Einwand. Die Volkswirtschaft, heißt es, unterliegt in hohem Maße dem Wandel der Zeiten. Im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaften, besonders den mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen, hat es der Nationalökonom mit Objekten zu tun, die gewissermaßen schon unter den Händen des Forschers ihr ganzes Wesen verändern können. Es vermag uns also die Geschichte der Nationalökonomie gerade über die modernsten und aktuellsten Probleme, die unser Inneres am tiefsten erregen, herzlich wenig zu sagen, da diese Probleme den Meistern der Vergangenheit noch gar nicht bekannt gewesen sind.

In der Tat, die wirtschaftliche und soziale Verfassung, in der PLATO, THOMAS von AQUINO, ja selbst QUESNAY, SMITH, LIST und MARX lebten, unterschied sich von der reichsdeutschen Volkswirtschaft des Jahres 1914 in wichtigen Beziehungen. Können wir deshalb wirklich nichts Erhebliches von Denkern der Vergangenheit lernen?

Im Mittelpunkt der Nationalökonomie steht der Mensch. Ohne Zweifel unterliegt das psychische Wesen des Menschen geschichtlichen Veränderungen. Was sich am Menschen aber in der Geschichte ändert, ist gegenüber dem, was unverändert bleibt, doch relativ geringfügig. Gewiß sind die Menschen, die in den Dramen des SOPHOKLES oder SHAKESPEARE auftreten, nicht wesensgleich den Menschen, die 1914 Berlin bewohnen. Und doch ist so viel Gemeinsamens bewahrt worden, daß auch heute noch König ÖDIPUS, selbst im Zirkus BUSCH, und HAMLET diese Berliner im tiefsten Innern mächtig zu bewegen imstande sind. Und ebenso erblicken wir trotz aller Distanzen der Nationalität, der Jahrhunderte und Jahrtausende in den Menschen, die von der bildenden Kunst der Griechen oder des Quattrocento [Frührenaissance in Italien - wp] geschaffen wurden, Menschen, die uns in allen wesentlichen Dingen verwandt sind. Deshalb betrifft die große Mannigfaltigkeit der Bilder, welche die Wirtschaftsgeschichte zeigt, mehr die äußere Erscheinung als den Kern der Dinge. So treten uns z. B. in den modernsten ökonomischen Gebilden, den Kartellen, vielfach nur Ideen und Absichten entgegen, welche bereits in den alten Zünften zur Geltung gekommen sind. Hier wie dort handelt es sich um die Anpassung an den Marktbedarf, um die "Konkurrenzregulierung" im Interesse des für angemessen geltenden Geschäftsnutzens, hier wie dort um eine gewisse Solidarität aller Produzenten einer Ware gegenüber der übrigen Gesellschaft.

Gerade je tiefer wir auf in die Probleme unseres Zeitalters eindringen, desto eher stoßen wir auf die Züge, die ihnen mit früheren Perioden gemeinsam sind. Es sind immer wieder die alten Rätselfragen der Klassenbildung, Klassengliederung und Klassenkämpfe, der demokratischen und aristokratischen Tendenzen, die Beziehungen von Sitte und Recht, von Freiheit und Zwang, von Individuum und Gesellschaft, die Gegensätze von Arm und Reich, von Arbeit und Besitz, von Stadt und Land, von Grundbesitz und Kapitalbesitz, von Binnenwirtschaft und Auslandsverkehr. Sie haben von jeher die Grundfragen alles sozialwissenschaftlichen Denkens gebildet. Oft ist die Übereinstimmung gerade in den sozialen Fragestellungen so groß, daß man in der Kulturmenschheit einen Sisyphus erblicken möchte, der immer und immer wieder schweißtriefend in mühseliger Arbeit denselben Stein aufwärts schleppt und dem diese Last immer wieder hinabrollt.

Ganz so schlimme steht es zum Glück nicht. Gewiß gibt es viele Probleme, die unter veränderten Bedingungen wieder von neuem in Angriff genommen werden müssen. Aber gerade das Studium der Geschichte der Nationalökonomie zeigt auch - und darin liegt nicht ihr geringster Vorzug -, daß wir allmählich in wichtigen Beziehungen vorwärtskommen.

Jedenfalls sehen wir, daß die nationalökonomische Denkarbeit auf den Gang der Ereignisse einwirken kann, daß die "dünne Stimme der Theorie" nicht ganz so kraftlos im Getümmel harter Interessenkämpfe verhallt, wie manche Pessimisten annehmen. Hat man doch behauptet, der Nationalökonom nehme auf den Gang der sozialökonomischen Ereignisse nicht mehr Einfluß als der Grammatiker auf die Entwicklung der Sprache. Wäre diese Meinung richtig, so könnte man die leidenschaftliche Bekämpfung schwer verstehen, die der unabhängigen nationalökonomischen Wissenschaft und ihren Vertretern allezeit von sehr mächtigen Interessengruppen widerfahren ist. Die meisten großen Volkswirte haben die Ehre gehabt, viele Feinde zu besitzen.

So bietet das Studium der Geschichte der Nationalökonomie vielleicht auch einen gewissen Trost in jenen trüben Stunden faustischer Verzweiflung, die keinem ernsten Denker erspart bleiben.


VII.

Die Geschichte der Nationalökonomie ist auch Geschichte der nationalökonomischen Denker, eine Gallerie nationalökonomischer Charakterköpfe. Im Gegensatz zum unpersönlichen Gepräge der systematischen Nationalökonomie, welches warmblütige, künstlerisch empfindende Menschen, wie RUSKIN oder TOLSTOI, mit so großem Abscheu erfüllt hat, bietet sich hier die willkommene Gelegenheit, die engen Beziehungen, die zwischen der menschlichen Eigenart eines Forschers, seinem Schicksal, seiner Lebensanschauung und seiner Lehre bestehen, darzulegen. Es tritt dann deutlich zutage, wie sehr ein bekanntes Wort FICHTEs auch für die Nationalökonomie zutrifft, nämlich der Ausspruch, was für eine Philosophie man wähle, hänge davon ab, was für ein Mensch man sei. Ein philosophisches System sei nicht in toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebe, sondern es sei belebt durch die Seele des Menschen, der es habe.

Diese Wahrheit kann gerade in der Gegenwart gar nicht stark genug unterstrichen werden, in der die eine Gruppe der "Neuesten" jedes Werturteil aus der wissenschaftlichen Nationalökonomie verbannen möchte, während die andere sich nur noch mit Funktionen wirtschaftlicher Quantitäen, mit Wertrelationen von Gütern befassen will. Im Gegensatz zu diesen Bestrebungen lehrt die Geschichte der Nationalökonomie so gut wie die der übrigen Geisteswissenschaften, "was immer der Einzelne bietet, trägt den Stempel seiner Individualität, und das umso mehr, je größer die Leistung ist. Alles sachliche Originalität ist zugleich die persönlichste." (10) Einer der philosophisch gebildetsten Vertreter der Naturwissenschaften, MAX PLANCK, hat sogar versichert, daß es selbst in der exaktesten aller Naturwissenschaften unmöglich sei, ganz ohne Weltanschauung, das will sagen, ganz ohne unbeweisbare Hypothesen vorwärtszukommen. "Auch für die Physik gilt der Satz, daß man nicht selig wird ohne den Glauben ... ein zuversichtlicher Glaube ist es, der dem vorwärtsdrängenden Schaffenstrieb die Richtung weist, er allein gewährt der herumtastenden Phantasie die nötigen Anhaltspunkte, nur er vermag es, den durch Mißerfolge ermüdeten Geist immer wieder aufzurichten und zu erneutem Vorstoß anzuspornen." (11) Wer aber einmal beim tieferen Studium der großen Nationalökonomen das volle Verständnis für diese beseligende und beschwingende Kraft des Glaubens gewonnen hat, wird sich hüten, in der vollkommenen Entäußerung der Persönlichkeit die vornehmste Bedingung des wissenschaftlichen Fortschrittes zu erblicken.

Die scharfen Gegensätze, die unter den führenden Männern der Nationalökonomie bestehen und auf denen schließlich aller Fortschritt beruth, wurzeln oft weit mehr in den Verschiedenheiten der Weltanschauung und persönlichen Denkart als in der verschiedenen Beurteilung volkswirtschaftlicher Kausalzusammenhänge. Schon deshalb darf die Persönlichkeit in der Nationalökonomie nicht ausgeschaltet werden. Ich wüßte aber keinen Platz, an dem sie besser gewürdigt werden könnte, als eben die Geschichte der Nationalökonomie. Nur hier kann dem Jünger unserer Wissenschaft leicht eine innigere, auch die Gemütsbedürfnisse befriedigende Beziehung zu den bahnbrechenden Geistern vermittelt werden. Die Nationalökonomie erscheint dann nicht mehr allein als eine Sammlung abstrakter Thesen oder dickleibiger Folianten, sondern als eine Art vertrauter seelischer Freundschaft mit einer großen Zahl an Geist und Herz reicher Männer.
LITERATUR Heinrich Herkner, Die Geschichte der Nationalökonomie, Festschrift für Lujo Brentano, München und Leipzig 1916
    Anmerkungen
    1) SIGMUND FEILBOGEN, Smith und Hume, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1890, Seite 695f
    2) CHARLES GIDE / CHARLES RIST, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, Jena 1913
    3) FRIDRICHOWICZ, Grundriß einer Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 1912
    4) DUBOIS, Précis de l'histoire des doctrines économiques, 1903
    5) H. DENIS, Histoire des systémes économiques et socialistes, Paris 1904/1907
    6) COSSA, Introduzione allo studio dell' economia politica, 1892
    7) RAMBAUD, Histoire des doctrines économiques, 2 Bde., Paris 1902
    8) HANEY, History of economic thougt, New York, 1912
    9) LUJO BRENTANO, Die Entwicklung der Wertlehre, München 1908, Sitzungsberichte der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-philologische und historische Klasse, 1908, 3. Abhandlung)
    10) BENNO ERDMANN, Über den modernen Monismus, Berlin 1914, Seite 8
    11) MAX PLANCK, Neue Bahnen der physikalischen Erkenntnis, Berlin 1913, Seite 42