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OTTO HILFERDING
Zur Analyse menschlicher Denkarten

"Schon Sokrates hat den Zusammenhang zwischen Logik und Ethik geahnt, der von Kant entdeckt wurde, indem er im Begriff der Wahrheit das Zusammentreffen dieser beiden geistigen Phänomene sah und die Wahrheit selbst als Wert auf das (intelligible) Ich zurückführte."

Nicht nur in Literaturgeschichten, auch in Äußerungen ernster Forscher kehrt die Behauptung angeborener Originalität wieder als charakteristische Denkart eines über das gewöhnliche Maß ragenden Intellekts, die jedoch von Genialität wesentlich noch zu unterscheiden wäre, und man glaubt damit ein psychologisch logisches Verhältnis oder Maß entdeckt zu haben, wodurch die Qualität des höherstehenden vor dem gewöhnlichen Menschen gewertet werden kann. Diese Behauptung könnte nur dann auf Richtigkeit Anspruch machen, wenn eine strenge Analyse einer Zurückführung menschlicher Denkarten auf ihre Elemente vorangehen würde, sonst gerät man in eine Mythologie angeborener Ideen, wie sie der Phantasie einer noch kindlichen Wissenschaft eigentümlich war und von einer reiferen Einsicht eliminiert wurde.

Ein kurzer Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung vom Wesen des Genies wird dies deutlicher machen und zugleich dem, worauf es hier ankommt, uns näherbringen.

Wenn man sich aus erkenntnistheoretischen Gründen zu der Annahme gedrängt fühlen würde, daß logische und ethische Normen, welche die Funktionen des Denkens und Handelns regeln, ursprünglich, vor aller Erfahrung unserer psychischen Konstitution angeboren sind, so wären damit wohl manche geistige Vorgänge, die zu dieser Annahme nötigen, zunächst erklärt, die Sache aber noch lange nicht erledigt, vielmehr ergäbe sich erst die methodische Pflicht, für diese ursprünglichen Elemente Berührungspunkte aufzufinden, die wiederum auf eine gemeinsame Quelle, auf eine konstante Energie hinweisen würden, welche in ihrer Verwandlungsfähigkeit die Formen der Logik und Ethik anzunehmen geeignet ist. So hat schon SOKRATES den Zusammenhang zwischen Logik und Ethik geahnt, der von KANT entdeckt wurde, indem er im Begriff der Wahrheit das Zusammentreffen dieser beiden geistigen Phänomene sah und die Wahrheit selbst als Wert auf das (intelligible) Ich zurückführte. Demnach ist das Genie einer Steigerung der Individualität, d. h. des Ichbewußtseins, welches auch in geringerem Grad das Wesen jedes Menschen ausmacht. Insofern könnte man sich nach der theoretischen Seine hin beruhigen. Allein schon um die praktische Verwertung und Verbreitung dieser Lehre zu fördern, ist es notwendig, eine dieser ideellen Bearbeitung parallel und äquivalent laufende empirische Bearbeitung dieses Problems folgen zu lassen, so daß die begriffliche Konzentration und anschauliche Verständlichkeit einander vervollständigen und stärken, und letztere auch unabhängig von ersterer vor sich gehen kann.

Dieser Art physiologischer Bearbeitung in Bezug auf menschliche Denkarten sollen folgende Bemerkungen vorbereitend dienen.


Angeborene Originalität

Wenn man von den Schwierigkeiten, die an einer Synthese a priori haften und die sich auch der Annahme einer angeborenen Originalität entgegenstellen, absieht, würde nicht einzusehen sein, weshalb für die Denkart des Durchschnittsmenschen nicht mit gleichem Recht das Adelsprädikat des Angeborenseins (1) in Anspruch genommen werden dürfte wie für den originalen Denker, nur daß der eine mehr, der andere mit wenigerem von der Natur bedacht worden ist. Die Werkstatt beider Denkarten ist nämlich das Unterbewußtsein, wo Energien sich in Bewußtsein umsetzen. Es bleibt daher, wenn man von der wissenschaftlichen und kulturellen Tragweite absieht, nur die infolge größeren Energieaufwandes bedingte Seltenheit, welche die eine Denkart vor der anderen voraus hat. Daher der verblüffende Eindruck des Exotischen und Wunderhaften einer originalen Idee. Auch der Anblick eines Kristalls mutet fremdartig und wunderhaft an. Noch mehr das Entstehen eines chemischen Produktes.

Vom Standpunkt der Prinzipien der Energetik betrachtet ist es nur eine von selbst einleuchtende Folgerung, daß die Formen, die bei mechanischen, chemischen und kristallinischen Umwandlungen charakteristisch sind, es auch bei Umwandlungen der Energien im Unterbewußtsein verbleiben, so daß in physischen und psychischen Sphären ein Parallelismus stattfindet, nach welchem das Ineinandergreifen der Moleküle in der physischen und die Anordnung der Elemente des Unterbewußtseins, in deren Schatten sich die Keime der Vorstellungen bilden, in der psychischen Sphäre nach ein und derselben Norm erfolgen. Wie zu den Teilen einer Maschine der intellektuelle Mechaniker hinzutreten muß, damit sie ineinander greifen und sich das Ganze an der Leistung eines jeden Teils beteiligt, um zweckmäßige Arbeit zu erzielen, ganz so, aber in umgekehrter Richtung muß auch zu den psychischen Vorstellungen eine fördernde Kraft von außen, also vom Unterbewußtsein organisierend hinzutreten, um zweckmäßige Resultate auszulösen. Diese organisierende Kraft ist aber eben dieselbe, welche den kristallinischen, chemischen und mechanischen Gebilden ihre charakteristische Form gibt. Im Hirn oder in der Psyche ordnet sich, und zwar im Unterbewußtsein das den Vorstellungen oder Gedanken entsprechende Substrat in charakteristisch ähnlicher Form wie die blinden Moleküle (Energien) in der Kohäsion physischer Erscheinungen. Teils reihen sich seine Elemente mosaikartig additionell nebeneinander im Unterbewußtsein wie in einem mechanischen Vorgang oder Mischung, was dann in Bewußtsein umgewandelt als Kausalität empfunden wird, teils durchdringen sie sich gegenseitig nach Art der Faktoren in einem Produkt oder wie bei einem chemischen Vorgang, wodurch dann im Bewußtsein jenes Gedankengebilde erzeugt wird, das wir als Neuschöpfung, Originalität schätzen, teils aber hängen sie aneinander durch eine Art selbstsicherer Zusammengehörigkeit, nach Art mathematischer Funktionen, ähnlich den Kristallformationen. Jeder dieser psychischen Aggregatzustände - sit venia verbo - [wenn ich so sagen darf - wp] findet im Unterbewußtsein statt, um dann, in Bewußtsein umgewandelt, die betreffende Denkart auszulösen. Das Vorwiegen der zweiten Denkart macht den wissenschaftlichen Forscher, der die konzipierte Idee, an deren Licht sich Gegensätze zur Einheit ergänzen, Probleme verschwinden oder gelöst werden, in ein konkretes Experiment einfängt und sie dadurch der Menge zugänglich und der Kultur dienstbar macht. Das Vorwiegen der letzten Denkart macht den Künstler, dem die Dinge nicht in ihrer inkommensurablen [unvergleichbaren - wp] Verworrenheit, wie sie die Wirklichkeit bietet, auch nicht wie dem Forscher, der der zuerst nur abstrakt erfaßten, vorläufig zur Herrschaft, nicht zum Regieren geeigneten Idee ein Unterkunft im Experiment sucht und glücklich findet, sondern in jener einfachen Beleuchtung erscheinen, in welcher die Idee samt ihrem Geltungsgebiet wie prädestiniert in funktioneller Zusammengehörigkeit einander zugetan sind.

Gewiß werden die Denkarten, deren Nachbildung hier versucht wurde, in Wirklichkeit nicht isoliert und voneinander streng abgetrennt vorkommen wie die hier gezeichneten Typen zu verlangen scheinen, vielmehr werden zahlreiche Übergänge stattfinden, wie sie überall die Wirklichkeit füllen, entsprechend den Übergängen und Umwandlungen der elementaren psychischen Gebilde im Unterbewußtsein, welche ihrerseits in den auf der Grenze der mechanisch-chemischen stofflichen Verbindungen ihr Urbild haben, Verbindungen, über die längst ein Grenzstreit geführt wurde, ob sie zu den mechanischen oder chemischen zu zählen sind. Ja, man dürfte, wenn man auf dem Weg innerer Erfahrung den mannigfaltigen Umformungen nachgeht, welche die erste Konzeption einer Idee bis zu deren Reife durchmacht, nicht fehlgehen, zu behaupten, daß jede kompliziertere Gedankenarbeit in ihrer Gliederung all die Metamorphosen in einem gedrängten Zustand durchläuft, welche alle Denkarten charakterisiert. Diese Übergänge, namentlich diejenigen, welche die Denkart in die zweite vermitteln, werden wohl die physiologische erste Grundlage zu den mehr oder weniger intelligent veranlagten Individuen des Durchschnitts abgeben.

Es steht nun der Lehre von der Abstufungen der Stärke des Bewußtseins von einem intelligiblen Ich als Wertmaß der Menschen die Ansicht von der Verschiedenheit der Aggregatzustände der elementaren psychischen Gebilde im Unterbewußtsein scheinbar fremdartig gegenüber. Das Befremdende schwindet jedoch, wenn man bedenkt, daß auch das Genie bei seinem Denken, Fühlen und Wollen der Genialität sich nicht bewußt ist. So heterogen also diese Ansichten über das Maß intellektueller Werte auseinander zu gehen scheinen, im Unbewußten wurzeln sie beide in gleicher Weise. Denn selbstverständlich ist das transzendente Wesen im Menschen dem sinnlich veranlagten Menschen zu schauen nicht möglich. Das Bewußtsein vom intelligiblen Ich äußert sich in nichts anderem als in einer intensiven Sehnsucht nach einer wahren Heimat der Geister (die Liebe und das ethische Problem) und in seltenen ausgezeichneten Momenten auch darin, daß das Genie sich selbst in einer Position außerhalb der Dinge erblickt, wo es sich auf einem einsamen Standpunkt allein fühlt und wo es der Welt gegenübersteht, sie betrachtend in ihrer inneren Gesetzlichkeit und ideellen Wesenheit, und von wo aus ihm das Erblicken des Leitsterns im Sittengesetz ermöglicht wird.

Aus dieser Übereinstimmung erhellt, daß die Gegensätzlichkeit beider Ansichten keine grundsätzliche ist, vielmehr als korrespondierende Methoden des menschlichen Intellekts zu betrachten sind.
LITERATUR - Otto Hilferding, Zur Analyse menschlicher Denkarten, Archiv für systematische Philosophie, [Neue Folge der "Philosophischen Monatshefte"] Bd. 20, Berlin 1914
    Anmerkungen
    1) Übrigens von zweifelhaftem Wert und Berechtigung, da Angeborenes und Erworbenes in der gleichen Schmiede der Notwendigkeit gehämmert werden.