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ERNST MARCUS
Erkenntnistheoretischer Idealismus
oder transzendenter Realismus?

[Eine Entgegnung]

"Das, was wir mittels des Denkens erkennen, liegt nicht innerhalb des Bewußtseins, sondern ist ein Gegenstand des Bewußtseins. Ein Bewußtsein hat kein Innerhalb und Außerhalb."

"Der Begriff der Erscheinung setzt analytisch den Begriff eines unerkennbaren Dings-ansich voraus, ohne ein solches ist er widersprüchlich."

Die von GUSTAV SCHNEIDER in Band 23, Heft 2/3, Seite 233 der Kant-Studien unter obigem Titel gegebenen Ausführungen, die auf dem von EDUARD von HARTMANN begründeten philosophischen System beruhen, geben mir Veranlassung zu einer Äußerung, die dem Schutz der kritischen Position dienen soll.

Die hier vorgetragene Lehre stützt sich auf den Gegensatz: "Innerhalb und außerhalb des Bewußtseins" und gründet darauf, den Gegensatz des "Immanenten und Transzendenten" (1).

Auf diesen Begriff (2) bauen sich die sämtlichen Ausführungen des Verfassers auf; sie müssen daher fallen, wenn man die Unzulässigkeit dieser Grundlage nachweist.

Ich behaupte nun, KANTs Lehre hat mit diesem Begriff gar nichts zu tun. Bei KANT bedeutet "Immanenz" keineswegs den "Inhalt des Bewußtseins" und ebensowenig die Transzendenz das "Jenseits des Bewußtseins". Dieser Gegensatz steht im Widerspruch mit der "allgemeinen Menschenvernunft" (Ausdruck der 2. Vorrede zur Kritik).

Das, was wir mittels des Denkens erkennen, liegt nicht "innerhalb" des Bewußtseins, sondern ist ein "Gegenstand" des Bewußtseins. Ein Bewußtsein hat kein "Innerhalb" und "Außerhalb". Ja, diese Raumbegriffe verstoßen, angewandt auf das Bewußtsein gegen den Satz vom Widerspruch. Nicht einmal den bloßen Begriff eines "Außerhalb" des Bewußtseins könnten wir haben, wenn wir nur von dem wüßten, was innerhalb des Bewußtseins ist.

Ein Gegenstand des Denkens, d. h. nach KANT des Bewußtseins liegt nicht innerhalb des Denkens (3) oder Bewußtseins.

Ich stelle die Sache in concreto an einem Beispiel klar: Wenn ich einen Körper erkenne, so liegt der Körper nicht innerhalb des "Bewußtseins", sondern innerhalb der Form meiner Sinnlichkeit, und er wird, obwohl er nicht innerhalb des Denkens, d. h. des Bewußtseins liegt, dennoch ein Gegenstand des Bewußtseins, sobald er gedacht (d. h. von ihm ein Begriff gebildet ist (4)).

KANT betont ganz deutlich und stark, daß die reinen Begriffe, vor allem das logische Moment der Vernunft (das Moment des Unbedingten) geradezu auf Gegenstände überhaupt folglich auch auf solche Gegenstände gehen, die unabhängig vom Subjekt des Denkens existieren mögen, daß aber unsere Erkenntnis - nicht zu verwechseln mit unserem Denken oder was dasselbe ist: mit unserem Bewußtsein (Apperzeption) - eingeschränkt ist auf die durch die Modifikation unserer Sinnlichkeit gegebene Materie. Und daß dies wirklich der Fall ist, daß unser Denken und damit das Bewußtsein über die Sinnlichkeit und das Dasein des Subjekts des Denkens hinausgeht, ist ein offenbares Faktum der Vernunft. Ohne das würden wir nicht einmal den Begriff eines Dinges-ansich haben und nicht auf die Möglichkeit verfallen sein, daß Körper Dinge-ansich sind, d. h. ohnedies wäre der "transzendentale Schein" unmöglich gewesen.

Auch der so vielfältig geäußerte Einwand, daß wenn wir ein Ding-ansich als existent und als Bedingung oder Ursache der Erscheinung denken, diese Verwendung der Kategorien (Existenz und Ursache) unzulässig sein soll, ist unhaltbar. Denn die Kategorien sind hier erweitert durch das Moment des "Unbedingten". (Das Schema der Zeit und des Raums ist ausgestoßen.) Daher finden hier nicht die gewöhnlichen Kategorien des Verstandes, sondern sie als idealisierte Kategorien der Vernunft Anwendung.

Auch ist das keineswegs ein "Gebrauch" der Kategorien (der allein für unzulässig erklärt wird). Denn unter einem "Gebrauch" versteht die Kritik einen Gebrauch zur Erkenntnis eines Gegenstandes (wie er auch in den Ideen der Dialektik stattfindet) nicht aber die Anwendung dieser Kategorien, sofern dadurch lediglich ein nicht "bestimmbares" d. h. unerkennbares Dasein gedacht wird. Der Begriff der Erscheinung setzt analytisch den Begriff eines unerkennbaren Dings-ansich voraus, ohne ein solches ist er widersprüchlich.

KANT selbst bemerkt ja gelegentlich, um solchen Einwendungen zu begegnen, daß er "zween Arten" der Kausalität zur Verfügung hat (nämlich die nur immanent brauchbare des Verstandesgrundsatzes und die idealisierte Kausalität des Vernunftprinzips).

Ich habe diese und andere Irrungen in meinen Schriften mehrfach erörtert (z. B. in meiner "Logik", Herford 1911, Seite 220f). Ich bedaure, daß sie dem Verfasser nicht zu Gesicht gekommen sind. Vielleicht hätte er sonst Anlaß genommen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

KANTs Idealismus und Realismus hat demnach mit dem Gegensatz von "Innerhalb" und "Außerhalb" des Bewußtseins von HARTMANN nichts zu tun.
LITERATUR - Ernst Marcus, Erkenntnistheoretischer Idealismus oder transzendentale Realismus? [Eine Entgegnung], Kant-Studien, Bd. 24, Berlin 1920
    Anmerkungen
    1) Seite 239: "Und doch bleibt der Satz, daß wir unmittelbar nichts kennen, als die Inhalte unseres eigenen Bewußtseins, eine nicht zu erschütternde Wahrheit".
    2) Wir haben hier also ein dogmatisches Verfahren vor uns, das auf einen "bloßen Begriff", statt auf die Dynamik des "Erkenntnisvermögens" ein Lehrgebäude begründet.
    3) Daß alles Erkennbare im Denken liegt, nimmt auch Cohen an.
    4) Erst mit der Begriffsbildung (der "Rekognition im Begriff") tritt ein "Bewußtsein" vom Gegenstand auf.