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HUGO MÜNSTERBERG
Die Willenshandlung
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"Während das auf Berührungsreize beschränkte Tier nur die Beute verschlingt, die an seine Körperoberfläche getrieben wird, kann das mit Sinnesapparaten ausgestattet Tier sich der Beute nähern, die in seiner Umgebung Licht- oder Duft- oder Schallreiz veranlaßt, wie es umgekehrt dem Widerstand ausweichen kann, ehe die schädigende Berührung eintritt."

Je mehr aber der Prozeß von Erschütterung zu Bewegung in den Nervenfasern isoliert ist, desto mehr entzieht sich seine physische Seite unserer Kenntnis. Während beim Protisten die ganze Masse gereizt und die ganze Masse bewegt werden konnte, bleibt uns in den höheren Formen nur der erste Anfang der Reizung, die Erregung der Sinnesorgane und das letzte Ende der Bewegung, die Kontraktion des Muskels erkennbar; der zwischen beiden vermittelnde Prozeß erfolgt dagegen innerlich.

Um die Entwicklung dieses im Körperinneren liegenden Apparates wirklich in seinen Leistungen zu verfolgen, bietet sich nur ein einziger Weg und dieser Weg ist uns hier verschlossen. Wir müßten nämlich, während wir doch davon ausgegangen waren, zunächst nur die körperlichen Vorgänge zu betrachten, statt dessen jene psychologischen Erscheinungen verfolgen, die in den praktisch üblichen Analogieschlüssen als Korrelat des unverfolgbaren nervösen Vorgangs vorausgesetzt zu werden pflegen. Wenn wir diesen Weg dennoch vorübergehend für einen Augenblick betreten, so geschieht es nur, um das Prinzip dieser Entwicklung möglichst klar zu bezeichnen. Wir würden dann also nicht sagen: das einzellige Tier besitzt einen Mechanismus, durch den auf einen schädlichen Druckreiz eine zurückziehende Bewegung folgt, sondern: auf seine Druckempfindung folgt der Trieb zum Zurückziehen. Das Prinzip der Differenzierung wäre dann, daß diese Empfindung sich ebenso wie jener Trieb bis ins Unendliche kompliziert; aus der Empfindung werden Vorstellungen der verschiedensten Sinnesgebiete, es entstehen Vorstellungsreproduktionen, Assoziationen, Gedächtnis, Urteile, Schlüsse, Überlegungen, schließlich das System der Wissenschaft und dennoch, wenn wir nicht den logischen Wert, sondern die objektive Bedeutung betrachten, ist jene wissenschaftliche Schlußbildung des Kulturmenschen doch qualitativ nichts anderes, als jene Druckempfindun des Protisten, nämlich Erkenntnis der wirklichen Welt, soweit sie für jedes Geschöpf, entsprechend seiner Differenzierung, für seine Erhaltung in Betracht kommt. Der Erkenntnisseite entsprechend entwickelt sich der Trieb, er wird, wo die Möglichkeit mannigfacher nützlicher Bewegungen empfunden wird, zur Willkür, die immer mehr koordinierte Bewegungen umfaßt und sich Reflexe dienstbar macht, schließlich statt des Körpers noch das Werkzeug zu Hilfe nimmt und die Natur beherrscht. Aber  der Kulturmensch, der so unendlich viel weiß und so unendlich viel kann, ist in Anbetracht seiner Differenzierung dem auf ihn wirkenden Bedingungskomplex nicht vollkommener angepaßt, als das Infusorium;  vor allem sein Wissen und sein Können ist ein absolut sich wechselseitig bedingender Komplex, genau wie Reizbarkeit und Bewegung des Protisten zusammengehören; das eine konnte ohne das andere nicht entstehen oder wenigstens, wo es entstand, nicht erhalten bleiben, weil es zwecklos wäre.

Wir müssen, wie gesagt, auf diesen Weg psychologischer Verfolgung grundsätzlich verzichten, da wir nur die körperlichen Vorgänge untersuchen; ein Berühren der Einzelheiten ist daher unmöglich, denn was sich psycholoisch betrachtet als Einheit bietet oder wenigstens durch ein Wort bezeichnen läßt, wie Begriff, Urteil, Schluß, das zerfällt bei physioloischer Betrachtung in eine Unzahl von Erregungen, die sich einer Darstellung völlig entziehen, wiewohl das Postulat ihres Vorhandenseins unabweisbar ist. Wir dürfen hier also nur daran erinnern, wie die vergleichende Anatomie der Sinnesorgane eine kontinuierliche Stufenreihe der reizaufnehmenden Apparate nachweist. Hatte ursprünglich die ganze Oberfläche gemeinsam der Aufnahme mechanischer und chemischer Reize gedient, so entwickeln sich für jene die Organe des Tast- und Gehörsinnes, für diese die Organe des Temperatur-, Geruch-, Geschmack- und Gesichtssinnes. Die Bedeutung dieser Differenzierung für die Selbsterhaltung ist klar; erst Auge, Ohr und Nase ermöglichen es, daß auch solche Gegenstände auf den Organismus einwirken, die ihn nicht unmittelbar berühren und somit erweitert sich der Komplex derjenigen Bedingungen, welche die Auslösung seiner zweckmäßigen Bewegungen veranlassen, von der engen Sphäre der im Augenblick fühlbaren Dinge auf den weiten Kreis der von seinem Raumpunkt aus sehbaren, hörbaren und riechbaren Gegenstände. Aber die Differenzierung schreitet fort. Von zwei nacheinandder oder nebeneinander einmal zur Einwirkung gelangten Reizen vermag bei phylogenetisch gesteigerter Differenzierung des Zentralapparates die eine durch objektive Einwirkung entstehende Erregung sofort die andere früher verbundene Erregung im Körper ebenfals auszulösen und diese Reproduktionsfähigkeit der Erregung dient aufs neue der sensorisch-motorischen Anpassung. Wenn dort, wo zwei Gegenstände in räumlichem oder zeitlichem Zusammenhang stehen, ein Tier imstande ist, sobald der eine Gegenstand in seine sinnliche Wahrnehmungssphäre gelant, sofort auch die Reizung von dem noch außerhalb der Sinnessphäre befindlichen anderen Gegenstand zu erfahren, so ist der Bedingungskomplex, der auf die Bewegungsrelation einwirkt, doch offenbar über den Kreis der unmittelbaren auf die Sinnesorgane wirkenden Dinge erweitert; und wenn diese Reproduktionsfähigkeit durch immer neue Leitungsbahnen im Hirn wächst, so muß schließlich der Erregungszustand des Hirns nicht mehr nur den wenigen Bedingungen entsprechen, welche in einem bestimmten Moment im Hör-, Witterungs- oder Gesichtskreis des Organismus liegen, sondern sich auf alle Dinge beziehen, die jemals im gesamten Leben in diesen Kreis eingetreten sind. Es bedarf kaum des Hinweises, daß dieser Fall beim Menschen nicht nur verwirklicht, sondern noch erheblich zu seinem Nutzen kompliziert ist. Das menschlichen Gehirn vermag den Erregungskomplex, der von einem Gegenstand hervorgerufen wird, in seine Elemente zu zerlegen, diese Erregungselemente zu isolieren und neu zu kombinieren und somit kann durch Reproduktion der Reizteile auf gewisse äußere Anregung hin ein zerebraler Erregungsprozeß entstehen, welcher Gegenständen entspricht, die tatsächlich niemals in die sinnliche Wirkungssphäre des betreffenden Menschen getreten sind; so wird der Kulturmensch schließlich zerebrale Erregung von jedem Gegenstand der Erde erleiden können. In der Tat ist die Summe der irdischen Dinge der Bedingungskomplex, der, insofern sich der Mensch erhalten will, seine Handlungen ebenso beeinflussen muß, wie die Bedingungen des Wassertropfens den Bewegungsmechanismus des Infusoriums.

Wenn wir die  Bewegungen verfolgen, die dem Anwachsen des erregenden Bedingungskomplexes entsprechen, so dürfen  wir nicht vergessen, daß auf der höheren Stufe die Erregungen und somit auch die Bewegungen der niederen Stufe erhalten bleiben. So spielen namentlich die Einflüsse, die dem Körper durch direkte Berührung nützlich oder schädlich werden, auf allen Stufen eine wichtige Rolle, zumal der unmittelbar berührende Einfluß meis das Schlußglied auch bei zusammengesetzten Bildungskomplexen bildet. Wenn der Hund zum Bach läuft, so wird er durch eine Reizsumme in Bewegung gesetzt, deren Reizquellen ihn nicht berühren; wenn er aber mit der Zunge ans Wasser kommt, so löst der unmittelbar die Körperoberfläche berührende Reiz die zweckmäßigen Saug- und Schluckbewegungen aus. Das Grundprinzip der bei Berührung eintretenden Bewegung bleibt stets die Annäherung an die fördernde Reizquelle, die Entfernung von der schädigenden. Der Körper drängt sich hera beim Einschließen und Festhalten der Nahrung, beim Saugen, Trinken, Lecken, Fressen; überall sucht der Körper, was beim Protozoon für die ganze Masse gilt, in differenziertem Zustand mit einzelnen Teilen sich der Nahrung anzudrängen. Andererseits zieht sich der Körper fort, wenn er sich duckt, seine Teile einzieht, sich räumlich wegbewegt, flüchtet oder er strebt, wenigstens den verletzten Teil zu entfernen, wenn er sich reibt, kratzt, Ausläufer aussendet, sich schüttelt und um sich schlägt.

Wir sahen auf höherer Stufe der Differenzierung die Sinnesorgane es ermöglichen, daß ein Gegenstand auf das Nervensystem erregend wirkte, ohne den Körper selbst direkt zu berühren. Diese Eigenschaft mußte offenbar überall da gezüchtet werden, wo wegen steigender Kompliziertheit im Bau die Reaktion auf direkte Berührung nicht mehr zur Ernährung und zum Schutz ausreichen konnte, denn erst wo Sinnesorgane die Reizquellen im weiteren Umkreis erschließen, können Bewegungen eintreten, die auf Annäherung zu Objekten hinzielen, die bei Berührung förderlich sind oder Entfernung von Gegenständen, denen nahe zu kommen gefährlich ist. Während das auf Berührungsreize beschränkte Tier nur die Beute verschlingt, die an seine Körperoberfläche getrieben wird, kann das mit Sinnesapparaten ausgestattet Tier sich der Beute nähern, die in seiner Umgebung Licht- oder Duft- oder Schallreiz veranlaßt, wie es umgekehrt dem Widerstand ausweichen kann, ehe die schädigende Berührung eintritt. Die auf höhere Sinnesreize erfolgenden Annäherungsbewegungen dienen im Allgemeinen der Ernährung, die Entfernungsimpulse dem Schutz. Dahin gehört also einerseits das Holen, Erjagen, Überfallen, Heranlocken der sichtbaren Beute, andererseits das Fliehen, Verkriechen, Verteidigen, Drohen vor dem Feind, das Ausweichen vor dem Widerstand usw. Durch welche Sinnesorgane, ob durch Auge oder Ohr oder Nase das Individuum von der Abwesenheit der ihm nützlichen oder schädlichen Objekte erregt wird, das hängt natürlich von den Eigentümlichkeiten der Bedingungen ab, ebenso wie vom Wesen derselben, richtiger vom Verhältnis seines Wesens zu dem des Objekts hängt ab, ob es vor dem Feind flüchtet oder sich gegen ihn verteidigt, ob es die Beute verfolgt oder ihr auflauert.

Nun kann sich der Organismus aber noch mehr komplizieren, so daß er sich nicht mehr unter gleichen Bedingungen mit seinen alten Fähigkeiten erhalten kann; die paar Objekte, die auf seine Sinnesorgane wirken, reichen, auch wenn er sich ihnen nähert, als Nahrung nicht mehr aus, oder, wenn er sich auch vor den paar schädlichen Objekten, die er wahrnimmt, schützt, so ist von einem wirklichen Schutz doch nicht mehr die Rede, weil durch die aus anderen Gründen zunehmende Differenzierung die Chance der Gefährdung wesentlich gestiegen ist. Hier setzt nun jene Fähigkeit des Zentralapparates ein, frühere Erregungen durch assoziierte Reize reproduzieren zu können; Bewegungen, welche aus solchen assoziierten Erregungsproduktionen hervorgehen, sind dann also entweder Entfernung oder Annäherung an solche Objekte, die noch überhaupt nicht augenblicklich in der Sphäre der Sinneswahrnehmung waren. Die Fähigkeit, in der verschiedensten Umgebung und im Wechsel der Verhältnisse stets das der Erhaltung dienliche zu tun, hat gegenüber der früheren Stufe dadurch eine Ausbildung gewonnen, die besonders bei einseitiger Entwicklung gewisser Sinne Erstaunliches leistet. Hierhin gehört nun, natürlich immer den speziellen Verhältnissen entsprechend, auf der Seite der Annäherung das Abjagen, Beschleichen, Stehlen und Fallenlegen, das Umhersuchen auf Beutejagd, das Wandern der Vögel in den Süden und vieles andere mehr; auf der Seite der Abwehr des Gefährdenden ist vor allem das Bauen von Wohnungen zum Schutz gegen Feinde und Klima, das Schutzsuchen, Verstecken usw. zu nennen.

Der nächste Fortschritt des sensorisch-motorischen Apparates, der psychologisch betrachtet in Begriffs- und Schlußbildung, in Willensentschlüssen aufgrund von Überlegungen scheinbar dem einfachen Gedächtnis gegenüber so ganz Neues bietet, dieser Fortschritt ist von unserem physiologischen Standpunkt rein objektiv gesehen nur ein quantitativer; durch unzählige unmerklich kleine Abstufungen ist der neue Zustand mit dem phylogenetisch niedrigeren verbunden. Bestand der die zweckmäßigen Bewegungen auslösende Bedingungskomplex dort nur aus denjenigen Dingen, die mit den Gegenständen der momentanen Sinnessphäre zeitlich-räumlich zusammenhingen, so erweitert sich der zerebrale Erregungen auslösende Teil der Wirklichkeit jetzt auch auf diejenigen Gegenstände, welche erst durch mehrere, sich schließlich durch unendlich viele Erregungszwischenglieder auf das räumlich-zeitliche Zusammensein zurückführen lassen. Dem entsprechen dann auch Bewegungen, welche nicht unmittelbar, sondern erst durch eine wachsende Reihe von Hilfsbewegunen den nützlichen Effekt erzielen; selbst unmittelbar schädliche Bewegungen können notwendig werden, um die schließlich nutzbringende Endbewegung zu ermöglichen. Statt das im einzelnen zu verfolgen, was weit über den Rahmen dieser Studie hinausginge, erinneren wir nur an den Höhepunkt der Entwicklung. Bedeutet der Wissensreichtum des Kulturmenschen doch physiologisch, daß es sein Hirnmechanismus ermöglicht, von den räumlich und zeitlich entferntesten Molekularvorgängen selbst molekular erregt zu werden; und dem entspricht die unendliche Komplikation der nützlichen Bewegungen, nicht nur durch die Einübung der Koordinationen, sondern jetzt auch durch die Schaffung des Werkzeugs, das als Waffe, Kleidung, Feuer, Schiff, Maschine die Leistungsfähigkeit des Körpers seiner Erregungsfähigkeit entsprechend steigert. Indem auch diese sich in schaffende und zerstörende einteilen lassen, ist damit wieder jene Zweiheit der Richtung angedeutet, welche sich auf Herbeiführung des Nützlichen und Beseitigung des Schädlichen bezieht. Daß in dem hier skizzierten Sinn der Selektionsprozeß in der Natur noch fortwährend züchtet und ausliest, ergibt sich auf den ersten Blick. Ein Tier, bei dem der Duft der giftigen Pflanze Annäherung auslöst, ein Junges, dem der Reiz der berührenden Nahrung keine Saug- oder Kau- oder Schluckbewegungen erzeugt, ein Geschöpf, das entgegen dem Mechanismus seiner Art, auf den umgebenden Bedingungskomplex nicht durch die zum Nestbau oder Gespinst nötigen Bewegungen reagiert, sie alle haben geringere Erhaltungschance oder werden vom Ausleseprozeß direkt beiseite geschafft. Ein Vogel, dem der Bedingungskomplex der herbstlichen Natur nicht die Bewegung zur südlichen Wanderung veranlaßt, ist nicht besser dran, als einer, der ohne Flügel geboren ist. Und dasselbe gilt vom Menschen. Wen der infizierende Schmutz oder der Alkohol besonders zur Annäherung veranlaßt, hat geringe Erhaltungschancen; wer in seinen Handlungen nicht von den zukünftig in seine Sinnessphäre tretenden Bedingungen schon vorher geleitet wird - wir nennen solche Menschen dumm, beschränkt, unbegabt - ist in wesentlichem Nachteil im Kampf ums Dasein. Wo solche mangelhafte Verbindung von Erregung und Bewegung sich ganz besonders stark zeigt, da sprechen wir von Geisteskrankheit; wer unter einem bestimmten Bedingungskomplex keine Essbewegungen ausführt, verhungert durch seinen ihm schädlichen Gehirnmechanismus, ebenso wie einer, dessen vegetatives System zerstört ist; er hat nicht die geringsten Chancen zur Fortpflanzung seines sensorisch-motorischen Apparates.

Alle Bewegungen, die wir bisher betrachtet haben, erwiesen sich für den auf bestimmter Differenzierungsstufe stehenden Körper als zweckmäßig und als notwendig zur Selbsterhaltung; es ergaben sich somit für den sensorisch-motorischen Apparat also die Tatsachen, die uns überall in der organischen Welt zur Annahme einer Entstehung durch Selektion veranlassen. Offenbar ist aber dieser Beweisgang damit erst unzureichend durchgeführt, da alles, was wir bisher berücksichtigt haben, sich auf das zweckmäßige Verhalten des einzelnen Geschöpfesf zur Natur beschränkte, ein besonders für den Menschen nicht minder wichtiger Kreis von Handlungen bezieht sich aber auf das  Verhalten des einzelnen Individuums zu den Geschöpfen derselben Art,  des Menschen zu den Mitmenschen. Nur wenn die Funktionen des nervösen Mechanismus sich auch in dieser Beziehung als zweckmäßig und notwendig für die eigene Erhaltung erweisen und nirgends überflüssig oder nur den anderen nützlich sind, dann allein werden wir die Behauptung, der nervöse Apparat sei in seiner Kompliziertheit nur Anpassungserscheinung, berechtigterweise verallgemeinern dürfen.

Die theoretische Anpassungslehre müßte von vornherein postulieren, daß, wenn Individuen gleicher Art sich längere Zeit irgendwie gegenseitig beeinflussen, in phylogenetischer Entwicklung jedes Individuum allmählich diejenien Eigenschaften erlangt, welche, falls das Zusammenleben fortdauert, für seine Selbsterhaltung am verhältnismäßig günstigsten sind. Es fragt sich, ob solche wechselseitige Anpassung wirklich zu beobachten ist. - Die notwendige Bedingung für ihr Zustandekommen ist offenbar, daß die Individuen in Kommunikation leben; diese kann aber entweder in direkter Berührung und Verwachsung bestehen oder darin, daß jedes imstande ist, auf die Sinnesorgane des anderen durch Bewegungen einzuwirken. Fälle der ersten Art sind im Tierreich selten, aber, von anderen abgesehen, die Siphonophoren, die bekannten "Staatsquallen" bilden doch ein typisches Beispiel für die Art, wie wechselseitige Anpassung möglich ist. Jeder Teil einer Siphonophore entspricht einer Hydra oder einer Meduse, ist also ein Individuum und dennoch haben die einen nur Verauungswerkzeuge, andere nur Lokomotionsapparate, einige dienen zum Fang, einige als Schutz, kurz sie bieten ein anschauliches Bild eingetretener Arbeitsteilung, bei der jedes einzelne Individuum in einer Richtung mehr leistet, als es zu seiner Selbsterhaltung nötig hat, dafür aber in anderen Beziehungen diejenigen für seine Erhaltung nötigen Leistungen, die es selbst nicht ausführen kann, von den anderen erhält. Das nur verdauende Individuum muß allerdings mehr Nahrung verarbeiten, als einem Stoffwechsel nötig ist, aber dennoch ist diese Mehrleistung das Zweckmäßigste, was es für seine Selbsterhaltung leisten kann, denn nur dadurch ermöglicht es den anderen Individuen, ganz der Fortbewegung, dem Schutz, dem Nahrungsfang zu leben, zu dem es selbst nicht die Fähigkeit besitzt. Die einzelnen Individuen leisten also nicht etwas, was nur der Gesamtheit als solcher zugute kommt, sondern in erster Linie kommt ihre Leistung ihrer eigenen Selbsterhaltung zugute, wenn auch auf indirektem Weg. - Mit Hilfe dieses Schemas vereinfacht sich nun auch die Mannigfaltigkeit wechselseitiger Anpassung unter denjenigen Geschöpfen, die nicht durch unmittelbare Körperberührung, sondern durch Wirkung auf die Sinnesorgane untereinander in Beziehung stehen. Die wechselseitig Anpassung hat dann freilich nicht mehr den Spielraum, wie bei den zusammengewachsenen Geschöpfen; bei frei lebenden Tieren kann nicht das eine sich von dem ernähren, was das andere ißt, die gegenseitige Unterstützung bleibt vielmehr beschränkt auf die Leistungen eines einzigen Apparates, eben jenes sensorisch-motorischen Mechanismus, der auf äußere Reize zweckmäßige Bewegungen auslöst. Angenommen nämlich, Geschöpf  A  ist imstande, außer den für seine Erhaltung notwendigen Erregungen auch noch solche zu erfahren, die für  B  nötig sind, und ist imstande, diese Erregungen dem  B  mitzuteilen, so könnte  B  vielleicht die entsprechenden Bewegungen für sich selbst und zugleich für  A  mit ausführen. Der unmittelbare Zweck der Kommunikation ist also die Mitteilung innerer Erregung; soll sie durch Wirkung auf die Sinnesorgane, also mittels eigener Bewegung erfolgen, so können zu solchen "Ausdrucksbewegungen" jedenfalls nur diejenigen geeignet sein, welche im zweiten Geschöpft dieselben Erregungen auslösen, die bei ersten die Bewegung verursachten. Der Gebrauch solcher Verkehrswege ist in der Tierwelt wahrscheinlich weiter verbreitet, als wirklich festzustellen vorläufig möglich ist. Am bekanntesten sind die Geräusche und Töne der Vögel, die Antennenbewegungen der Ameisen und anderer Insekten, die Reibegeräusche gewisser Arthropoden, die Signale der Affen usw. Auch die menschlichen Verständigungsmittel sind das natürliche Produkt des Zusammenlebens. Nicht hier kann verfolgt werden, durch welche Bedingungen die menschlichen Gesten entstanden, wie die dem Auge sich bietenden Bewegungen dann allmählich zugunsten der Geräuscherzeugung zurücktraten und sich so in der Sprache ein Mittelding bot, nicht nur die Gegenstände und ihre Wirkungen zu bezeichnen, auf welche die Geste beschränkt ist, sondern immer mehr die Elemente der Gegenstandswirkungen zu isolieren und zu kombinieren. Nicht minder wichtig war es dann, als durch bildliche Projektion der Gegenstände, durch Fixierung von Merkzeichen die Erregung, welche von den Dingen losgelöst war, für zeitlich und räumlich ferne Menschen bewahrt werden konnte, als zur Schrift die Vervielfältigung des Buchdrucks, die Schnelligkeit der elektrischen Leitung kam: aber die komplizierteste Form der Mitteilung bleibt wie die einfachste doch nur ein Hilfsmittel zur Ermöglichen der Arbeitsteilung, gleichwertig dem Zusammenwachsen jener Quallenindividuen.

Unsere Aufgabe ist es, nun den Inhalt des wechselseitigen Verkehrs zu untersuchen, der durch jene Verkehrsmittel ermöglicht ist. Wir heben offenbar die weitaus wichtigsten und typischen hervor, wenn wir die Erscheinungen der Familie, der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Staates und der Moralgemeinde erwähnen. Von einer wirklichen Erörterung dieser Gebiet kann hier ums so weniger die Rede sein, als selbstverständlich nur dann ihr Wesen erfaßt werden kann, wenn ihre psychologischen Erscheinungen und ihre ethische Bedeutung, die uns beide hier nicht bekümmern dürfen, eingehend untersucht werden; wir haben es hier nur mit der Frage zu tun, ob die Erregungs- und Bewegungsvorgänge dieser Einrichtungen wirklich derart sind, daß sie als die für die Erhaltung des einzelnen Individuums denkhar nützlichsten Leistungen gelten müssen und somit in der natürlichen Zuchtwahl dem einzelnen Subjekt einen Vorteil verschaffen. Nur die bejahend ausfallende Antwort auf diese Frage gilt es hier mit ein paar Worten zu skizzieren.

Die Vorgänge des  Familienlebens  bedeuten freilich nur sekundäre eine wechselseitige Anpassung zum Zwecke der Selbsterhaltung; primär ist die Erzeugung und Erhaltung der Nachkommen, die uns vorläufig nicht interessiert. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß auch die Selbsterhaltung der Geschlechtswesen, besonders wenn sich im Gefolge des Sexualunterschiedes wesentliche Abweichungen des Körperbaus entwickelt haben, eine Arbeitsteilung zwischen den Familienmitgliedern nützlich, eventuell notwendig erscheinen lassen kann. Ist es doch bekannt, wie besonders bei den Bienen und Ameisen diese sekundären Funktionen der Familie so ausgebildet sind, daß man die Bewohner des Ameisenhaufens und des Bienenstocks früher fälschlich als Tierstaat bezeichnete statt als Tierfamilie. In den durch Polygamie zusammengehaltenen Affenbanden sorgen die Weibchen für die Pflege und Reinigung des männlichen Leitaffen, dieser für den Schutz der schwächeren weiblichen Tiere. Bei der Species Homo läßt sich von einer festen Famliienform ja nicht sprechen, überall da, wo das Zusammenleben den Geschlechtsakt überdauert, hat sich eine der Selbsterhaltung dienliche Arbeitstheilung ausgebildet. Der Mann wirkt nach außen, die Frau nach innen. Daß der Mann stark, die Frau schwach ist, folgt aus Verhältnissen des Geschlechtslebens; daß nun aber der Starke und der Schwache nicht jeder für sich allein alle jene Bewegungen ausführt, die für seine Selbsterhaltung gegenüber dem äußeren Bedingungskomplex der Umgebung nötig sind, sondern die Muskelkontraktionen, welche für ihre beiderseitige Existenz nützlich sind, derart teilen, daß der Starke die Kraft fordernden Kämpfe für beide ausficht und ebenso der Schwächere die kleineren, zarteren, feineren Leistungen für beide ausführt, das bliebe immer dienlich, wenn auch das Geschlechtsleben ganz wegfallen würde.

Die  Volkswirtschaft  ist schon oft so unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsteilung und mit Vergleichen aus dem organischen Naturleben behandelt worden. Die Einzelwirtschaften werden dabei den Funktionen der Elementarorganismen, der Zellen, gleichgesetzt. Wie keine Zelle unseres Körpers sich die zu ihrer Erhaltung nötigen Stoffe selbst verschaffen kann, sie daher so adaptiert sind, daß jede ihr Quantum Nahrung erhält, wenn sie zu der dem gesamten Zellenkomplex nötigen Arbeit ihren Teil beiträgt: so kann auch kein Mensch die zu seiner Selbsterhaltung nötige Naturbearbeitung selber vorführen; also nur bei wechselseitiger Anpassung kann jeder dennoch alle seine Bedürfnisse befriedigt sehen. Jeder erhält mithin einen enstprechenden Teil von dem aus gemeinsamer Arbeit entstehenden Produkt, wenn er selbst durch nützliche Arbeit einen Beitrag zur Brauchbarmachung der Natur leistet, denn nur die Arbeit an der Natur, nicht der Naturstoff selbst wird bezahlt. Damit ist der Inhalt der Volkswirtschaft aber bei weitem nicht erschöpft. Wie im Körper nicht nur die an der Stoffverarbeitung teilnehmende vegegative Zelle ihre Nahrung erhält, sondern auch die Knochenzwlle oder Ganglienzelle, so kommen auch im sozialen Leben die erhaltenden Naturstoffe nicht nur demjenigen zu, der an ihrer Verwertung mitarbeitet, sondern jedem, der überhaupt eine nützliche Arbeit ausführt. Wir sahen ja, daß die dem isolierten Menschen zur Selbsterhaltung nötige Leistung seines sensorisch-motorischen Apparates erstens in der Aufnahme der Reize, zweitens in der Auslösung von Bewegungen bestand; offenbar kann beides in der wechselseitigen Anpassung entsprechend verteilt sein. Jene Bearbeitung der Natur ist nur ein Teil der nötigen Bewegungen; die Muskelkontraktionen, welche dem Schutz der Heilung usw. dienen, sind nicht minder wichtig und ebenso die Leistung dessen, der lediglich zum Nutzen der Menschheit mehr Reize auf sich wirken läßt, mehr Eindrücke, mehr Kenntnisse sammelt, als er zur Ermöglichung seiner Erhaltung gebrauchen würde. Im wechselseitigen Austausch erhält nun jeder für seine Arbeitsleistung, deren Produkt ihm selbst von geringerem Wert, andere Leistungen, die ihm notwendig und die er sich nicht selbst schaffen konnte; damit ist das einfache Schema gegeben, nach welchem, bei steigender Differenzierung des Verkehrs, die Bedürfnisse des einzelnen immer mehr wachsen können, die Ersparnis an Zeit und Mühe für die einzelne Arbeit immer größer wird, jedes besondere Talent immer breiteren Raum gewinnt zur Nutzbarmachung seiner Kräfte und doch auch in der kompliziertesten Form des heutigen Wirtschaftsverkehrs der Vorteil jedes einzelnen unendlich besser gewahrt bleibt, als im Zustand der Isolierung, ein Resultat, dem um so weniger entsprochen werden kann, als ja auch psychologisch der Egoismus die Haupttriebfeder der Wirschaft ist.
LITERATUR - Hugo Münsterberg, Die Willenshandlung, Freiburg 1898