p-4 DrobischO. KülpeWindelbandB. Schmid    
 
HUGO MÜNSTERBERG
Die Willenshandlung
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"Die  Menschheit  ist also für den einzelnen objektiv nur eine unendlich komplizierte Reizsumme, welche in ihm mittels seines Nervenapparates die für ihn zweckmäßigsten Handlungen auslöst."

Aus dem wirtschaftlichen Leben, insofern es zum Vermögen führte, das den Rechtsschutz erheischte, entwickelte sich der  Staat;  es fragt sich, ob auch die Zugehörigkeit zum Staat dem einzelnen Vorteile bringt, welche die Nachteile überwiegen. Uns kümmer hier also nicht das an sich wichtigere Problem, in welcher Weise der einzelne der Erhaltung des Staates dient; wir fragen nur, ob er durch das staatliche Zusammenleben sich selber nützt, denn nur das letztere, nicht die Erhaltung des Staatsganzen kann bei der natürlichen Zuchtwahl der Individuen in Frage kommen.

Der Universalzweck aller empirischen Staaten, unabhängig von ihrer Verfassung, war Herstellung des Rechtsschutzes nach innen und Organisation der Macht nach außen; alle übrigen Zwecke, für die der Kulturmensch die Hilfe des fertigen Staates in Anspruch nimmt, gehören nicht zu seinem Wesen, aber ein Staat ohne Recht für seine Untertanen und ohne Organisation gegen seine Feinde ist nicht denkbar. Diese Doppelaufgabe wurzelt jedoch in einem gemeinsamen Prinzip, dem Prinzip wechselseitiger Unterstützung in der Abwehr von Angriffen. Für die kriegerische Tätigkeit ist dieses ja ohne weiteres klar; die Gesamtheit wendet sich mit persönlicher oder sachlicher Leistung gegen den Feind, gleichviel welcher Teil des Landes angegriffen ist. Aber auch die gegen den Rechtsverletzer sich wendende Staatsgewalt ist kein Abstraktum und ist noch weniger die, bei der wirtschaftlichen Arbeitsteilung mit der Tätigkeit des Richtens betraute Person, sondern ist die Gesamtheit des Volkes. Diese Gesamtheit ist es, welche dem einzelnen das Recht zugesteht, zu sein und die Arbeitsprodukte zu haben - denn hierin liegt alles Recht, das private wie das öffentliche, die sich nur durch sekundäre, besonders psychologische Momente scheinden. Wer auch immer diese Rechte verletzt, gegen den wendet sich die Gewalt des Staates; der Rechtsangreifer steht deshalb im Prinzip außerhalb der zu wechselseitigem Rechtsschutz verbundenen Gesamtheit; er ist in den Grenzen des Landes theoretisch genau gleich dem äußeren Feind, da auch seinem Angriff nicht der Angegriffene, sondern die Gesamtheit entgegentritt. Der Staat ist also ein nicht durch Übereinkunft, sondern in historischer Differenzierung entstandenes Schutz- und Trutzbündnis, in welchem der einzelne Pflichten leistet und dafür Rechte beansprucht. Sobald die komplizierten Verhältnisses erst auf dieses einfache Schema zurückgeführt sind, bedarf es nicht mehr des Beweises, daß jeder einzelne im Staat unendlich mehr empfängt, als er gibt. Die für seine eigene Erhaltung freilich überflüssige Leistung, die er für den Schutz der anderen opfert, ist gering; ungeheuer wertvoll aber der immerhin erheblich garantierte Schutz, den die Gesamtheit ihm gegen innere und äußere Angriffe leistet, denen er selbst machtlos gegenüber gestanden hätte. Die Zweckmäßigkeit des im Staatsleben gegebenen Bewegungskomplexes für die Erhaltung des einzelnen kann also nicht bestritten werden. Es ist bekannt, daß ähnliche gewohnheitsmäßige Defensivkooperationen auch im Tierreich mannigfach gegeben sind.

Das Recht verweist, über sich selbst hinaus, überall auf  Sitte  und  Sittlichkeit.  Ist nun auch die Sittlichkeit für die eigene Erhaltung des moralisch Handelnden objektiv zweckmäßig oder kommt sie nur den anderen Individuen, auf welche die Tat sich bezieht, zugute? Selbstverständlich kann im letzteren Fall - die auf die Nachkommenpflege sich beziehenden sittlichen Leistungen wieder ausgenommen - von einer Züchtung durch Selektion nicht die Rede sein; natürliche Zuchtwahl muß im Gegenteil jede Eigenschaft beseitigen, deren objektiver Nutzen nicht dem Träger jener Eigenschaft zufällt. - Der Versuch, die Moral auf utilitaristischen Prinzipien aufzubauen, ist in der Geschichte der Ethik bekanntlich immer wiedergekehrt; selbst KANT, der den Egoismus am schärfsten bekämpft, kann den Nützlichkeitsfaktor nicht eliminieren, denn die durchaus nicht so einfache Frage, welche Handlungen denn eigentlich derart seien, daß ihre Maxime zur Gesetzgebung erhoben werden könne, beantwortet er dahin, daß sich das aus der zu erwägenden Rückwirkung auf den Handelnden ergebe; wer ein allgemeines Prinzip der Lieblosigkeit aufstellen würde, beraubt sich dadurch selbst der Hoffnung auf den für Fälle der Not gewünschten Beistand. - Eine wirkliche Klärung, wie weit der Nutzen als Prinzip der moralischen Tatsachen begründet und in welchen Beziehungen er völlig unberechtigt ist, wurde erst durch die in neuerer Zeit durchgeführte scharfe Trennung von Motiv und Zweck möglich, oder, wenn wir von der nachträglichen teleologischen Betrachtung abstrahieren, durch die Trennung von Motiv und Wirkung. Die völlig unegoistischen sittlichen Motive kümmern uns hier natürlich nicht, da sie rein psychologische Erscheinungen sind; aber auch die Wirkungen der sittlichen Handlungen scheinen auf den ersten Blick dem individuellen Nutzen zu widersprechen. Freilich gibt es mannigfache sittliche Tätigeiten, welche der Erhaltung der eigenen Person direkt zugute kommen, aber von den vielen unmittelbar der eigenen Erhaltung dienenden Bewegungskomplexen bezeichnen wir doch nur diejenigen als sittlich wertvoll, welche weiterhin auch noch einem größeren Kreis nutzbar werden; die Erfolge der moralischen Handlungen sind also soziale und humane, der moralische Mensch handelt für die Gesellschaft und die ganze Menschheit, nicht für sich selbst. Der Gesichtskreis der Ethik ist damit notwendig abgeschlossen; falls die sozialen und humanen Wirkungen selbst zur Ursache einer weiteren Wirkung werden, so hat die Ethik dieselbe nicht mehr zu behandeln, das hindert aber nicht, daß unsere, wir möchten sagen, naturwissenschaftliche Betrachtung gerade diesen letzten über die ethisch wertvollen Wirkungen hinausgehenden Erfolg ins Auge faßt. Als solch sittlich indifferenter, tatsächlich überall eintretender Enderfolg muß nun die Rückwirkung gelten, welche von der Gesellschaft und der Menschheit ausgeht auf den ihr sittlich Dienenden. Wer sich durch seine Handlungen als Glied einer Moralgemeinde erweist, der ist in jedem Notfall aller der ihm nützlichen Liebesnahdlungen und werktätigen Hilfe gewiß, die man sich selber nicht schaffen, die man nur von der Gesellschaft empfangen kann. Der Tausch der eigenen Leistung gegen die fremde ist kein unmittelbarer, aber der Nutzen, den der einzelne für seine Erhaltung durch das Vorhandensein moralischer Gesetze mittels der anderen empfängt, ist normalerweise unendlich größer, als der Schaden, den er durch seine der Gesamtheit nützliche Leistung auf sich nimmt. Wir betonen: normalerweise. Wenn nämlich der Einwurf, daß nicht alles Sittliche nützlich sei, sich darauf zu stützen pflegt, daß gerade die höchsten sittlichen Handlungen in einer Aufopferung des Lebens bestehen, so daß von einer Rückwirkung nicht mehr die Rede sei, so ist dem entschieden entgegen zu halten, daß solche Fälle abnormale Übertreibungen der sittlichen Maxime sind. Aufopferung des Lebens zu sittlichem Zweck muß unserer subjektiven Wertschätzung, die sich lediglich an die Gesinnung, an die psychologischen Motive zu halten hat, natürlich als der Gipfelpunkt der Moral erscheinen; bei objektiver Betrachtung kann aber nur der die Lebensopferung als sittliches Prinzip anerkennen, der den Zweck der Sittlichkeit in einem Abstraktum sieht; wer dagegen in der Entwicklung der empirischen Menschheit die Bedeutung der sittlichen Erscheinung sucht, kann unmöglich eine Maxime billigen, die bei strenger Durchführung die Gesamtheit der lebenden Menschen beseitigen würde. Die Funktion jedes einzigen Organs, ja fast jegliche Leistung des sensorisch-motorischen Apparates kann durch übernormale Anstrengung den Organismus gefährden, ohne daß dadurch die Annahme begründet wäre, jene Organe dienten nicht dem Nutzen desselben. Die biologische Betrachtung kann nur die normale Leistung berücksichtigen, nicht die bei der großen Zahl zuweilen auftretenden Schwankungen ins Unter- oder Übernormale; der Märtyrertod als übernormal ist dem einzelnen ebenso verderblich, wie die unternormale  moral insanity die normale ethische Leistung aber bewährt sich fortwährend für den moralischen Menschen selbst als bester Schutz im Leben. Und alle die, welche den Tod auf sich nahmen, um der Menschheit zu dienen, sie haben die Gegenleistung der Menschheit natürlich nicht erlebt, das ehrende Andenken aber, das sie überdauert, ist an die Stelle der Leistung getreten und beweist in seiner Art das Prinzip, daß in der ethisch organisierten Gesellschaft jede moralische Handlung ihre dem moralischen Menschen nutzbringende Schlußwirkung hat, ergänzt durch das noch leichter erkennbare Korrelat, daß innerhalb der Moralgemeinde jede unwürdige Tat sich zum Verderben des Täters oder seiner Nachkommen umkehrt. Kein Mensch kann sich direkt durch eigene Arbeit alle die, seiner Selbsterhaltung geradezu notwendigen, Vorteile verschaffen, die ihm durch die Treue, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Opferbereitschaft seiner Mitmenschen erwachsen; wer sie verlangen will, muß die dem Vorteil gegenüber geringe Leistung vollführen, selbst treu und gerecht und hilfsbereit zu sein. Genau dasselbe gilt natürlich für die den Verkehr engerer Kreise regelnden Formen der Sitte; wer nicht gesellschaftlich verletzt werden will, muß sich selbst den Normen der gesellschaftlichen Sitte fügen und empfängt damit sicherlich mehr, als er hingibt. WUNDT hat in einer Ethik dieser Auffassung entgegengehalten, daß, wenn die Entwicklungstheorie klar machen wolle, wie im ganzen die selbstlosen sittlichen Charaktere ausdauern mußten, daß sie es dann im einzelnen Fall anschaulich machen müsse, während uns doch die Erfahrung der beobachtbaren Einzelfälle im Gegenteil lehre, daß der egoistische Mensch über den selbstlosen gerade so wie der stärkere über den schwächeren siege. Jene methodologische Postulat ist nun zweifellos berechtigt; wenn wirklich die Einzelfälle dem Prinzip widersprechen, so ist letzteres eine hypothetische Konstruktion schlechtester Art. Ebenso ist zweifellos auch jene Beobachtung wichtig, daß, wo der Selbstsüchtige mit dem Selbstlosen zu tun hat, ersterer den Sieg davon tragen wird. Nur, meine ich, widerspricht diese Beobachtung durchaus nicht jenem Postulat. Wenn das erfahrungsgemäße Zusammenleben wirklich auf das in diesem Beispiel angenommene Schema beschränkt bliebe, wenn wirklich stets nur je zwei Individuen zueinander in Beziehung treten würden, dann allerdings würde die, das Nützlichkeitsmoment betonende Entwicklungstheorie vergeblich die Entstehung des Sittlichen anschaulich zu machen suchen. Tatsächlich ist jenes Schema aber eine Abstraktion; in Wirklichkeit ist es in erster Linie eine Mehrheit von Personalkomplexen, die in einen Kampf ums Dasein treten und es ist ohne weiteres verständlich, daß Familien, deren Mitglieder einander selbstlos unterstützen, über Familien siegen, deren Teile sich in Zank und Streit gegenseitig zu schädigen suchen. Daß aber in einem Komplex von Indivdiduen eine selbstlosere, friedfertigere Art vorherrscht, als im anderen, dafür bedarf es doch durchaus nicht der "Rudimente veralteter Vertragstheorie", sondern lediglich derselben einfachen Annahme, die auch in jenem Schema von den zwei isolierten Individuen gemacht war; daß nämlich hier mehr Friedfertigkeit, dort mehr Zanksucht vorherrscht. Wenn WUNDT als Illustration seines Einwandes darauf hinweist, daß unter Hähnen, die auf demselben Hof gehalten werden, schließlich der herrsch- und selbstsüchtigste allein übrig bleibt, so akzeptiert doch auch er die Annahme, daß im Hühnergeschlecht Selbstsucht und Selbstlosigkeit verschieden verteilt ist. Nichts anderes, kein Vertrag und keine Überlegung, wird nun vorausgesetzt, wenn wir das Beispiel so variieren, daß wir annehmen, auf verschiedenen Hühnerhöfen herrsche eine verschiedene Durchschnittsart, die Bewohner des einen seien mehr selbstsüchtig, die des anderern mehr friedfertig. Im ersteren wird, WUNDTs eigenem Beispiel zufolge, schließlich nur das selbstsüchtigste und zanksüchtigste von den Geschöpfen übrig bleiben, unfähig sich zu vermehren, während im anderen eine gedeihlich Entwicklung und Fortpflanzung mit Vererbung der Durchschnittseigenschaft wahrscheinlich eintreten wird Gerade die infachsten, den realen Verhältnissen entsprechenden Einzefälle bieten somit einen anschaulichen Beleg für die allgemein hypothetischen Prinzipien.

Ein scheinbarer Einwand liegt nach all diesen Betrachtungen nahe. Wenn unsere Resultate richtig sind, so wäre ja Staat und Familie und Volkswirtschaft und Moralgemeinde und Gesellschaft, in ihrem objektiven Verhalten völlig übereinstimmend, zusammengehalten von ein und demselben Prinzip der Arbeitsteilung. Dieser Einwand ist unwiderleglich, ja, er bezeichnet das nächste Ziel unserer Untersuchung. In der Tat hat es sich ergeben, daß alle jene Formen der Beziehung in ihren objektiven Erfolgen darauf hinauslaufen, daß jeglicher solche Leistungen, d. h. Muskelkontraktionen ausführt, die nicht seiner eigenen Erhaltung dienen, sondern für das Dasein der anderen, in engerem oder weiterm Kreis, zweckmäßig sind, seinerseits dafür aber von jenen anderen Leistung empfängt, die seiner Erhaltung nützlich oder gar nötig sind, ohne daß er selbst sie zu produzieren imstande wäre. Das, was jene Gebiete trennt, sind also nicht die objektiven Wirkungen, sondern nur die psychologischen Begleiterscheinungen, von denen zu abstrahieren unsere Prämisse war. Wo jener Schlußerfolg der Handlung, der eigene Nutzen, als Motiv im Bewußtsein auftaucht, sprechen wir von wirtschaftlicher Leistung; nur da, wo nicht jener letzte Erfolg, sondern nur der nächste, selbstlose Zweck das Motiv ist, reihen wir die Handlung unter die ethischen. Wie wenig da scharfe Grenzen möglich, beweist der Umstand, daß durch äußere Bedingungen manches, was in einem Land Gesetz ist, im anderen durch Moral, im dritten durch wirtschaftlichen Tausch geregelt wird. Ja, es ließe sich sehr wohl ein Volk denken, in welchem die Arbeitsteilung jener verschiedenen Arten in derselben Vollständigkeit nur durch Wirtschaftsverkehr geregelt würde, ein zweites, in welchem dieses alles sich durch Gesetz, ein drittes, in dem es durch Sitte, ein viertes, in dem es ich durch Moral erhielte; objektiv ginge es bei jenen vier Völkern ganz gleichmäßig zu, nur subjektiv wäre bei dem einen das materielle Interesse, beim zweiten die Furcht vor Strafe, beim dritten die Scheu vor der Mißachtung, beim vierten die Stimme des Gewissens besonders stark entwickelt.

Nur erinnert sei schließlich noch daran, wie durch die gesamte Tierwelt, mit Ausschluß der niedersten, die  zur Erzeugung der Nachkommenden nötigen Bewegungen  verbreitet sind, wie das Aufsuchen und Anrufen der Geschlechtstiere, die Bewegungen zum Festhalten, zur Befruchtung usw.; wie in der höheren Tierwelt dann noch die Bewegungen dazu kommen welche dem Schutz und der Pflege der Nachkommen dienen und wie auch alles dieses beim Menschen in zum Teil historisch verfolgbarer Entwicklung zu unendelicher Kompliziertheit sich differenziert hat.

Wir haben damit nun die Gesamtheit der tierischen und menschlichen Bewegungen geprüft, es kann keine normale Muskelkontraktion geben, die sich nicht einer der untersuchten Bewegungsgruppen unterordnet. Wir sahen in der ersten Reihe, wie die Kontraktionskomplexe mittels des angeborenen sensorisch-motorischen Apparates durch die das ganze Leben hindurch einwirkenden Reize der Außenwelt notwendig hervorgebracht werden. Wir verfolgten das von den Bewegungen des Protisten, der sich den fördernden Reizquellen sich näherte, schädlichen sich abwendete, bis hinauf zu den komplizierten Handlungen des Kulturmenschen, auf welchen die räumlich zeitlich entferntesten Gegenstände der Welt in unzähligen direkten oder indirekten Reizen einzuwirken vermochten. Überall aber ergab sich, daß, dem bestimmten Bedingungskomplex gegenüber, die Leistung des senso-motorischen Apparates die für die Erhaltung des Organismus denbar zweckmäßigste und nützlichste war. - Die zweite Hauptreihe von Bewegungsgruppen erkannten wir als bedingt durch das Zusammenleben mit gleichartigen Geschöpfen. Wir sahen, daß zunächst mannigfaltige Bewegungen überhaupt nur der Vermittlung dienten; überraschender aber war, daß die so vermittelten Beziehungen, wie sie speziell beim Menschen in Staat, Familie, Wirtschaft, Sittengemeinde verwirklicht sind, ebenfalls nur in jedem einzelnen diejenigen Bewegungen auslösen, die unter dem vorliegenden Bedingungskomplex die für seine Selbsterhaltung zweckmäßigsten sind; die Menschheit ist also für den einzelnen objektiv nur eine unendlich komplizierte Reizsumme, welche in ihm mittels seines Nervenapparates die für ihn zweckmäßigsten Handlungen auslöst. Schließlich sahen wir durch den äußeren Bedingungskomplex eine Gruppe von Bewegungen angeregt, die nur der Nachkommenschaft dienten. Wir können somit unsere ganze Untersuchung dahin zusammenfassen:  Die ganze Welt, einschließlich der gesamten Menschheit,  ist für den einzelnen Organismus eine unendlich mannigfaltige Reizquelle, welche in ihm durch seinen sensorisch-motorischen Mechanismus notwendig diejenigen Bewegungen verursacht, welche für die Erhaltung des Organismus oder seiner Nachkommen zweckmäßig sind; in eben diesen Bewegungen besteht die Gesamtheit der tierischen und menschlichen Reflexe, Trieb- und Willkür-Handlungen. - Wenn nun wirklich sämtliche Leistungen, die der vom Sinnesorgan durch den Zentralapparat zum Muskel führende animalische Mechanismus auf äußere Reize auslöst, so durchweg für den Organismus nützlich sind, so ist offenbar dieser Apparat genauso zweckmäßig, wie der für die Saftströmung oder der für die Ernährung. Es liegt daher kein Bedenken vor, auch auf ihn alle diejenigen Erklärungsprinzipien anzuwenden,welche DARWIN und seine Nachfolger für die Erklärung der Entwicklung zweckmäßiger Organe zum unbestrittenen Besitztum der Naturforschung gemacht haben. Die komparative Biologie hat für den vegetativen Apparat die Erklärung durch darwinistische Prinzipien lange schon durchgeführt, indem sie auf jeder Stufe der phylogenetischen Entwicklung die Zweckmäßigkeit desselben für die Erhaltung des Organismus nachwies und dadurch die große Bedeutung klarlegte, die der Apparat bei der Naturselektion im Existenzkampf haben mußte; vom unerklärten Wesen der Vererbung abgesehen, war damit unter Zuhilfenahme langer Zeiträume, wechselnder Einflüsse usw. die Entstehung des vegetativen Mechanismu dem Kausalverständnis zurechtgelegt. Dem animalen Apparat gegenüber hat die Biologie auf eine solche Erklärung bisher verzichtet; sie hat den vergleichend anatomischen Bestand durchforscht, das aber, was zur Erklärung notwendig war,  der Nachweis, daß der Apparat normalerweise nichts Überflüssiges oder Schädliches, sondern ebenfalls wie der vegetative nur Zweckmäßiges leistet,  dieser vergleichend-physiologische Nachweis war unterlassen und konnte selbstverständlich nicht erbracht werden, solange man erstens immer nur den sensorischen oder den motorischen Apparat, jeden für sich allein betrachtete, statt beide als einheitlichen Reflex-Apparat, und solange man zweitens die ethischen Handlungen vom ethischen, die logischen Leistungen vom logischen Standpunkt untersuchte, statt beide einmal vorübergehend dem naturwissenschaftlichen unterzuordnen. Auch uns war es im engen Rahmen dieser Studie unmöglich, diesen Weg wirklich selbst zu durchwandern, wir mußten uns begnügen, gewissermaßen nur die einzelnen Stationen des Weges anzugeben, um nähere Ausführungen dereinst an anderem Ort zu versuchen. Das aber wird sich hoffentlich auch aus der kurzen Skizze ergeben haben, daß unser Prinzip berechtigt ist, daß jener sensorisch-motorische Apparat wirklich nur Zweckmäßiges leistet, er selbst sich daher in demselben Maß als der vegetative Apparat durch natürliche Zuchtwahl mit ihren sekundären Prinzipien erklären läßt.

Nur vor einem Mißverständnis muß noch gewarnt werden, das bei SPENCER und anderen nicht vermieden ist. Es wäre nämlich ganz unberechtigt anzunehmen, daß moralische Ideen oder derlei vererbt und gezüchtet werden können. Ein Bewußtseinsinhalt vererbt sich überhaupt nicht, sondern es vererbt sich ein materieller Apparat, der bei gewissen Reizen gewisse Bewegungen auslöst. Aber auch dieser Apparat ist nun nicht so beschaffen, daß er etwa beim Menschen gleich moralische Handlungen produziert. Bei wild aufwachsenden Individuen, wie man sie in einzelnen Fällen entdeckt, da lösen trotz des vorhandenen Mechanismus die Eindrücke der Natur nur jene einfachsten, dem Leibesbedürfnis entsprechenden, tierischen Bewegungen aus. Bei allen unter Gleichgearteten aufwachsenden Menschen komplizieren sich aber durch Verbindung von Schallreizen mit Gegenstandsreizen, d. h. durch die Sprache der einwirkenden Eindrücke derart, daß der Mensch in wenigen Jahren durch Erziehung, Unterricht, Erfahrung alle die Reize erregend auf sich wirken lassen kann, die auf die ganze organische Entwicklungsreihe eingewirkt haben, so daß er ontogenetisch den phylogenetischen Weg zurücklegt; eben darin liegt es, daß zwischen der Handlungsfähigkeit des fertigen Menschen gegenüber den Bewegungen des Säuglings ein so ungeheurer Unterschied hervortritt, während bei den Tieren dieser Unterschied klein ist. Beim Tier wirken auf das Junge schon fast all die Reize ein, die im Lauf des Lebens dasselbe umgeben, eine wesentliche Bereicherung an Bewegungen kann daher auch niht eintreten. Und selbstverständlich sind nun die größten Unterschiede der Bewegungskomplexe auch wieder beim sprechenden Menschen; der unzivilisierte Wilde, der Bauer vom Land, der gebildete Großstädter haben an Mannigfaltigkeit so erheblich verschiedene Reizwirkungen erlebt, daß die resultierenden Leistungen nicht minder verschieden sein müssen.

Wir haben bisher nur von den Kontraktionen gestreifter Muskeln gesprochen; es ist kein Zweifel, daß für die glatten dasselbe gilt, daß auch die Bewegungen des Herzens, des Darmes, der Ureteren, der Tuben, der Schleimhautflimmerhaare dem Organismus zweckmässig sind und daß auch sie durch Reize, freilich im Innern des Körpers entstehende, Reize auf nervösem Wege ausgelöst werden, gleichviel ob man an die unwahrscheinlichen Lokalganglien glaubt oder nicht.

Wir können daher unseren ganzen Abschnitt dahin zusammenfassen: Alle Muskelkontraktionen erfolgen aufgrund von Reizung des sensorisch-motorischen Apparates durch, außerhalb desselben befindliche Reizquellen, welche den Bedingungskomplex der Bewegung bilden und bei gegebenem Apparat notwendig die bestimmte Bewegung verursachen. Der Apparat selbst mußte in seiner phylogenetischen Differenzierung, da seine normalen Leistungen ausnahmslos der Erhaltung seines Trägers oder dessen Nachkommen dienen, gerade so, wie er ist, durch Selektion entstehen. Da also einerseits die Entstehung des Apparates, andererseits unter Voraussetzung des Apparates bei bestimmtem Bedingungskomplex die bestimmte Bewegung kausal verständlich ist, so ist der äußere materielle Vorgang jeglicher Bewegung, sei es Reflex oder Trieb- oder Willenshandlung nach den Prinzipien der physikalisch-chemischen Naturwissenschaft als notwendiges Geschehen durchaus erklärbar ohne Zuhilfenahme eines immateriellen Faktors.
LITERATUR - Hugo Münsterberg, Die Willenshandlung, Freiburg 1898