tb-1p-4R. EuckenCondillacR. EislerG. K. UphuesMFK
 
MAX FRISCHEISEN-KÖHLER
Die Realität der
sinnlichen Erscheinungen

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"Indem der neue Begriff von Wirklichkeit die Einsicht zum Ausdruck bringt, daß die empfundenen Qualitäten gewiß durch die Tätigkeit und den Bau unserer Sinne bestimmt und daher in erster Linie von ihnen in Abhängigkeit gedacht werden müssen, rückt die sinnliche Wahrnehmung in eine ganz andere Beleuchtung, ergibt sich eine Reform des natürlichen Weltbildes, die sehr wohl mit der durch die kopernikanische Kosmologie eingeleiteten Revolution unserer astronomischen Vorstellungen verglichen werden kann."

"Es hindert grundsätzlich nichts daran, den physiologischen Reiz schon im Organ derart formiert zu denken, daß er als Träger einer bestimmten Empfindungsqualität erachtet werden kann. Die zentralen Prozesse mögen dann hinsichtlich ihres psychologischen Wertes als die Grundlagen für die in jedem Akt der Wahrnehmung enthaltenen Vorgänge von Unterscheidung usw. fungieren; während die zu unterscheidenden Erregungen selbst im peripheren Organ vorgebildet sind."

"Die psychologische Analyse zerstört, wie bei den einfachen Sinneswahrnehmungen, den Schein der Einfachheit der Vorgänge und indem sie, entgegen dem natürlichen Abstraktions- und Hypostasierungs[einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp]verfahren einer vergangenen Psychologie die psychischen Prozesse in ihrem natürlichen Zusammenhang, in der ganzen Breite ihrer Beziehungen zu den verschiedenen Funktionen untersucht, hebt sie die künstliche Scheidung der einzelnen Seelenkräfte und ihrer Leistungen auf, befreit sie die Seele von jenem Getümmel selbständiger Wesenheiten, die als Vorstellungen, Wahrnehmungen einer Schar von Geistern gleich ihren Raum einnahmen."

3. Die Argumente der Physiologie
[Fortsetzung]

Nun liegt allerdings der Schwerpunkt des sogenannten Gesetzes von den spezifischen Sinnesenergien in physiologischer Hinsicht vor allem im Nachweis, daß - was auch immer am Ende die Energie sein möge - dieselbe doch eine spezifische Leistung, das heißt eine, im nervösen System oder genauer der Faser oder dem Gehirnrindenganglion allein verwirklichte Form des Naturwirkens sei. Auch wenn angenommen wird, daß den Empfindungen ein eindeutiger mechanischer oder chemischer Vorgang, ein Molekularprozeß zuzordnen sei, so besagt das Gesetz, daß das Nervenelement, welches als der Sitz der Energie anzusehen ist, nur einer einsinnigen, lediglich intensiv abstufbaren Funktion fähig ist, gleichgültig, auf welche Weise es auch erregt sei. Aber für den Zusammenhang unserer Betrachtung genügt es zunächst, daß jene eindeutige Zuordnung, welche wir als die allgemeine Bedingung erkannt haben, um die Qualitäten als Naturphänomen anzusprechen, zugegeben wird. Denn unter dieser Voraussetzung kann der Fortgang zur weiteren Annahme, daß nun auch über das engere Gebiet nervöser Prozesse hinaus ein Parallelverhältnis von materiellen Vorgängen und Qualitäten möglich und sogar wahrscheinlich sei, nicht abgewehrt werden. Wenn es auf keine andere Weise, weder durch psychologische noch erkenntnistheoretische Argumente nachzuweisen ist, daß die empfundenen Qualitäten, die Sinnesinhalte, ausschließlich psychisch sind und wenn andererseits die Reaktion der Nerven auf die Reize in derselben Weise nach mechanischen Gesetzen erfolgen, wie die Reaktion jedes Objektes der Wert, dann muß es nach den Regeln jedes Objektes der Welt, dann muß es nach den Regeln aller methodischen Forschung gestattet sein, auch in der unbelebten Natur, dort, wo sich ähnliche Vorgänge wie in den Nervenelementen abspielen, ähnliche Begleitphänomene qualitativer Natur zu supponieren. Wie weit die Ähnlichkeit der nervösen Prozesse, welche das Korrelat der Empfindungen sind, mit anderen Formen des Geschehens reicht, könnte nur nach abgeschlossener Untersuchung dessen, was unter der spezifischen Energie in jedem Fall zu verstehen sein, ermittelt und bestimmt werden; und da nun hierüber zurzeit gesicherte oder auch nur irgendwie durchgebildete Vorstellungen nicht vorliegen, so muß von einer näheren Erwägung der Folgerungen, die hier möglich und für die Auffassung der Natur unter einem philosophischen Gesichtspunkt wichtig sind, Abstand genommen werden. Aber mit demselben Recht, mit welchem überhaupt auf die Existenz von materiellen Ursachen unserer Empfindungen geschlossen wird, kann von einer spezifisch qualitativen Beschaffenheit derselben gesprochen werden.

Aber der Stand des physiologischen Wissens und vor allem der allgemeine Charakter, der die Tendenz der neueren physiologischen Theorie beherrscht, gestattet doch wenigsten in einer Richtung den hiermit eingeleiteten Gedankengang zu verfolgen und zu erläutern. Wenn die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien aufgrund der Tatsachen der sogenannten inadäquaten Reizung betont wird, daß die die Empfindungen unmittelbar bestimmenden materiellen Prozesse einsinnige Zustandsänderungen gewisser nervöser Gebilde sind, so darf hervorgehoben werden, daß diese Anschauungsweise doch nicht mehr eine unbestrittene Geltung beanspruchen darf. In dem Sinne, in dem MÜLLER das Gesetz gefaßt und ausgesprochen hat, kann es auch in Bezug auf diese Seite nicht richtig sein. Wäre in der Tat der objektive, der adäquate Reiz völlig gleichgültig für den in den Nerven gewirkten Effekt, würde kein Verhältnis von funktioneller Abhängigkeit der Empfindungen von den im normalen Verlauf sie auslösenden Reiz bestehen, dann müßten wir beim beständigen Auftreffen von Reizen aller Art auf die Endausbreitungen unserer Nerven in einem beständigen Tumult von Empfindungen, in einem Chaos von Eindrücken leben, das in keine Punkt Ordnung, Zusammenhang und Gesetzmäßigkeit erkennen ließe. (1) Eine Orientierung in der Welt, wie sie erfahrungsgemäß stattfindet, wäre dann unmöglich. Um diesen unhaltbaren aber aus der Annahme der eindeutigen Beantwortung beliebiger Reize durch die Nerven konsequent fließenden Folgerungen zu entgehen, mußte schon MÜLLER im Widerspruch zu seinen eigenen Ausführungen eine engere gesetzmäßige Beziehung zwischen dem physikalischen Reiz und der Empfindung zugeben. Die Verschiedenheit der Qualitäten ein und desselben Sinnes hängt nach ihm doch von der Verschiedenheit der Reize ab. (2) Und in der Tat hat die fortschreitende Forschung die Behauptung MÜLLERs, daß die Natur des Reizes ganz und gar indifferent gegen die im Nerven erwirkte Empfindung sei, einigermaßen eingeschränkt und erschüttert. Vor allem ist die Bedeutung der spezifischen Disposition (nach dem von NAGEL eingeführten Ausdruck) der Sinnesorgane, nach der sie für gewisse Reizarten besonders empfänglich sind, immer mehr gewürdigt und klargestellt worden. Schon der äußere Apparat des Sinnesorganes ist, wo ein solcher überhaupt ausgebildet ist, in hohem Maße den adäquaten Reizen angepaßt, sei es, daß er durch seinen Bau den Zutritt inadäquater Reize sehr erschwert und daher beim Auftreffen zusammengesetzter Reize auslesend fungiert, sei es, daß er geradezu eine Umwandlung der inadäquaten Reizen in adäquate herbeizuführen vermag. Durch diese mit den Ergebnissen der Entwicklungsgeschichte bestens übereinstimende Einsicht werden schon eine große Reihe von Tatsachen, die MÜLLER noch für die Annahme einer unmittelbaren Empfindungsauslösung durch inadäquate Reize geltend machte, zwanglos erklärt. Und hierzu kommt weiter, daß innerhalb der einzelnen Qualitätenkreise die Durchführung dieses Prinzipes, wie HELMHOLTZ sie inaugurierte, sich als nicht haltbar erwiesen hat. Die neueren Farbentheorien werden durchgehends dahin geführt, in denselben Nervenelementen verschiedene Sehsinnsubstanzen und demgemäß eine Verschiedenheit seiner Reaktionsweisen entsprechend den Unterschieden der Reizung anzunehmen und auch für den Gehörsinn ist eine Akkomodation der einzelnen Phasen mindestens in gewissen Grenzen an den Reiz erforderlich. Und endlich spricht die Entwicklungsgeschichte der Sinneswerkzeuge in der Tierreihe entschieden dafür, daß die spezifischen Reaktionsformen nicht als starre und unabänderliche Funktionen anzusehen sind und es möchte sich vielleicht unter diesem Gesichtspunkt doch empfehlen, mit WUNDT das sogenannte Gesetz der spezifischen Sinnesenergien allgemeiner als das Prinzip der Anpassung der Sinneselemente an die Reize zu formulieren. Natürlich haben sich die Sinnesempfindungen als solche nicht entwickelt, obschon in den eigentümlichen und weitgehenden Ähnlichkeitsverhältnissen, die etwa zwischen gewissen Geruchs- und Geschmacksempfindungen und auch Empfindungen des Hautsinns bestehen, immerhin als eine erfahrungsmäßige Analogie zu einer Differenzierung einzelner Qualitätenreihen aus einer gemeinschaftlichen Grundlage gelten können. Natürlich müssen, wenn die Erfahrung dazu zwingt, den Nervenelementen spezifische Leistungen im Sinn konstanter und einsinniger Funktionen zuzusprechen, gewisse strukturelle Unterschiede der verschiedenen ausgebildeten Elemente vorhanden sein. Aber das Wesentliche, wodurch sich diese Auffassung von der MÜLLERs unterscheidet, bleibt doch, daß die spezifischen materiellen Beschaffenheiten durch die Annahme ihrer allmählichen Heranbildung den allgemeinen Gesetzen des Naturzusammenhangs untergeordnet werden.

Jedoch kann auch die Notwendigkeit, überhaupt permanente strukturelle Unterschiede, wie sie bisher die Beobachtung noch nicht hat finden können, anzunehmen, in Frage gestellt werden. Der Tatsachenbeweis, auf den sich die Lehre MÜLLERs stützte, ist doch sehr lückenhaft. NAGEL kommt nach sorgsamer Erwägung der mannigfachen, hier in Betracht zu ziehenden, von MÜLLER nicht allseitig berücksichtigten Gesichtspunkten zu dem Ergebnis, daß das bisher bekannte Material eigentlich nur einen einzigen Fall einer wirklichen, klaren Bestätigung der inadäquaten Reizung enthalte; das ist die Erzeugung von Geschmacksempfindungen durch mechanische, chemische und elektrische Reizung des zentralen Stumpfes des Geschmacksnerven. (3) Man wird hinzufügen dürfen, daß auch in diesem Fall die Möglichkeit nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, daß es sich hier um eine wie immer näher zu bestimmende vermittelte Reizung durch Entstehung etwa von chemischen Zersetzungsprodukten handeln kann; analoge Fälle der Erzeugung derselben Zustandsänderung durch verschiedene Ursachen zeigt die Physik und Chemie zahlreich.

In Anbetracht dieser Sachlage möchte die Frage doch nicht abzuweisen sein, ob, nachdem einmal die besonderen Qualitäten als von den Reizen abhängig erkannt sind, auch noch die Modalität der Empfindungen, in der Terminologie von HELMHOLTZ als eine Funktion der Nervenelemente in dem Sinne anzusehen ist, daß nicht sowohl die Formen des materiellen Prozesses in ihm, als vielmehr die Tatsache, daß er in ihm verläuft, für die Bestimmung der Empfindungsklasse maßgebend ist. Nach einer Hypothese, die allerdings sehr problematisch ist, bleiben in den Akustikusfasern die Schwingungsformen der Tonwelle oder der Partialwellen, in die sie zerlegt ist, erhalten und können daselbst noch Erscheinungen der Addition und der Interferenz hervorrufen. Geben wir für einen Augenblick die Richtigkeit dieser Vorstellung zu, dann lautet die Frage: Ist das Auftreten und die Existenz von Tönen an jene Schwingungsformen im Akustikus als solche gebunden, so daß auch überall dort, wo sonst ähnliche periodische Änderungen vorkommen, ähnliche Tongeschehnisse anzunehmen sind oder ist der Umstand, daß jene Schwingungsformen im Hörnerv und gerade in diesem verlaufen, für den Empfindungsinhalt entscheidend? In dem Maße nun, als der Satz MÜLLERs von der Gleichgültigkeit der Reize für den Erfolg in der Empfindung eingeschränkt wird, schwindet die Notwendigkeit, wenn sie überhaupt eine ist, sich im letzteren Sinn zu entscheiden.

Ja, die Tendenz der physiologischen Forschung der Gegenwart, wie sie von HELMHOLTZ in seinen klassischen Arbeiten ausgesprochen ist, geht noch weiter. Man hat es HELMHOLTZ bisweilen zum Vorwurf gemacht, daß er sich in seinen Hypothesen und Theorien zu stark von physikalischen Gesichtspunkten habe leiten lassen und physikalische Bedingungen, welche zur Hervorbringung von gewissen Empfindungen genügen, unmittelbar in physiologische Bedingungen umgesetzt habe. In der Tat ist offensichtlich, daß sowohl die Dreifarbentheorie, als auch die Resonanzhypothese aus physikalischen Überlegungen und Erfahrungen erwachsen ist. Man kann nun die besonderen Hilfsannahmen von HELMHOLTZ fallen lassen. Aber die Ersatztheorien, die bisher hervorgetreten sind, weisen doch alle eine im Prinzip gleiche Richtung auf; sie streben danach, diejenigen materiellen Prozesse, welche als bestimmend für die Empfindungen angesehen werden müssen, nach Analogie von Vorgängen vorzustellen, die nach den bekannten Gesetzen der Physik und Chemie begriffen werden können. So sind vor allem die Hörtheorien, soweit sie auch im einzelnen den Boden der HELMHOLTZschen Vorstellungsweise verlassen, durch die Neigung, die physiologische Akustik als einen Sonderfall der physikalischen darzustellen, charakterisiert; denn das Kriterium, das ihren physikalischen Ursprung beweist, trifft auf sie alle zu: sie bedienen sich geradezu physikalischer Modelle, welche gestatten sollen, sich bei den Tonphänomenen beobachtbaren Erscheinungen unabhängig von jedem nervösen Organ hervorzubringen. Beim Lichtsinn liegen die Verhältnisse ein wenig ungünstiger; aber hier sind überhaupt allmählich tiefe Wandlungen in den Anschauungen eingetreten, welche noch nicht zu einem Abschluß gekommen sind. Die Analogie von Licht und Ton hat sich in der Entwicklung der theoretischen Physik als höchst fruchtbar erwiesen; aber auf physiologischem Gebiet scheinen erhebliche Unterschiede hervorzutreten. Man darf wohl den allgemeinen Satz wagen, daß das materielle Korrelat der Lichtempfindungen nicht von derselben Art wie die Zustandsänderungen, also nicht Äthervibrationen oder elektromagnetische Vorgänge sind, welche wir im physikalischen Sinn als Licht bezeichnen. (4) Das Abhängigkeitsverhältnis der Lichtempfindungen von den Ätherwellen ist ein sehr verwickeltes und so bricht sich immer mehr die Überzeugung Bahn, daß dasselbe überhaupt nicht direkt, sondern ein durch wahrscheinlich chemische Vorgänge, die alsdann als das eigentliche Korrelat zu betrachten sind, vermittelt ist. Nun ist - von der Darlegung der subjektiven Erscheinungen ganz abgesehen - unsere Kenntnis von der Lichteinwirkung auf so komplizierte und leicht zersetzliche Stoffe, wie es die supponierten Sehsinnsubstanzen sind, zu gering, um ein objektive Ableitung des im subjektiven Befund Gegebenen auch nur in der angenäherten Form zu geben, bis zu welcher trotz einiger Schwierigkeiten die Hörtheorien fortgeschritten sind. Aber der Weg, durch das Studium der photochemischen Wirkungen des Lichts Aufklärung zu gewinnen, scheint doch gangbar und durchaus nicht aussichtslos zu sein. (5)

Unter der Voraussetzung der Berechtigung dieser physikalischen Tendenz innerhalb der Physiologie kann nun gefolgert werden, daß sich die Bezugnahme auf eine besondere im nervösen System gründende Struktur zur Erklärung der Qualitäten wenigstens hinsichtlich der hier aufgeworfenen Frage erübrigt. Wenn es möglich ist, alle Eigentümlichkeiten im Auftreten von Qualitäten durch physikalische und chemische Vorgänge nach den allgemein geltenden Naturgesetzen darzustellen, dann besteht offenbar kein Zwang mehr, dem Ort der Verwirklichung dieser Vorgänge für den Empfindungseffekt eine eigene Bedeutung zuzusprechen. Nur insofern kämen dann die Sinnesapparate oder die nervösen Strukturen in Betracht, als sie die besonderen Bedingungen enthalten, welche die Modifikation oder die Transformation der Reizform in den Korrelatvorgang bestimmen. Aber eben darum wären wir berechtigt, von den mit diesen letzten Prozessen zugleich gegebenen Qualitäten aus auch auf eine qualitative Beschaffenheit jener Vorgänge zu schließen, von denen sie nur einen modifizierten Teil bilden.

Und für dieses Ergebnis der Sinnesphysiologie, daß die Entstehung der Empfindung unmittelbar durch die im peripheren Organ ausgelösten materiellen Prozesse bedingt sei, erweist sich auch, was bisher von der Bedeutung und Funktion der zentralen Partien des Nervensystems ermittelt ist, keineswegs so ungünstig, daß eine prinzipielle Revision desselben erforderlich scheint. Es ist ja eine Annahme, die sich noch weiter Verbreitung erfreut, daß der Entstehungsort der Empfindungen ausschließlich in den mehr zentralwärts gelegenen Teilen, sei es den subkortikalen Zentren oder den Gehirnrindenganglien gesucht werden müssen. Aber sieht man auch von dem einer metaphysischen Denkweise entstammenden Vorurteil ab, nach welchem die Empfindung oder das sie hervorrufende Korrelat nach irgendeinem Zentrum, dem "Ort des Bewußtseins" geführt werden müsse, da das Verhältnis der Seele zum Körper schließlich nur als ein räumliches vorgestellt werden kann, so können doch auch die zu ihren Gunsten sprechenden, aus der Erfahrung geschöpften Gründe nicht als vollgültige Beweise für sie betrachtet werden.

Zunächst besagen die Exstirpationsversuche [Beseitigungsversuche - wp] und die Erscheinungen der zentralen Läsionen [Verletzungen - wp], sowie die Untersuchungen der Elementarstrukturen der Zentralorgane, die alle gleichmäßig zu einer Lokalisation, wenigstens der elementaren Funktionen in den Zentren beim Säugetiergehirn führen, nicht notwendig, daß nun die Seh- und Hörsphäre etwa als der ausschließliche Sitz der Licht- und Tonempfindungen zu betrachten seien. Schon der Umstand, daß bei gewissen Wirbeltieren und in anderen Gruppen des Tierreiches, denen die Perzeption von Lichtempfindungen nicht wohl abzusprechen ist, die Verhältnisse ganz anders liegen, muß gegen solche weitgehende Folgerungen Bedenken erwecken. Und zudem scheint überhaupt die Bedeutung dieser Zentren wesentlich umfassender zu sein; hätten sie keine weiteren Aufgaben, als die in den peripheren Organen ausgelösten Erregungen einfach zu wiederholen, um sie nun erst mit dem Empfindungsäquivalent zu versehen, so wäre diese Verdoppelung ein Luxus in der Einrichtung unseres Körpers, für welchen jedes Analogon fehlt. Aber die Einsicht, daß diese Zentren doch zugleich die Gebiete sind, wo die mannigfachen Funktionen, die zum Vollzug eines wirklichen Wahrnehmungsvorganges, etwa des Sehaktes, erforderlich sind, zusammenwirken, die vollständige Berücksichtigung der funktionellen wie der anatomischen Verhältnisse macht doch immer mehr wahrscheinlich, daß in ihnen vor allem Regulierungseinrichtungen zu erblicken sind, durch welche der von der Peripherie eintreffende Reiz in das System erhaltungsgemäßer Leistungen des Gesamtorganismus eingeordnet wird. So wäre allerdings die unversehrte Tätigkeit dieser Zentren eine Vorbedingung für das Zustandekommen einer vollendeten Wahrnehmung, aber nichts hindert grundsätzlich den physiologischen Reiz schon im Organ derart formiert zu denken, daß er als Träger einer bestimmten Empfindungsqualität erachtet werden kann. Die zentralen Prozesse mögen dann hinsichtlich ihres psychologischen Wertes als die Grundlagen für die in jedem Akt der Wahrnehmung enthaltenen Vorgänge von Unterscheidung usw. fungieren; während die zu unterscheidenden Erregungen selbst im peripheren Organ vorgebildet sind. (6)

Gleichwohl ist es möglich, daß diese Auffassung, die man wohl als Identitätstheorie bezeichnen kann, (7) insofern die durch die äußeren Einwirkungen in den Endapparaten der Sinnesnerven hervorgebrachten objektiven Veränderungen identisch mit dem Inhalt der durch sie erzeugten Empfindungen sind, in einigen Punkten einer Berichtigung bedarf. So könnten in den Tatsachen der Empfindung selbst Eigentümlichkeiten enthalten sein, welche für einen mehr zentralen Ursprung derselben sprechen. In der Tat ist so die Vermutung ausgesprochen worden, daß etwa bloß die achromatische Lichtempfindung im Gegensatz zum eigentlichen Farbensinn auf zentralen Bedingungen beruhe, so daß in unserem Sehorgan gewissermaßen zwei Apparate hintereinander geschaltet sind und GOLDSCHEIDER und von KRIES haben neuerdings aufgrund der für das Erkennen der Abweichung von der Farblosigkeit bestehenden Schwelle die Annahme nahegelegt, daß vielleicht die Entstehung der farbigen Empfindung an interneuronale Umsetzungen gebunden ist. (8) Ein ähnliches für die Tonempfindungen anzunehmen, scheint bisher noch nicht erfoderlich, da über die einzige bisher in Betracht kommende Erscheinung, die Tatsache der Verschmelzung, die Akten noch nicht geschlossen sind. Sowohl eine rein psychologische Erklärung dieses Phänomens etwa im Sinne WUNDTs, (9) noch eine rein physiologische oder wie man eigentlich richtiger sagen sollte physikalisch-physiologische Erklärung im Sinne von EBBINGHAUS (10) kann noch nicht in jeder Hinsicht widerlegt gelten, ganz abgesehen davon, daß der Leistungswert anderer Hörtheorien, etwa der EWALDschen Hypothese, in diesem Zusammenhang noch nicht erprobt ist.

Aber es ist vor allem eine andere Gruppe von Erfahrungen, welche zu einer Ergänzung der Identitätsanschauung drängen und die noch immer für den zentralen Ursprung der Empfindungen angeführt werden. Hierher gehören die Erscheinungen, die man unter dem Namen der zentralen Erregung von Sinnesempfindungen zusammengefaßt hat, also die Halluzinationen, die Traumphänomene und die subjektiven und die gedächtnismäßig reproduzierten Empfindungen.

Nun unterliegt es aber keinem Zweifel, daß sich in der theoretischen Auffassung dieser Vorgänge eine erhebliche Umwandlung, wenn nicht schon vollzogen, so doch allmählich vorbereitet hat. Für DESCARTES und das 17. Jahrhundert waren der Traum und die Halluzination noch Schöpfungen einer eigenen Welt aus rein subjektiven Elementen, gleichsam aus dem Nichts. Die fortschreitende Untersuchung hat aber gelehrt, daß in allen diesen Fällen eine viel engere und zwar stets durch präsente Sinneseindrücke vermittelte Beziehung der subjektiven Gebilde zur Umgebung besteht. Die Übergänge der Halluzinationen zu den Jllusionen, den falsch gedeuteten aber peripher erregten Empfindungen, sind so fließend, daß man, streng genommen, dieselben nur als Grenzfälle bezeichnen kann, in denen der das Phantasma auslösende Sinneseindruck so schwach oder an Ausdehnung so beschränkt ist, daß er nicht bemerkt wird. (11) Zudem erhöht die gesteigerte Reizbarkeit in pathologischen Zuständen die Neigung zur phantastischen Umgestaltung minimaler Reize, die der normalen Wahrnehmung entgehen und andererseits scheinen in den auffallendsten der Halluzinationen noch ganz andere Motive, die etwa einem lastenden Gefühlsdruck entspringen, wirksam zu sein. Und ganz ähnlich verhält es sich mit dem Traumleben; auch hier hat ein methodisches Studium der Bedingungen, unter denen Träume entstehen, den überwiegenden Einfluß äußerer oder auch innerer Reizeinwirkungen, die in den peripheren Sinnesapparaten Erregungen hervorrufen, nachweisen können; RIEHL bezeichnet es daher geradezu als unvollkommenes, unzusammenhängendes Wachen. (12) Und so wenig wie die Traumvorstellungen dürfen die reproduzierten Vorstellungen im wachen Zustand als allein durch zentrale Vorgänge hervorgebracht und unabhängig von den uns beständig bestürmenden Eindrücken der Außenwelt bestehende Gebilde aufgefaßt werden. Es gibt, so faß WUNDT wohl in Übereinstimmung mit der Auffassung, die in der neueren Psychologie die Herrschaft errungen hat, zusammen, (13) es gibt "überall keine unveränderte Wiedererneuerung früherer, selbständiger Vorstellungen, sondern was wir Reproduktion nennen, ist nur eine Assimilationsform, bei der sich gewisse domnierende Elemente vergangener Vorstellungen mit den entsprechenden Elementen neuer Eindrücke verbinden." So zerstört die psychologische Analyse auch hier, wie bei den einfachen Sinneswahrnehmungen, den Schein der Einfachheit der Vorgänge und indem sie, entgegen dem natürlichen Abstraktions- und Hypostasierungsverfahren einer vergangenen Psychologie die psychischen Prozesse in ihrem natürlichen Zusammenhang, in der ganzen Breite ihrer Beziehungen zu den verschiedenen Funktionen untersucht, hebt sie die künstliche Scheidung der einzelnen Seelenkräfte und ihrer Leistungen auf, befreit sie die Seele von jenem Getümmel selbständiger Wesenheiten, die als Vorstellungen, Wahrnehmungen einer Schar von Geistern gleich ihren Raum einnahmen. Und zwar tritt immer mehr die Bedeutung unserer Sinnesorgane und deren Erzeugnisse, der Empfindungen, hervor, die, wie KANT bemerkt, zumeist unser Gemüt besetzt halten. In dieser Richtung liegt, was in der sensualistischen Auffassung des Seelenlebens berechtigt ist. Hier entsteht ihr vor allem die große Aufgabe einer Reform der Assoziationslehre, die noch immer in ihrer geschichtlich unhaltbaren Gestalt umgeht. Aber soweit, als der Umfang der rein zentralen Leistungen eingeschränkt wird, läßt die Berechtigung nach, einen ausschließlich zentralen Ursprung der Empfindungen anzunehmen. Nicht einmal die Fälle, in denen die Einwirkung äußerer Reizursachen mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, sind beweiskräftig. Daß Halluzinationen und Träume auch nach völliger Zerstörung des peripheren Sinnesapparates und Nerven auftreten, die Phantasmen enthalten, die durch jene unter normalen Bedingungen hervorgebracht wurden, lehrt allerdings, daß zentrale Vorgänge auch von Empfindungen begleitet sein können. Aber ganz abgesehen davon, daß über die Lebhaftigkeit der Empfindungen bei diesen Zuständen geschwächter Urteilskraft eine Kontrolle nicht leicht gesichert ist, stehen zwei Tatsachen dem entgegen, daß nun dieses Verhältnis als das normale und gar als das allein mögliche angesehen werde. Einmal sind periphere Erregungen, also etwa Umsetzung des physikalischen Lichtes in jene photochemischen Vorgänge, die die physiologische Bedingung der normalen Lichtempfindung bilden, mindestens zur ersten Entstehung dieser spezifischen Empfindung nötig; Blindgeborene haben erfahrungsgemäß keine optischen Phantasmen. Andererseits aber sprechen doch alle physiologischen Theorien, die bisher hervorgetreten sind, im allgemeinen dafür, daß diejenigen Prozesse, welche die Empfindungen bestimmen und daher als ihr mechanisches Korrelat angesehen werden dürfen, in den peripheren Organen ihren Ort haben. Soweit es gelingt, die Erscheinungen aus dieser Annahme heraus zu erklären, ist der Rückgang auf zentrale Prozesse methodisch entbehrlich. Das schließt natürlich nicht aus, daß die Erregungsvorgänge in den zentralen Apparaten durch den von den in den peripheren Organen stattfindenden Erregungsvorgängen ausgeübten Einfluß denselben allmählich ähnlich werden können; und hier ist auch der Weg eröffnet, jene Halluzinationen bei Erblindeten zu erklären. (14) Aber es scheint doch nicht, daß dieselben an und für sich hinreichend sind, den Ort der Empfindungen auf der Gehirnrinde zu lokalisieren.

Aus allen diesen Gründen kann wenigstens zur Zeit die Annahme noch immer als eine wahrscheinliche, wenn nicht die wahrscheinlichste, gelten, welche eine eindeutige Zuordnung der Empfindungsinhalte zu mechanischen Vorgängen und zwar Vorgängen, die sich als Modifikationen der objektiven Reize darstellen, für durchführbar hält. In der Richtung dieser Auffassung bewegt sich durchgängig die neuere Sinnesphysiologie; so berücksichtigt sie gleichmäßig die Fälle anormalen Verhaltens, von denen die MÜLLERsche Auffassung ihren Ausgang nahm, ohne doch den natürlichen Zusammenhang, in dem das sich orientierende Individuum mit seiner Umwelt verbunden ist, aufzulösen. Und eben darin trifft sie mit der Tendenz zusammen, welche zugunsten einer realistischen Naturbetrachtung gegen die Alleinherrschaft des mechanischen Natursystems erhoben hat.

Der Begriff von Wirklichkeit, der von der Grundlage dieser Betrachtungen abgeleitet werden kann, ist schon oben annähernd umschrieben worden. Allerdings entfernt er sich beträchtlich von dem, was als Inhalt der sogenannten naiven Weltauffassung angesehen wird. Indem er die Einsicht zum Ausdruck bringt, daß die empfundenen Qualitäten gewiß durch die Tätigkeit und den Bau unserer Sinne bestimmt und daher in erster Linie von ihnen in Abhängigkeit gedacht werden müssen, rückt die sinnliche Wahrnehmung in eine ganz andere Beleuchtung, ergibt sich eine Reform des natürliche Weltbildes, die sehr wohl mit der durch die kopernikanische Kosmologie eingeleiteten Revolution unserer astronomischen Vorstellungen verglichen werden kann. Aber wie die neue Lehre von unserem Planetensystem letzthin nur eine Erkenntnis der wahren Ordnung der Wirklichkeit ist, deren Elemente als solche unverändert in ihrem Bestand erhalten bleiben, so scheint auch die Kritik der sinnlichen Wahrnehmung nur den Wert der Auflösung eines perspektivischen Scheines beanspruchen zu dürfen. Jedenfalls reichen die der Physik und der Physiologie entnommenen Gründe nicht hin, um die Subjektivität der Qualitäten in einem anderen Sinne wahrscheinlich zu machen, als sie im Theorem von der Relativität ausgedrückt ist. Wird dies aber zugestanden, so folgt, daß den Qualitäten derselbe Realitätswert wie den Dingen unserer Erfahrungswelt zuzuschreiben ist. Welches Vorzeichen man dem Ganzen gibt, mag man es als metaphysische Entität oder als bloßen Bewußtseinsinhalt bestimmen, mag man die mechanische Naturanschauung für die abschließende Form unserer Naturerkenntnis erachten oder nicht, ist für die Annahme, daß die Inhalte der sinnlichen Empfindungen "empirisch-real" und so objektiv wie der Raum und die Dinge in ihm sind, ohne weitere Folgerung: sie ist mit allen diesen Auffassungen verträglich. Nur ein Spiritualismus im Sinne von BERKELEYs erster Epoche steht zu ihr in einem unversöhnlichen Gegensatz; aber für die Begründung dieses Standpunktes ist eben die Lehre, welche hier abgelehnt wird, Voraussetzung.
LITERATUR - Max Frischeisen-Köhler, Die Realität der sinnlichen Erscheinungen, Annalen der Naturphilosophie, Bd. 6, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) MÜLLER, Handbuch der Physiologie II, Seite 81f
    2) PURKINJE, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes, 1826, Seite 50
    3) NAGEL, Handbuch der Physiologie, III, Seite 8
    4) Damit fällt das von WUNDT, Philosophische Studien XII, Seite 348, angezogene Argument von der Transformierbarkeit des "objektiven" Lichtes.
    5) WILHELM WUNDT, Physiologische Psychologie I, 5. Auflage, Seite 458f
    6) WILHELM WUNDT, Physiologische Psychologie III, 5. Auflage, Seite 246
    7) BOLL, Archiv für Physiologie I, 1877, Seite 34f
    8) NAGEL, Handbuch der Physiologie III, Seite 272
    9) WILHELM WUNDT, Physiologische Psychologie III, 5. Auflage, Seite 526
    10) EBBINGHAUS, Psychologie I, Seite 326f
    11) WILHELM WUNDT, Physiologische Psychologie III, 5. Auflage, Seite 647
    12) ALOIS RIEHL, Philosophischer Kritizismus II, Seite 131
    13) RIEHL, ebenda Seite 309
    14) RIEHL, Philosophischer Kritizismus I, Seite 305