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EDMUND HUSSERL
Erfahrung und Urteil
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"Das S ist immerfort das S ein und derselben Auffassung, immerfort als dasselbe in der Einheit eines gegenständlichen Sinnes bewußt, aber in einer beständigen Wandlung des Auffassens, in einem immer neuen Verhältnis von Leere und Fülle der Auffassung, die im Prozeß fortschreitet als Auslegung des S, als wie es selbst ist, dieses selbst explizierend. Dabei geht die Klärung immer zugleich als Näherbestimmung vonstatten oder besser als Verdeutlichung, da hier das Wort Bestimmen einen neuen Sinn hat."

"Es ergibt sich eine Unterscheidung von Substrat und Bestimmung in einem weiteren Sinn. Ungeachtet der Fundierung solcher Gegenständlichkeiten in einem schlicht wahrnehmbaren, schlicht erfahrbarem Seienden - dem körperlichen Sein - sind diese ursprüngliche Substrate, obgleich hier mit Rücksicht auf ihre Fundierung die Rede von einer Absolutheit nicht angebracht, bzw. nur in einem laxeren Sinn statthaft ist."


2. Kapitel
Schlichte Erfassung und Explikation
[Fortsetzung]

§ 25. Der habituelle Niederschlag der Explikation.
Das Sich-einprägen.

Damit ist der Prozeß der Explikation beschrieben, wie er sich in ursprünglicher Anschaulichkeit vollzieht. Diese Ursprünglichkeit besagt freilich niemals schlechthin ein erstmaliges Erfassen und Explizieren eines gänzlich unbekannten Gegenstandes; der in ursprünglicher Anschaulichkeit sich vollziehende Prozeß ist schon immer durchsetzt mit Antizipation, immer ist schon mehr apperzeptiv mitgemeint als wirklich anschaulich zur Gegebenheit kommt - eben deshalb, weil jeder Gegenstand nichts Isoliertes für sich ist, sondern immer schon Gegenstand in seinem Horizont einer typischen Vertrautheit und Vorbekanntheit. Aber dieser Horizont ist ständig in Bewegung; mit jedem neuen Schritt anschaulicher Erfassung erfolgen neue Einzeichnungen in ihn, Näherbestimmung und Korrektur des Antizipierten. Keine Erfassung ist ewas bloß Momentanes und Vorübergehendes. Freilich als dieses Erlebnis der Substraterfassung und der Explikaterfassung hat sie wie jedes Erlebnis ihren Modus des ursprünglichen Auftretens im Jetzt, an den sich ihr allmähliches Herabsinken in die entsprechenden nichtursprünglichen Modi anschließt, das retentionale Abklingen und schließlich das Versinken in die gänzlich leere unlebendinge Vergangenheit. Dieses Erlebnis selbst mit dem in ihm konstituierten Gegenständlichen mag "vergessen" werden; damit ist es aber keineswegs spurlos verschwunden, sondern bloß latent geworden. Es ist nach dem in ihm Konstituierten ein habitueller Besitz, jederzeit bereit zu erneuter aktueller assoziativer Weckung. Mit jedem Schritt der Explikation bildet sich an dem zuvor unbestimmten, d. h. vage horizontmäßig vorausbekannten, antizipatorisch bestimmten Gegenstand der Erfassung ein Niederschlag habitueller Kenntnisse. Nachdem der Prozeß der Explikation im Modus der Ursprünglicheit abgelaufen ist, ist der Gegenstand, auch wenn er in die Passivität versunken ist, bleibend konstituiert als der durch die betreffenden Bestimmungen bestimmte. Er hat die in den Akten der Explikation ursprünglich konstituierten Sinnesgestalten in sich aufgenommen als habituelles Wissen. So hat jedes hineingehende Betrachten eines Gegenstandes an ihm ein bleibendes Ergebnis. Die vollzogene subjektive Leistung verbleibt dem Gegenstand als intentionalem habituell. Von nun an sieht das betreffende Subjekt der Gegenstand, auch wenn es nach Unterbrechungen der Erfahrungsgegebenheit und der Gegebenheit überhaupt auf ihn zurückkommt, als bekannten Gegenstand dieser durch die explizierende Kenntnisnahme ihm zuerteilten Bestimmungen an. Das heißt, die neue Kenntnisnahme, selbst wenn sie sich nicht nur in der Erinnerung vollzieht, sondern den Gegenstand wieder originär, also wahrnehmungsmäßig gegeben hat, hat einen wesentlich anderen Sinnesgehalt als die früheren Wahrnehmungen. Der Gegenstand ist mit einem neuen Sinnesgehalt vorgegeben, er ist bewußt mit dem, freilich leeren, Horizont erworbener Kenntnisse; der Niederschlag der aktiven Sinngebung, der früheren Zuerteilung einer Bestimmung, ist jetzt Bestandsstück des Auffassungssinns der Wahrnehmung, selbst wenn nicht wirklich neu expliziert wird. Kommt es aber zu einer erneuten Explikation, so hat sie den Charakter einer Wiederholung und Reaktivierung des schon erwobenen "Wissens".

Dieses Habituellwerden des Resultates einer ursprünglich anschaulichen Erfassung vollzieht sich nach einer allgemeinen Gesetzlichkeit des Bewußtseinslebens, sozusagen ohne unser Zutun, also auch dort, wo das Interesse am explizierten Gegenstand einmalig und vorübergehend ist, wo es nach einer einmaligen explizierenden Betrachtung des Gegenstandes befriedigt ist und er selbst vielleicht ganz "vergessen" wird. Es kann aber auch diese Stiftung einer Habitualität selbst willentlich erstrebt sein. Wir sprechen dann davon, daß das Interesse auf ein Sichmerken, Sichaneignen, Einprägen des Wahrnehmungsbildes gerichtet ist. Ein solches Interesse wird häufig zu einem wiederholten Durchlaufen der explikativen Synthesis Anlaß geben, zunächst etwa einem mehrmaligen Betrachten des Gegenstandes in seiner originalen Gegenwart, dann auch auch eventuell zu einem Wiederholen des Ganges der Explikation in der frischen Erinnerung - ein Fall, auf den wir noch zurückkommen werden (vgl. § 27). Die in der Explikation sich abhebenden Eigenheiten werden zu Merkmalen, und der Gegenstand als Ganzes wird erfaßt und behalten als Einheit von Merkmalen. Das Interesse ist dabei nicht gleichmäßig auf alle sich abhebenden Eigenheiten verteilt, sondern der Blick wird auf besonders einprägsame Beschaffenheiten gelenkt, durch die sich der Gegenstand gerade dieser bestimmten Typik oder dieser individuelle Gegenstand von anderen Gegenständen gleichen oder ähnlichen Typus unterscheidet. Es fallen z. B. an einem Menschen ein Buckel, schielende Augen usw. auf, die wir uns als besondere Merkmale einprägen, um ihn dann unter einer Gruppe von anderen wiedererkennen zu können. Ist das Interesse also nicht befriedigt in einer bloßen flüchtigen Kenntnisnahe, sondern ist es gerichtet auf ein Sicheinprägen des Wahrnehmungsbildes, so wird es nach einem ersten explizierenden Durchlaufen der Eigenheiten in der Wiederholung aus der Gesamtheit der Eigenheiten die charakteristischen herausheben und auf sie vor allem den Blick lenken. Zumeist wird das freilich bereits Hand in Hand gehen mit einer Prädikation - ein Vorgang, der erst später analysiert werden soll. Aber auch ohne jede Prädikation, in der bloßen explizierenden Betrachtung ist ein solches Sicheinprägen, eine Tendenz des Interesses auf ein Sichmerken möglich. Die Betrachtung wird zur eindringlichen Betrachtung, in der das Wahrnehmungsinteresse sich in der Vielheit der beim Explizieren hervortretenden Washeiten auf die besonders auffälligen und charakteristischen richtet.


§ 26. Die Explikation als Verdeutlichung des horizontmäßig Antizipierten und ihr Unterschied gegenüber der analytischen Verdeutlichung.

Daß eine solche Stiftung von Habitualitäten mit jedem Schritt der Explikation, des Kennenlernens eines Gegenstandes in seinen Eigenheiten, nicht bloß etwas ist, was diesen selbst betrifft, sondern daß damit sogleich eine Typik vorgezeichnet wird, aufgrund deren durch eine apperzeptive Übertragung auch anderer Gegenstände ähnlicher Art von vornherein als Gegenstände dieses Typus in einer vorgängigen Vertrautheit erscheinen, horizontmäßig antizipiert sind, wurde bereits einleitend erwähnt. Mit jedem Schritt ursprünglicher Erfassung und Explikation eines Seienden wandelt sich daher der Horizont des Erfahrbaren im Ganzen; neue typische Bestimmtheiten und Vertrautheiten werden gestiftet und geben den apperzeptiven Erwartungen, die sich an die Gegebenheit neuer Gegenstände knüpfen, ihre Richtung und Vorzeichnung. Im Hinblick darauf kann jede Explikation, wie sie sich in ursprünglicher Anschaulichkeit als Explikation eines neu erfahrbaren Gegenstandes vollzieht, auch charakterisiert werden als Verdeutlichung und Klärung, als Näherbestimmung des in der Horizontform unbestimmten, darin Implizierten. Jede wirkliche Explikation hat den intentionalen Charakter einer die Horizontintention (als Leerantizipation) erfüllenden, verwirklichend in bestimmten Schritten, wodurch aus den gewissen unbekannten Bestimmungen die entsprechenden bestimmten und von nun an bekannten werden - bekannt in der Weise der Verdeutlichung des im Horizont unbestimmt Implizierten. Diese Implikation hat eben vermöge der Gegenstandsauffassung (und auch der sonstigen Auffassung nach Region, nach Art, Typus und dgl.) einen besonderen Sinn erhalten, den eines vorweg schon, aber "unabgegrenzt", "vage", "verworren" darin Beschlossenen; das herausgestellte Explikat ist das Klärende für eine entsprechende Verworrenheit. In seiner Deckung mit dem aufgefaßten (und zugleich in seinem Typus aufgefaßten) Gegenstand ist es umgeben von einem Resthorizont der Verworrenheit als dem nun weiter zu klärenden. Klarheit, obgleich immer erfüllend, Sich-selbst-zeigen dessen, was schon leer vorgezeichnet, vorgemeint war, ist niemals pure und bloße Selbstgebung, als ob die Vorzeichnung jemals so weit ginge, daß der vorgezeichnete Sinn in absoluter Bestimmtheit schon vorgemeint wäre und nur in die anschauliche Klarheit eines "es selbst" übergeht. Auch wo der Gegenstand "vollkommen bekannt" ist, entspricht diese Vollkommenheit nicht ihrer Idee. Das leer Vorgemeinte hat seine "vage Allgemeinheit", seine offene Unbestimmtheit, die sich nur in der Gestalt der Näherbestimmung erfüllt. Es ist also immer statt eines voll bestimmten Sinns ein leerer Sinnesrahmen, der aber nicht etwa selbst als fester Sinn gefaßt ist. Seine je nachdem sehr verschiedene Weite (Gegenstand überhaupt, Raumding überhaupt, Mensch überhaupt usw., je nachdem wiei der Gegenstand antizipierend aufgefaßt ist) enthüllt sich erst in den Erfüllungen und kann erst nachher in eigenen, hier nicht zu besprechenden intentionalen Aktionen umgrenzt und in Begriffe gefaßt werden. So leistet die schlichte Erfüllung mit der Klärung zugleich eines Sinnesbereicherung. Wenn nun der mit einem Horizont aufgefaßte Gegenstand zur Explikation kommt, so klärt sich dieser Horizont in jedem Schritt durch die erfüllende Identifizierung, aber nur "partiell".

Deutlicher gesprochen: die ursprünglich völlig vage, ungeschiedene Einheit des Horizontes besetzt sich durch diese Erfüllung mit dem ihn klärenden, jeweils zutage getretenen Explikat, einem freilich nur partiell klärenden, insofern als ein ungeklärter Resthorizont verbleibt. Das nunmehr als p bestimmte S hat ja abermals einen, obgleich geänderten Horizont, der vermöge der kontinuierlichen Selbstdeckung des S (des mit einem vagen Horizontsinn ausgestatteten) dasjenige vom früheren, völlig unbestimmten Horizont ist, was durch das p noch nicht geklärt ist. So ist die fortschreitende Explikation fortschreitend erfüllende Klärung des horizontmäßig vage Gemeinten. Sie stellt sich zwar noch immer dar als ein fortschreitendes Entfalten von nunmehr abgesetzten Sondermomenten des S, als Bestimmung, in denen es in Sonderheit ist; andererseits aber und zugleich als erfüllendes Klären der immer neuen Leerhorizonte, die immer neue Restgestalten des ursprünglichen Horizontes sind. Das S ist immerfort das S ein und derselben "Auffassung", immerfort als dasselbe in der Einheit eines gegenständlichen Sinnes bewußt, aber in einer beständigen Wandlung des Auffassens, in einem immer neuen Verhältnis von Leere und Fülle der Auffassung, die im Prozeß fortschreitet als Auslegung des S, als wie es selbst ist, dieses selbst explizierend. Dabei geht die Klärung immer zugleich als "Näherbestimmung" vonstatten oder besser als Verdeutlichung, da hier das Wort "Bestimmen" einen neuen Sinn hat. Erst die wirkliche Klärung zeigt in umgrenzter Deutlichkeit, was vorgemeint war.

Wenn in dieser Weise alle Explikation als Verdeutlichung angesehen werden kann, so ist daran zu erinnern, daß die gewöhnliche Rede von "Verdeutlichung" terminologisch einen anderen Sinn hat. Nämlich diese "Verdeutlichung" der Explikation ist nicht zu verwechseln mit der im eigentlichen Sinne so genannten, der analytischen Verdeutlichung, die allerdings auch eine Art Explikation darstellt, aber eine Explikation im Leerbewußtsein, während wir uns bei unserer Betrachtung immer im Bereich der Anschaulichkeit bewegten. Von einer analytischen Verdeutlichung sprechen wir bei jedem Urteil, jeder Urteilsmeinung als prädikativer. Ein urteilendes Meinen kann verworren sein und es kann nach dem in ihm Gemeinten "verdeutlicht" werden; es wird damit zu einem expliziten, einem "eigentlichen" Urteilen. Diese Verdeutlichung ist durchaus innerhalb des Leerbewußtseins möglich. Das heißt, es mut das im Urteil Gemeinte nicht anschaulich gegeben sein, es genügt, bloß die Urteilsmeinung als solche deutlich zu vollziehen. Das liegt daran, daß das prädikative Urteilen einen fundierte Intentionalität hat. Sie wird später eingehender zu untersuchen sein. Hier müssen wir uns mit diesen Andeutungen begnügen, da uns vorläufig als begrenzender Rahmen noch die vorprädikative Sphäre vorgezeichnet bleibt.

Es ist jedoch noch zu bemerken, daß diese analytische Verdeutlichung als eine solche im Leerbewußtsein nur ein Sonderfall einer Modifikation ist, die jedes Leerbewußtsein überhaupt erfahren kann.


§ 27. Ursprüngliche und nicht-ursprüngliche Vollzugsweisen der Explikation. Explikation in der Antizipation und in der Erinnerung.

Berücksichtigt man einerseits die ständige Verflechtung des Explikationsprozesses in seiner Ursprünglichkeit mit Antizipationen und andererseits die mit jedem Schritt der Explikation erfolgende Stiftung von Habitualitäten, so lassen sich folgende mögliche Vollzugsweisen der Explikation unterscheiden:

1. Der Ausgangsfall ist natürlich der der ursprünglichen Explikation: ein Gegenstand wird ganz neu bestimmt. Immer ist er aber, wie wir sahen, im Voraus apperzeptiv so und so aufgefaßt, als Gegenstand dieses oder jenes Typus. Der Auffassungssinn impliziert von vorherein Bestimmungen, die an diesem Gegenstand noch nicht erfahren worden sind, die aber gleichwohl einen bekannten Typus haben, sofern sie auf frühere analoge Erfahrungen an anderen Gegenständen zurückweisen.

Danach ergeben sich verschiedene Weisen synthetischer Deckung zwischen dem Antizpierten und dem nun in Anschaulichkeit selbstgegebenen Explikat, je nachdem ob es sich einfach um eine Bestätigungf des ganz bestimmt Erwarteten handelt oder um die Enttäuschung einer bestimmten antizipatorischen Vorzeichnung im "nicht so, sondern anders" oder ob - wie das bei noch ganz unbekannten Gegenständen der Fall ist - die Antzipation so unbestimmt ist, daß die Erwartungen nur auf ein kommendes Neues, auf "irgendeine Beschaffenheit" usw. gerichtet sind. Dann ist im eigentlichen Sinn weder für eine Bestätigung noch für eine Enttäuschung Raum. Die mit der Selbstgebung des Gegenstandes eintretende Erfüllung ist Bestätigung nur insofern, als eben überhaupt etwas und nicht nichts gegeben wird.

2. Es kann aber auch ein Gegenstand, bevor er noch selbst gegeben ist, antizipatorisch expliziert werden aufgrund einer anschaulichen Ausmalung in der Phantasie, wobei immer Erinnerungen an gegeben gewesene Gegenstände desselben oder verwandten Typus mit ihre Rolle spielen. Dieser Fall tritt besonders häufig ein, wenn von der bloßen analytischen Verdeutlichung eines prädikativen Urteils übergegangen wird zu seiner veranschaulichenden "Klärung". Als anschaulich gebende Klärungen können aber auch ebensogut alle anderen hier aufgezählten Modi der Explikation fungieren.

3. Ein Neues wiederum ist das Zurückkommen auf einen schon explizierten Gegenstand, und daran anschließend eventuell das Auseinanderlegen des schon fräher bestimmten Gegenstandes in seine Bestimmungen. Das impliziert Bekannte wird nochmals zu einer expliziten, als zu wieder aktualisierter Erkenntnis gebracht. Es sind bei einem solchen Wieder-zurückkommen mehrere mögliche Modifikationen zu unterscheiden:

a) Der schon explizierte Gegenstand wird erneut expliziert, so wie er erinnerungsmäßig vor uns steht, und dabei gleichzeitig, wie das bei Gegenständen der äußeren Erfahrung möglich ist, wieder wahrgenommen. Die Explikation in der Erinnerung tritt in eine synthetische Deckung mit den ins Einzelne gehenden Schritten der erneuten Wahrnehmung und bestätigt sich in ihr. Wir überzeugen uns von Neuem, wie der Gegenstand ist und unverändert blieb, wobei wir neue und ursprüngliche Kenntnisnahmen haben und zugleich Wiedererinnerungen an die alten.

b) Es kann aber auch auf einen früher explizierten Gegenstand in der Erinnerung zurückgekommen werden, ohne daß er gleichzeitig wieder wahrnehmungsmäßig gegeben ist. Das kann entweder so geschehen:
    daß man in einem Griff in der Erinnerung auf den schon explizierten Gegenstand zurückkommt, in einer relativ unklaren Erinnerung, wobei der Gegenstand in ihr doch anders dasteht als ein erinnerter, der früher noch niemals expliziert wurde; denn er hat bereits seine erinnerungsmäßigen Horizonte für ein mögliches erneutes Eingehen in schon bekannte Bestimmungen;

    oder die Schritte der früheren Explikation werden in der Erinnerung erneut artikuliert nachvollzogen, und all das, das früher wahrnehmungsmäßig gegeben war, zu erinnerungsmäßig verbildlichten, erneuten anschaulichen Gegebenheit gebracht. Eine solche Explikation in der Erinnerung hat natürlich genau die gleiche Struktur hinsichtlich des Übergangs vom Substrat zur den Bestimmungen, des verschiedenen Im-Griff-behaltens usw. wie eine Explikation in der Wahrnehmung usw. wie eine Explikation in der Wahrnehmung; nur daß es sich dann eben um ein nichtimpressionales Im-Griff-behalten handelt.
4. Wenn wir von Explikation in der Erinnerung sprechen, kann darunter aber noch etwas anderes verstanden sein. Ein Gegenstand kann originaliter wahrnehmungsmäßig in einem Griff gegeben gewesen sein, und es kann erst zur Explikation übergegangen werden, während er schon nicht mehr selbst gegeben ist. Wir werfen etwa im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick durch ein Gartentor und machen uns erst nachher, wenn wir schon vorbei sind, klar, "was wir da eigentlich alles gesehen haben". Es ist eine Explikation in der Erinnerung, aufgrunddessen, was zuvor in einem schlichten Erfassen originaliter gegeben wurde. Dieses wird nun ursprünglich expliziert, obgleich nicht in der Selbstgebung.

Eine weitere Modifikation dieses Falles ist die, daß der Gegenstand während eines Teils der fortschreitenden Explikation originaliter wahrnehmungsmäßig gegeben bleibt, daß dann aber seine wahrnehmungsmäßige Gegebenheit aufhört, gleichwohl aber die Explikation in der Erinnerung noch weiterschreitet. Es ist eine Kombination sozusagen dieses letzteren Falles mit dem unter 1. betrachteten.

In allen diesen Fällen, wo es sich um eine Explikation in der Erinnerung handelt, ist noch in Betracht zu ziehen, daß die Horizontintentionen, die aufgrund der typischen Bekanntheit jedes Gegenstandes auch schon bei seinem ersten Gegebenwerden immer im Voraus geweckt werden, und die zum Wesen jeder Explikation gehören, hier zu besonderen Möglichkeiten von Täuschungen Anlaß geben, indem für Erinnerung an wirklich originär gegeben Gewesenes gehalten wird, was in Wirklichkeit bloß antizipierende Ausmalung aufgrund dieser typischen Vertrautheit ist.


§ 28. Die mehrschichtige Explikation und die Relativierung des Unterschiedes von Substrat und Bestimmung.

Die bisherige Analyse operierte mit einer schematischen Vereinfachung des Prozesses der Explikation, sofern nur in einer Linie unverzweigt fortschreitende Explikationen in Betracht gezogen wurden. Es ist nun an der Zeit, diese Vereinfachung aufzuheben und zu den komplizierteren Formen aufzusteigen, nämlich zu den sich verzweigenden Explikationen, wobei die Begriffe von Substrat und Bestimmung und der Sinn dieses Unterschiedes eine weitere Erklärung erfahren werden.

Die Verzweigung der Explikation erwächst dadurch, daß im Ausgang von einem Substrat nicht nur gleichsam auf direktem Weg dessen Bestimmungen heraustreten, sondern daß diese selbst wieder als Substrate von weiteren Explikationen fungieren. Das kann in zweierlei Weise geschehen:

1. Das Ich läßt sein ursprüngliches Substrat fahren, anstatt es weiter im Griff zu behalten, während es das, was sich soeben als Explikat charakterisierte, in aktiver Erfassung hält. Lenkt z. B. ein Blumenbeet unserer Aufmerksamkeit auf sich und wird zum Gegenstand der Betrachtung, so mag es sein, daß eine der bei der Explikatioin erfaßten Blumen so sehr das Interesse auf sich zieht, daß wir sie ausschließlich zum Thema machen, während wir das Beet ganz aus dem Interesse entlassen. Das Explikat, hier die Blume, verliert damit seinen eigentümlichen Charakter als Explikat, es wird verselbständigt zu einem Gegenstand für sich, das ist zu einem eigenen Substrat für eine fortschreitende Kenntnisnahme, für die Herausstellung seiner Eigenheiten. Das frühere S sinkt dann in den passiven Hintergrund zurück, solange es ein abgehobenes bleibt, auch weiter affizierend. Es verhält sich dann ähnlich wie im früheren Kontrastfall des Durchlaufens einer gegenständlich nicht thematischen Mehrheit, die wir uns ja auch vorher als gegenständlich erfaßte hätten denken können. Das in ein neues Substrat gewandelte Explikat steht noch in Deckung mit dem früheren Substrat, das aber jetzt die passive Gestalt einer Hintergrunderscheinung hat. Die frühere aktive Deckungssynthesis wandelt sich demgemäß, sie verliert ihren Grundcharakter einer Synthesis aus Quellen der Aktivität.

2. Der für uns wesentlich interessantere Fall ist aber der, daß das ursprüngliche Substrat bei dieser Verselbständigung seiner Bestimmung doch weiter ein Gegenstand des Hauptinteresses bleibt, und alle eigene, auf die herausgetretene Bestimmung weiter eingehende Explikation indirekt nur seiner Bezeichnung dient: wie wenn beim Übergang zur einzelnen Blume und ihrer Explikation das Beet fortwährend im Hauptinteresse verbleibt. Diese Verzweigung kann sich wiederholen, wenn besondere Formen des Blumenkelches, des Stempels usw. herausgehoben und ihrerseits expliziert werden; und so für jede neue Stelle des Beetes.

Die thematisierende Aktivität, di, in den früher beschriebenen Wandlungen kontinuierlich fortgehend, das S in einem besonderen Sinn gegenständlich, zum Thema einer fortschreitenden Kenntnisnahme macht, wirkt sich in der Aktivität der Einzelerfassungen aus. Diese sind in der Deckung derjenigen des S ein- und untergeordnet. Die Erfassung des S als in einem spezifischen Sinn thematische hat in ihrem Gegenstand das Ziel, er ist der Gegenstand schlechthin, in Geltung "an und für sich". Nich so die Explikate. Sie haben keine Eigengeltung, sondern nur eine relative, als etwas, worin sich das S bestimmt, oder besser: worin es in Sonderheit ist und, subjektiv gesprochen, sich leibhaftig zeigt, in dessen Wahrnehmen das S erfahren wird. Dieser Mangel an Selbständigkeit der Geltung gehört zum Wesen des Explikates. Wenn nun das Explikat selbst wieder expliziert wird, während doch dasselbe S das durchgängige Thema bleibt, so wird es zwar selbst in gewisser Wesie zum Thema und erhält die Substratform in Bezug auf seine Explikate. Aber seine Eigengeltung etwa als S1 ist dann eine relative. Es verliert nicht die Form des Explikates von S, und seine eigenen Explikate behalten die Form von mittelbaren Explikaten zweiter Stufe. Das ist nur möglich durch eine Übereinanderlagerung des im Griff Behaltenen beim Fortschreiten der Explikation. Bleibt bei der sozusagen einschichtigen Explikation das S im Übergang zu den α, β ... als ständig sich bereicherndes im Griff, während die Explikate nicht für sich behalten werden, sondern nur eben als Bereicherung des S, so wird beim Übergang von α zu dessen Explikat π nicht nur das S als ein um α bereichertes behalten, sondern darüber gelagert auch noch das α. Es wird aber nicht behalten wie ein Substrat für sich, sondern in synthetischer Deckung mit dem S als etwas an ihm. Dieses Behalten geschieht also in anderer Weise, wie beim Fortschreiten der direkten Explikation des S, beim Übergang von α zu β, wobei α überhaupt nicht für sich behalten wird, sondern nur das um α bereicherte S. Ist jener erste Schritt doppelschichtiger Explikation vollzogen und das π konstituiert, so kann die Explikation in verschiedener Richtung fortgehen.
    a) Sie kann übergehen zu einem weiteren direkten Explikat des S, zu β. Dann ist nur mehr das S im Griff zu behalten als doppelschichtig bereichert um απ und indirekt um π. Aber nicht mehr ist für sich behalten das α.

    b) Sie kann aber auch zu einem weiteren Explikat des α führen, das wir γ nennen wollen. Dann spielt sich die Erfassung des γ auf dem Grund des Behaltens von π einerseits ab, und andererseits von απ (dem um π bereicherten α), das in synthetischer Deckung mit dem π steht, aber doch als Substrat neuer Explikationen neben dem Hauptsubstrat π eigens für sich behalten bleibt. Alle die Bereicherungen des α werden natürlich nicht direkt dem S als Bereicherungen zugeschlagen, sondern dem S nur, sofern es α in sich hat.
So kann sich das S fortgesetzt mittelbar in mehrfachen Stufen explizieren, in einem beliebig iterierbaren [wiederholbaren - wp] Prozeß. Das π kann selbst wieder zum Substrat werden usw. Auf jeder Stufe tritt die Form des relativen Substrates und des korrelativen Explikates auf. Aber in der Stufenreihe bleibt ausgezeichnet das dominierende Substrat; ihm gegenüber sind alle übrigen Substrate untergeordnet, dienend. Die aktive Identitätssynthesis setzt sich in Stufen fort, die alle, wie viele Verzweigungen auch stattfinden mögen, in der kontinuierlich auf S gerichteten Aktivität zentriert sind, und sie im Fortgan in entsprechenden Weisen modifizieren. Auf das S, das zentrale Thema, ist es kontinuierlich abgesehen, und das dominierende Absehen erfüllt sich in den Verkettungen und Stufenfolgen der Explikate, in denen vermöge der stufenweisen Deckung immer wieder nur das S in seinen Sonderheiten "ist" und sich zeigt. In den Vorkommnissen möglicher Explikation ist das Hauptsubstrat gegenständlich in einem ausgezeichneten Sinn vermöge der ausschließlich ihm zugehörigen, schlechthinnigen Eigengeltung. Was sonst thematisch ist, ist es in einem relativen Sinn; es ist nicht thematisch schlechthin und kann es nur werden, wenn der ursprüngliche Gegenstand fahren gelassen wird. Eine solche Verselbständigung ist natürlich auf jeder beliebigen Stufe der Explikation möglich, jedes noch so hochstufige Explikat kann thematisch verselbständigt werden.


§ 29. Absolute Substrate und absolute Bestimmungen
und der einfache Sinn dieser Unterscheidung.

Der Unterschied zwischen "Substrat" und "Bestimmung" erweist sich damit zunächst als ein rein relativer. Alles was je affiziert und gegenständlich wird, kann ebensowohl als Substratgegenstand wie als Bestimmungsgegenstand, als Explikat fungieren. Und ebenso wie wir fortgesetzt und in immer höheren Stufen Explikate zu Substrate verselbständigen, "substratisieren" können, ebenso können wir auch jeden Gegenstand, jedes selbständige Substrat mit anderen Gegenständen kolligieren [zusammenlesen - wp] und dann die Kollektion als Ganzes zum Thema machen, in ihre Glieder explizierend eingehen, so daß wir damit das Ganze bestimmend auslegen, und jeder der früheren selbständigen Substratgegenstände nun den Charakter des Explikates erhält; oder es kann von vornherein eine Kollektion, bestehend aus lauter in sich selbständigen Substraten, als ein Ganzes affizieren, ebenso wie ein einzelner Gegenstand. Der Begriff des Substrates läßt es danach offen, ob es sich jeweils um Substrate handelt, die aus der thematischen Verselbständigung einer Bestimmung entsprungen sind oder nicht, oder ob es sich um ursprünglich einheitliche oder mehrheitliche Gegenstände (Mehrheiten selbständiger Gegenstände) handelt. Unter allen Umständen trägt das erfahrende Explizieren in sich den Unterschied von Substrat und Bestimmung; es schreitet fort in immer neuen Substraterfassungen und im Übergang zur Explikation des in ihnen Erfaßten. Was immer in den aufmerksamen Blick treten mag, wir können es zum Substrat, speziell zum Hauptsubstrat machen und daran die Idee eines Substrates überhaupt und den Unterschied von Substrat und Bestimmung konzipieren.

Aber sobald wir genetisch nach den Erfahrungsleistungen fragen, aus denen in ursprünglicher Evidenz diese Scheidung von Substrat und Bestimmung entspringt, gilt diese Beliebigkeit nicht mehr. Die im Verlauf der Erfahrung in infinitum [unendlich - wp] fortgehende Relativierung des Unterschieds von Substrat und Bestimmung hat ihre Grenze und es wird zu unterscheiden sein zwischen Substraten und Bestimmungen in einem absoluten und relativen Sinn. Freilich, was in einem erfahrenden Tun als Bestimmung auftritt, kann jederzeit in einem neuen Erfahren die neue Form und Dignität eines Substrates annehmen; es wird in seinen Eigenschaften expliziert. In dieser Umwandlung der Bestimmung in ein Substrat für neue, und nun seine Bestimmungen ist es als dasselbe, obgleich in geänderter Funktion, bewußt und zwar selbstgegeben. Ist so öfters ein Substrat sozusagen durch die Substratisierung einer Bestimmung entsprungen, so zeigt sich doch alsbald, daß nicht jedes Substrat so entsprungen sein kann. Das Substratisierte hat in seinem Seinssinn eben diesen Ursprung aufbewahrt, und ist es auch jetzt ein Erfahrungsthema, so ist doch evident, daß es das ursprünglich nur werden konnte dadurch, daß vorher ein anderes Substrat expliziert wurde, an dem es als seine Bestimmung erwuchs. Wir kommen dabei schließlich und notwendig auf Substrate, die keiner Substratisierung entsprungen sind. Ihnen gebührt in diesem Zusammenhang der Name absolute Substrate. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß deren Bestimmungen schon ohne weiteres absolute Bestimmungen (absolute Bestimmungsgegenstände) zu nennen wären. Vielmehr werden wir da auf eine neue Relativität geführt:

Auf relative Substrate der Erfahrungssphäre ist jeder Akt entsprechender relativer Erfahrung zwar gerichtet, aber dieses Sich-darauf-richten, der Einsatz der erfahrenden Tat ist vermittelt durch die erfahrenden Tätigkeiten, in den das betreffende absolute Substrat expliziert und schließlich die betreffenden (unmittelbaren und mittelbaren) Bestimmungen substratisiert worden sind. Ein absolutes Substrat zeichnet sich also dadurch aus, daß es schlicht geradehin erfahrbar ist, unmittelbar erfaßbar, und daß seine Explikation unmittelbar in Gang zu setzen ist. Schlicht erfaßbar und damit Substrate in einem ausgezeichneten Sinn sind vor allem die individuellen Gegenstände der äußeren sinnlichen Wahrnehmung, also Körper. Darin beruth einer der entscheidenden Vorzüge der äußeren Wahrnehmung als derjenigen, die die ursprünglichsten Substrate der erfahrenden und dann prädikativ explizierenden Aktivitäten vorgibt.

Ein schlicht Erfahrbares in diesem besonderen Sinn ist aber auch eine Mehrheit von Körpern, als eine raumzeitliche Konfiguration, oder als ein kausales Ganzes von Körpern, die erfahrbar einig sind dadurch, daß sie einander zusammenhängend einheitlich bedingen, wie z. B. eine Maschine. Das schlichte Erfassen geradehin, das hier möglich ist, geht in der Auswirkung der erfahrenden Intention über in die Bestimmungen der Mehrheit, in ihre Washeiten (in das, was sie einzelweise ist). Dabei kommen wir unter dem Titel Bestimmungen auf Teile, Teilmehrheiten und letztlich jedenfalls auf einzelne Körper; und natürlich nicht bloß darauf, sondern in weiterer Folge auch auf Bestimmungen, die nicht selbst Körper sind. Damit stoßen wir auf eine neuartige Funktionsänderung: absolute Substrate, hier Körper, können als Bestimmungen fungieren, können die Funktion von Teilen, Gliedern in Ganzen, in Substrateinheiten höherer Stufe annehmen. Das ändert aber nichts daran, daß sie absolute Substrate sind, sofern sie schlicht geradehin erfahrbar, explizierbar sind. Da nun auch ein solches mehrheitliches Ganzes ein absolutes Substrat ist, ergibt sich daraus, daß nicht alles, was an einem absoluten Substrat als Bestimmung auftritt, deswegen selbst schon eine absolute Bestimmung sein muß. Absolute Substrate zerfallen also in solche, die "Einheiten" von und in Mehrheiten sind, und solche, die selbst Mehrheiten sind. Zunächst ist diese Scheindung eine relative. Sie führt aber - in der Erfahrung - auf absolute Einheiten und Mehrheiten, wobei die Mehrheiten selbst wieder Mehrheiten von Mehrheiten sein können. Im Rückschreiten führt jedoch jede Mehrheit letztlich auf absolute Einheiten, eine körperliche auf letzte Körper, die keine Konfigurationen mehr sind.

Nicht die Rede ist hier von der kausalen Möglichkeit einen Körper zu zerstückeln - wobei die Stücke durch kausale Aktivität der Teilung erst hervorgehen und nur nachher als potenziell enthaltene Teile dem Ganzen zugesprochen werden; und erst recht nicht ist die Rede von der ideellen Möglichkeit einer Teilung in infinitum. In der wirklichen Erfahrung gibt es keine Teilung in infinitum und vor allem keine erfahrbare Mehrheit, die in infinitum in der fortgehenden Erfahrung (etwa im Näherkomen) sich in immer neue Mehrheiten auflösen würde.

Betrachten wir demgemäß die Bestimmungen von absoluten Substraten, so stoßen wir zwar auf Bestimmungen, die selbst wieder absolute Substrate sein können, also auf mehrheitliche Substrate (wirklich erfahrbare Ganze mit Teilen, Einheiten oder Mehrheiten), aber es ist auch klar, daß jedes absolute Substrat Bestimmungen hat, die keine absoluten Substrate sind. Die letzten Einheiten, in der Körperwelt die letzten körperlichen Einheiten, haben durchaus Bestimmungen, die nur als Bestimmungen ursprünglich erfahrbar sind, die also nur relative Substrate werden können. So ist es z. B. bei einer Gestalt, einer Farbe. Sie können ursprünglich nur als Bestimmungen auftreten, an einem Körper, einem gestalteten, gefärbten, raumdinglichen Gegenstand als ihrem Substrat. Erst muß er affektiv zur Abhebung kommen, zumindest im Hintergrund; mag auch das Ich sich ihm gar nicht zuwenden, sondern sein Interesse sogleich über ihn hinweggehen und dann an ihm die Farbe usw. ausschließlich erfassen, so daß sie sofort das thematische Hauptinteresse an sich reißt. Aber auch die mehrheitlichen Substrate haben solche Bestimmungen, die ursprünglich nur als solche auftreten können und zwar abgesehen von den Bestimmungen ihrer Einzelkörper, die mittelbar auch ihre Bestimmungen sind. Es sind offenbar diejenigen Bestimmungen, welche der Mehrheit als Mehrheit eine Einheit geben, die konfigurativen oder Komplexbestimmungen im weitesten Sinne, und von ihnen aus alle relativen Bestimmungen, die in einer einheitlich erfahrbaren Mehrheit jedem Einzelglied (ebenso jeder Teilmehrheit) zuwachsen als ihr In-Beziehung-sein.

So besteht in der Erfahrungssphäre, in der Selbstgegebenheit von Seienden als Gegenständen möglicher Erfahrung die Grundscheidung zwischen absoluten Substraten, den schlicht erfahrbaren und bestimmbaren individuellen Gegenständen, und absoluten Bestimmungen, die als seiende und das heißt substrathaft nur durch Substratisierung erfahrbar sind. Alles Erfahrbare ist charakterisiert entweder als etwas für sich und in sich, oder etwas, das nur an einem anderen, an einem für sich Seienden ist. Anders ausgedrückt: absolute Substrate sind solche, deren Sein nicht das bloßer Bestimmungen ist, deren Seinssinn also nicht ausschließlich darin liegt, daß in ihrem Sein ein anderes Sein "so ist". Absolute Bestimmungen sind solche Gegenstände, denen die Form der Bestimmung wesentlich ist, deren Sein ursprünglich prinzipiell nur als Sosein eines anderen Seins zu charakterisieren ist; sie können in einer ursprünglichen Selbstgegebenheit nur dadurch in einer Substratform auftreten, daß sie vorher als Bestimmungen aufgetreten sind, und daß andere Gegenstände, an denen sie als Bestimmungen auftreten, zuerst als Substrate gegeben sind. Substratform erhalten sie apriori nur durch Verselbständigung als eine eigene Aktivität. In diesem Sinn sind absolute Substrate selbständig, absolute Bestimmungen unselbständig.

Des weiteren scheiden sich die absoluten Substrate in Einheiten und Mehrheiten; und wenn wir "Einheit" absolut verstehen, so ergibt sich die Scheidung von absoluten Substraten, die "nur" durch absolute Bestimmungen zu bestimmen sind, und solchen, die selbst noch zu bestimmen sind durch absolute Substrate.

Der Sinn der Rede von der Selbständigkeit der absoluten Substrate muß freilich in einer gewissen Einschränkung verstanden werden. Kein einzelner Körper, den wir erfahrend uns zur Gegebenheit bringen, ist ja für sich isoliert. Jeder ist Körper in einem einheitlichen Zusammenhang, der, letztlich und universal gesprochen, der der Welt ist. So hat die universale sinnliche Erfahrung, in universaler Einstimmigkeit vor sich gehend gedacht, eine Seinseinheit, eine Einheit höherer Ordnung; das Seiende dieser universalen Erfahrung ist die All-Natur, das Universum aller Körper. Auch auf dieses Ganze der Welt können wir uns als auf ein Erfahrungsthema richten. Der Endlichkeit der Erfahrung von einzelnen Körpern steht gegenüber die Unendlichkeit der Weltexplikation, in der sich das Sein der Welt auslegt in der Unendlichkeit des möglichen Fortgangs der Erfahrung von endlichen Substraten zu immer neuen. Freilich ist die Welt im Sinne einer All-Natur nicht substrathaft erfahren in einer schlichten Erfahrung, also nicht sich schlicht auslegend in Substratmomente, in "Eigenschaften"; sondern die Erfahrung von der All-Natur ist fundiert in den vorangehenden einzelnen Körpererfahrungen. Aber auch sie ist "erfahren", auch auf sie können wir - schon indem wir einzelne Körper erfahren - uns richten und auch sie explizieren in ihre Sonderheiten, in denen ihr Sein sich zeigt. So sind alle Substrate verbunden; wenn wir innerhalb der Welt als Universum uns bewegen, ist keines ohne "reale" Beziehung zu anderen und zu allen anderen, mittelbar oder unmittelbar.

Das führt auf eine neue Fassung des Begriffes "absolutes Substrat". Ein "endliches" Substrat kann schlicht für sich erfahren werden und hat so sein Für-sich-sein. Aber notwendig ist es zugleich Bestimmung, nämlich als Bestimmung erfahrbar, sowie wir ein umfassenderes Substrat, worin es ist, betrachten. Jedes endliche Substrat hat die Bestimmbarkeit als In-etwas-sein, und für dieses gilt das abermals, in infinitum. Die Welt aber ist in dieser Hinisicht ein absolutes Substrat, nämlich in ihr ist alles, sie selbst aber ist kein In-etwas, sie ist nicht mehr relative Einheit in einer umfassenderen Mehrheit. Sie ist das All-seiende, nicht "in etwas", sondern All-etwas. Im Zusammenhang damit steht auch eine andere Absolutheit: ein real Seiendes, eine endliche reale Mehrheit, eine Mehrheit, die einheitlich ist als Realität, ist verharrend in der Kausalität ihrer Veränderungen; und alle kausal Verbundenen und als das relativ verharrenden mehrheitlichen Einheiten sind selbst wieder kausal verflochten. Darin liegt: alles Weltliche, ob reale Einheit oder reale Mehrheit, ist letztlich unselbständig; selbständig, absolutes Substrat im strengen Sinn der absoluten Selbständigkeit ist nur die Welt; sie verharrt nicht wie ein Endliches verharrt in einer Beziehung auf ihm äußere Umstände.

Aber die Welt unserer Erfahrung, konkret genommen, ist nicht nur All-Natur, in ihr sind auch die Anderen, die Mitmenschen; und die Dinge tragen nicht bloß naturale Bestimmungen, sondern sie sind bestimmt als Kulturobjekte, als von Menschen gestaltete Dinge mit ihren Wertprädikaten, Prädikaten der Dienlichkeit usw. Was wir von der Welt wirklich schlicht geradehin wahrnehmen, ist unsere Außenwelt. Alles Außenweltliche nehmen wir sinnlich wahr als körperlich in der raum-zeitlichen Natur. Wo wir auf Menschen und Tiere stoßen und auf Kulturobjekte, da haben wir nicht nur bloße Natur, sondern einen Ausdruck von geistigem Seinssinn, da werden wir über das sinnlich Erfahrbare hinausgeführt. Diese Bestimmungen nun, aufgrund deren ein Seiendes nicht bloß naturaler Körper ist, sondern aufgrund deren es bestimmt und erfahrbar ist als Mensch, als Tier, als Kulturobjekt usw., sind Bestimmungen ganz anderer Art als die Bestimmungen des Körpers als Körper. Sie treten nicht an einem fundierenden raum-zeitlichen Ding als Bestimmungen in derselben Weise auf wie etwa dessen Farbe. Vielmehr ein Seiendes, das nicht bloß Naturales ist, sondern das erfahren ist als Mensch, als Tier, als Kulturobjekt, hat seine personalen Bestimmungen; es ist ihnen gegenüber selbst Substrat und ursprüngliches Substrat in dem Sinne, daß es nicht erst zum Substrat wird durch eine Substratisierung von Bestimmungen, die am fundierenden materiellen Ding zuvor als Bestimmungen erfahren sein müßten.

Damit ergibt sich eine Unterscheidung von Substrat und Bestimmung in einem weiteren Sinn. Ungeachtet der Fundierung solcher Gegenständlichkeiten in einem schlicht wahrnehmbaren, schlicht erfahrbarem Seienden - dem körperlichen Sein - sind diese ursprüngliche Substrate, obgleich hier mit Rücksicht auf ihre Fundierung die Rede von einer Absolutheit nicht angebracht, bzw. nur in einem laxeren Sinn statthaft ist. Sie haben als Substrate ihre Selbständigkeit, die freilich nicht Unabhängigkeit von fundierenden Gegenständlichkeiten besagt und daher eine relative Selbständigkeit ist - aber relativ in einem ganz anderen Sinn als in dem von erst nachträglich verselbständigten ursprünglichen Bestimmungen: nie treten sie ursprünglich in der Form des "an etwas" auf, sondern immer als ursprüngliche Substrate, die in ihre, in personale Bestimmungen erfahrend expliziert werden können.

Zusammenfassend können wir sagen: die Relativität im Verhältnis von Substrat und Bestimmung hat ihre Grenze in einem absoluten Unterschied, und zwar in dreifacher Weise:
    1. Absolutes Substrat in einem ausgezeichneten Sinn ist die Allnatur, das Universum der Körper, in denen sie sich auslegt, und die daher ihr gegenüber unselbständig sind und als ihre Bestimmungen angesehen werden können. Ihre Absolutheit liegt in ihrer Selbständigkeit, nicht aber ist sie ursprüngliches Substrat in dem Sinne, daß sie als Ganzes einfach Thema eines schlichten Erfassens werden könnte.

    2. Absolute Substrate in dem Sinne des ursprünglich schlicht Erfahrbaren sind die individuellen Gegenstände der äußeren sinnlichen Wahrnehmung, der Körpererfahrung. Sie sind selbständig in der Weise, daß sie als einzelne und mehrheitliche schlicht geradehin Erfahrungsthema werden können. Ihnen gegenüber sind ihre Bestimmungen absolute Bestimmungen, unselbständig derart, daß sie ursprünglich nur an ihnen in der Form der Bestimmung erfahren werden können.

    3. In einem laxen Sinn können als absolute Substrate auch die in schlicht gebbaren Gegenständen fundierten Gegenständlichkeiten bezeichnet werden, absolut in dem Sinne, daß sie ursprünglich nur in der Form des (wenn auch nicht schlicht geradehin erfaßbaren) Substrates erfahren werden können gegenüber ihren Bestimmungen, in denen sie sich auslegen.
Ein weiterer Begriff von absolutem Substrat wäre derjenige des logisch gänzlich unbestimmten Etwas, des individuellen "dies da", des letzten sachhaltigen Substrates aller logischen Aktivität - ein Begriff von Substrat, der hier bloß angemerkt sein soll, und dessen Erörterung bereits in den nächsten Abschnitt gehört. (5) Dieser Begriff des absoluten Substrates in seiner formalen Allgemeinheit läßt es offen, welcher Art die Erfahrung eines Gegenstandes ist, ob schlichte oder fundierte, und beschließt in sich nur den Mangel an jeglicher logischen Formung, an all dem, was am Substrat als Bestimmung durch eine logische Aktivität höherer Stufe hervorgegangen ist.


§ 30. Selbständige und unselbständige Bestimmungen.
Der Begriff des Ganzen.

Was die schlicht erfahrbaren Substratgegenstände, die individuellen raum-zeitlich-körperlichen Dinge betrifft (absolute Substrate in dem unter sub 2 erwähnten Sinne), die naturgemäß im Zusammenhang einer Analyse der Rezeptivität äußerer Wahrnehmung vor allem von Interesse sind, so bedarf das Wesen ihrer Bestimmungen noch weiterer Klärungen und Unterscheidungen.

Es hat sich bereits gezeigt, daß absolute Substrate in diesem Sinn sowohl einheitliche als auch mehrheitliche Gegenstände sein können. Darin liegt, daß nicht alles, was an ihnen als Bestimmung auftritt, schon eine absolute Bestimmung sein muß. Zwar treten die einzelnen Glieder einer Konfiguration, einer Mehrheit bei ihrer Explikatioin als Bestimmungen auf; sie können aber je nach der Art und Weise der Affektion und der Richtung des Interesses ebensogut ursprünglich als selbständige Substrate auftreten; es kann von vornherein ebenso die Vielheit oder das Ganze erfaßt und zum Substrat werden und ebenso irgendein Einzelnes. Den Gliedern einer Konfiguration, einer Mehrheit, ist die Form der Bestimmung außerwesentlich. So zerfallen die Bestimmungen absoluter, schlicht erfahrbarer Substrate in selbständige und in unselbständige, d. h. ursprüngliche Bestimmungen: selbständig, wie die Bäume einer Allee, oder unselbständig wie die Farbe eines Gegenstandes. Dieser Unterschied schließt in sich eine Verschiedenartigkeit der Gegebenheitsweise, die sogleich erörtert werden soll.

Zuvor sei erwähnt, was sich daraus für den Begriff des Ganzen ergibt:

Jedes Substrat für eine mögliche innere Bestimmung kann als ein Ganzes angesehen werden, das Teile hat, in die es expliziert wird. Sowohl der Begriff des Ganzen wie der des Teils ist dann in einem weitesten Sinn genommen (6): unter Ganzen ist verstanden jeder einheitliche Gegenstand, der Partialerfassungen, also eine hineingehende, explizierende Betrachtung zuläßt und unter Teil jedes dabei resultierende Explikat. In diesem Sinn kann auch das Verhältnis vom Papier und der weißen Farbe des Papiers als ein Ganzes-Teil-Verhältnis angesehen werden; gehe ich von einem auffälligen Weiß, das ich zuerst gegenständlich gemacht habe, über zum Papier, so ist das doch in Bezug auf das Weiß ein "Ganzes". Ich nehme damit ein Mehr in meinen Blick auf, ganz ähnlich, wie wenn ich vom Fuß eines Aschenbechers als seinem Teil übergehe zum ganzen Aschenbecher. In beiden Fällen ist es ein Übergang vom Explikat auf das Substrat. Dieser weiteste Begriff des Ganzen befaßt also unter sich jeden Gegenstand, der überhaupt möglicherweise Substratgegenstand für Explikationen werden kann, gleichgültig, ob es ein ursprünglicher, sei es nun einheitlicher oder mehrheitlicher, Substratgegenstand ist oder nicht.

Ihm ist ein engerer Begriff des Ganzen gegenüberzustellen, der nur ursprüngliche Substratgegenstände unter sich befaßt. Jedes Ganze in diesem Sinne hat dann Bestimmungen ("Teile" in unserem weitesten Sinne), und zwar entweder selbständige oder unselbständige. Unter einem noch engeren und dem eigentlich prägnanten Begriff des Ganzen sind diejenigen Ganzen befaßt, die aus selbständigen Teilen zusammengesetzt und in sie zerstückbar sind. Ihre Teile als selbständige Teile werden wir als Stücke bezeichnen und ihnen die unselbständigen Teile als unselbständige Momente (in der III. Logischen Untersuchung auch abstrakte Teile genannt) gegenüberstellen. Zum Begriff des Ganzen in diesem prägnanten Sinn gehört es, daß es zerstückbar ist; d. h. seine Explikation führt auf selbständige Bestimmungen. Es ist aber darum, wie wir sehen werden, keine bloße Summe von Stücken, wie eine Menge, deren Explikatioin auch auf selbständige Bestimmungen führt. Stücken und Mengengliedern ist die Form der Bestimmung außerwesentlich, den Momenten die Form des Substrates. Letztere haben die Substratform nur durch die eigene Aktivität der Verselbständigung angenommen.


§ 31. Die Erfassung von Stücken
und von unselbständigen Momenten

Wie ist die Selbständigkeit des Stückes gegenüber der Unselbständigkeit des Momentes charakterisiert? Die Frage ist eine solche des konstitutiven Ursprungs aus Leistungen der Explikation. Ein selbständiger Gegenstand kommt ursprünglich anders zur Gegebenheit als ein unselbständiger, und innerhalb eines Ganzen im weiteren Sinne heben sich bei der Explikation selbständige Teile (Stücke) in anderer Weise heraus als die verschiedenstufigen unselbständigen. Zum Wesen eines jeden solchen Ganzen gehört die Möglichkeit der Betrachtung und Explikation. Es gibt sich als ein einheitlicher Gegenstand, an dem andere Gegenstände, Teile hervortreten. Es ist eine Einheit der Affektion mit darin beschlossenen Sonderaffektionen. Handelt es sich nun um ein Ganzes aus Stücken, so haben wir gesehen, wie deren Selbständigkeit sich dahin auswirkt, daß jedes von ihnen für sich erfaßt und betrachtet werden kann, ohne daß das Ganze erfaßt ist, wie im Fall der Betrachtung eines Baumes aus einer Allee. Andererseits kann auch das Ganze erfaßt sein, ohne daß einer der Teile oder alle Teile für sich erfaßt werden. Jedoch als Ganzes ist es erst erfaßt und in voller Deutlichkeit gegeben, wenn es zunächst in einen einheitlichen thematischen Griff genommen und betrachtet, dann schrittweise seinen Teilen nach erfaßt und betrachtet ist, wobei es in der bekannten Weise im Übergang von Teil zu Teil als Eines und stetig sich bereicherndes und in seinen Teilen sich mit sich selbst deckendes im Griff behalten wird.

Wie werden nun seine Stücke als solche, das heißt als dem Ganzen gehörige Stücke erfaßt? Nehmen wir der Einfachheit halber ein Ganzes, das bloß aus zwei Stücken besteht. Es heißt Ganzes, sofern es nur diese zwei unmittelbaren Teile hat, sich nur in diese "auflöst". Es ist von vorherein mit diesen Sonderaffektionen ausgestattet, die zur Einheit einer Affektion zusammengehen. Denken wir uns nun die Explikation auf eines der beiden Stücke gerichtet, so liegt in ihrem Wesen, daß sich bei einer derart explikativen Aussonderung eines Stückes im Ganzen ein Überschuß, ein Plus abhebt, das für sich eine affektive Kraft hat und erfaßbar wird als ein zweites, mit dem ersten verbundenes Stück. Erfaßbar: denn das Abheben besagt nicht, daß das Abgehobene auch schon wirklich für sich erfaßt wird. Erfaßt ist zunächst auf dem Grund des betrachteten Ganzen nur das eine Stück. es ist in Deckung mit dem Ganzen, aber in einer ganz eigenen Art, die unterschieden ist von der Deckung zwischen dem Substrat und einem unselbständigen Moment. In beiden Fällen, also bei jeder explikativen Deckung, der Aussonderung eines Teils auf dem Grund eines Ganzen (beides im weiteren Sinn genommen), ist etwas herausgesondert und etwas übrig gelassen, was nicht herausgesondert ist. Das besagt, daß die Kongruenz nur eine partiale ist. Aber die Art, wie der nicht explizierte "Rest" bewußt ist, ist bei der Explikation von Stücken eine ganz andere als bei der von unselbständigen Momenten. Es wird einmal eine Farbe am Gegenstand erfaßt, z. B. die Röte des kupfernen Aschenbechers, das andere Mal ein Stück, z. B. sein Fuß. Ist ein Stück herausgehoben, so ist der nicht explizierte "Rest" "außer ihm" und von ihm abgehoben, wenngleich mit ihm verbunden; beim unselbständigen Moment, in unserem Fall der roten Farbe, die den ganzen Becher gleichsam überdeckt, ist kein Abgehobenes "außer ihm". Andere seiner unselbständigen Momente affizieren nicht getrennt von der Farbe und nur mit ihr verbunden, sondern das als rot explizierte und als das im Griff behaltene Substrat affiziert zugleich als rauh oder glatt usw., und kann nun in weiterer Explikation demgemäß erfaßt werden. Durch diese Beschreibung wird von der subjektiven Seite her verständlich, was schon in der III. Logischen Untersuchung (§ 21, Seite 276) rein noematisch festgestellt wurde, nämlich daß unselbständige Teile "sich durchdringen" im Gegensatz zu selbständigen, die "auseinander" sind.

Im Begriff des Stückes (des Teils im prägnanten Sinn als selbständigen Teiles) liegt also, daß er im Ganzen mit anderen Teilen verbunden ist (als Folge seiner Selbständigkeit); im Begriff des unselbständigen Moments und zwar eines unmittelbaren, eines eigenschaftlichen, daß es keine ergänzenden Momente hat, mit denen es verbunden ist. Andererseits ist es dieses Verbundensein, was die Stücke eines Ganzen trotz ihrer Selbständigkeit vor den Mengengliedern auszeichnet. Die Glieder einer Menge sind nicht miteinander verbunden. Darin liegt beschlossen, daß das Ganze mehr ist als die bloße Summe seiner Teile.

Es ergeben sich daraus folgende wichtige Sätze:

Durch Stücke ist das Ganze in einen Zusammenhang verbundener Teile eingeteilt; jedes Glied einer solchen Verbindung, die das Ganze verbindungsmäßig ausmacht, ist ein Stück.

Die Heraushebung e i n e s Stückes teil das Ganze schon ein, nämlich zumindest in dieses Stück in Verbindung mit seiner gesamten Ergänzung, die auch den Charakter eines Stückes hat. Ist nämlich A ein Stück, so ist auch die Verbindung von A und B ein Stück usw. Ein Ganzes kann also niemals ein einziges Stück haben, vielmehr mindestens zwei.

Selbstverständlich ist jede Verbindung von selbständigen Gegenständen wieder ein selbständiger Gegenstand.

Bisher haben wir Stücke immer kontrastiert mit unselbständigen Momenten, und diese gedacht als unmittelbare. Dazu ist ergänzend zu bemerken: unmittelbar ist ein unselbständiges Moment als Moment eines Gegenstandesf, wenn es nicht Moment irgendeines Stückes oder (worauf wir im nächsten Paragraphen zu sprechen kommen werden) ein Verbindungsmoment mehrerer Stücke ist.

Darin liegt: zum Wesen eines unmittelbaren Momentes gehört es als Folge, daß es nicht im Ganzen "verbunden" sein kann mit anderen Bestandsstücken des Gegenstandes (Teilen im weitesten Sinn).

Es kann darum selbst zerstückelbar sein, teilbar sein in Momente. Dann wird es in Bezug auf sie als ein relatives Substrat angesehen, das zerstückelbar ist wieder in relativ selbständige Gegenstände.

Nur relativ zueinander selbständige Gegenständlichkeiten können eine Verbindung haben, können durch ihr Wesen ein "Verbindungsmoment" fundieren. Im prägnanten Begriff des Ganzen liegt es also, daß es eine Verbindung selbständiger Stücke darstellt.

Es bleibt hier die Frage offen, ob und in welcher Weise selbständige Gegenstände eine Verbindung fundieren müssen, ob man von jederlei selbständigen Gegenständen sagen kann, daß sie ihren Gattungen nach eine Verbindung fundieren können, daß zwischen zwei Gegenständen einer solchen Gattung eine Verbindung möglich ist. Desgleichen, ob jeder Substratgegenstand ein Ganzes in einem prägnanten Sinn, also ein zerstückelbares Ganzes sein muß. Aber jeder hat sicher "Eigenschaften", und jeder hat sicher "unselbständige Momente". Jedes Stück hat auch wieder unselbständige Momente, das ist "Teile", die keine Stücke sind.

Es sei nochmals betont, daß sich alle diese Unterscheidungen wie auch die im folgenden Paragraphen erörterten, zunächst nur auf schlichte Substratgegenständlichkeiten, raum-dingliche Gegenstände der äußeren Wahrnehmung beziehen, und nicht ohne weiteres durch eine Formalisierung auf die in ihnen fundierten Gegenständlichkeiten höherer Art, z. B. Kulturobjekte, übertragen werden können; obgleich an diesen in einer spezifisch ihnen eigenen Art auch Verhältnisse wie die von Ganzem und Teil, Eigenschaftsbeziehungen usw. aufweisbar sein müssen.


§ 32. Die unselbständigen Momente als
Verbindungen und als Eigenschaften.


a) Mittelbare und unmittelbare Eigenschaften

Es waren bisher als Beispiele ursprünglich unselbständiger Bestimmung, also der Bestimmung durch unselbständige Momente, immer eigenschaftliche Bestimmungen gewählt worden. Ist der Begriff der Eigenschaft durch diese ursprüngliche Unselbständigkeit genügend definiert? Ist "Eigenschaft" und "ursprünglich unselbständiges Moment" gleichbedeutend? Oder gibt es auch noch unselbständige Momente anderer Art?

Denken wir z. B. an die Kante eines materiellen Dings oder an seine gesamte Oberfläche, durch die es als Raumgestalt umgrenzt ist, so sind das sicher unselbständige Momente und keine Stücke: man kann von einem Ding nicht die Oberfläche oder die Kante wegnehmen in der Weise, daß es dadurch in zwei selbständige Teile zerfällt. Andererseits ist doch die begrenzende Oberfläche sicher keine Eigenschaft eines Dings. Es ergibt sich daraus: nicht jedes unselbständige dingliche Moment gehört dem Ding an als Eigenschaft.

Eigenschaften des Dings sind seine Farbe, Rauhheit, Glätte, Gesamtform und dgl. Zerstückeln wir aber das Ding, so ist die Farbe usw. des einzelnen Stückes seine Eigenschaft und mit mittelbar eine Eigenschaft des Ganzen: das Ding ist rot: an dieser Stelle, in diesem Stück, blau in jenem usw. Das Ding glänzt hier, ist hier glatt, dort, in jenem Teil rauh usw. Sagen wir kurzweg: "das Ding ist rauh", so ist dann zu ergänzen: dem und dem Stück nach. Ähnlich ist es, wenn wir sagen: "das Ding ist begrenzt durch seine Oberfläche". Eigentlich ist es zunächst ausgedehnt (Ausdehnung als seine unmittelbare Eigenschaft); die Ausdehnung (als sein abstraktes Moment) hat eine Grenze (die Oberfläche) von der oder jener Form als ihre unmittelbare Eigenschaft, die dann nur eine mittelbare Eigenschaft des ganzen Dings ist. Unselbständige dingliche Momente, die nicht dem Ding angehören als unmittelbare Eigenschaften, sind also mittelbare Eigenschaften, d. h. Eigenschaften seiner selbständigen Stüke oder seiner unselbständigen Momente. Wenn wir von einer Eigenschaft schlechthin sprechen, so ist in der Regel die unmittelbare Eigenschaft gemeint.


b) der prägnante Begriff der Eigenschaft und ihr
Unterschied gegenüber der Verbindung.

Sind nun alle unmittelbaren unselbständigen Momente eines Gegenstandes (alle ihm als Ganzem zugehörigen) ohne weiteres als Eigenschaften anzusprechen? Dagegen spricht Folgendes: die Verbindungsformen selbständiger Stücke des Ganzen mit dem "Übrigen", dem Gesamtergänzungsstück, sind sicher auch unselbständige Momente des Ganzen und nicht unselbständige Momente seiner Stücke; und doch wird man sie schwerlich als Eigenschaften des Ganzen bezeichnen können.

Wir müssen also sagen: Eigenschaften sind unselbständige Momente eines Gegenstandes, die nicht zu seinen Stücken als ihre Momente oder zu irgendeinem Inbegriff von Stücken als ihre Verbindung gehören. Dann hätten wir an möglichen inneren Bestimmungen eines Substrates dreierlei zu unterscheiden: Stücke, Verbindung und Eigenschaften.

Man könnte Verbindungen und Eigenschaften als unselbständige Momente auch in eins nehmen und unterscheiden:
    1. Unselbständige Momente eines Inbegriffs, eines Kollektivums, die keine unselbständigen Momente seiner Glieder sind, (Eigenschaften im weiteren Sinne von Inbegriffen: Verbindungseigenschaften, Formeigenschaften); und

    2. unselbständige Momente eines nicht-mehrheitlichen Substrates, eines singulären Objekts, die zu ihm als Ganzem gehören, also nicht zu seinen Stücken gehören oder zu ihren Kollektionen, (Eigenschaften im engeren Sinne: unmittelbare Eigenschaften).

    3. Daneben sei noch ein weitester möglicher Begriff von Eigenschaft hier vermerkt, der alles umfaßt, was dem Gegenstand eigen ist: alles Aussagbare überhaupt, das Haben von Teilen, Eigenschaften von Teilen, Eigenschaften von Teilbegriffen etc.
Ziehen wir dagegen die Weisen in Betracht, wie eine Eigenschaft im engeren, eigentlichen Sinn und wie eine Verbindung sich konstituiert, so wird sich eine andere Einteilung und Unterscheidung ergeben. Es bestehen nämlich wesentliche Unterschiede in der Gegebenheitsweise bei den unselbständigen Momenten, je nachdem, ob sie unmittelbare Eigenschaften des Ganzen sind oder sonstige unselbständige Momente, sei es Eigenschaften der Stücke oder Verbindungsformen. Eine unmittelbare Eigenschaft des Ganzen tritt schon hervor in der schlichten Explikation des Ganzen. Ein unselbständiges eigenschaftliches Moment eines Stückes kann erst erfaß werden, wenn das Stück abgehoben und für sich erfaßt ist, ist also auch nach der Weise seiner Konstitution ein mittelbares Explikat des Ganzen. Das Gleiche gilt natürlich von den unselbständigen Momenten unselbständiger Momente selbst.

Was nun die Verbindungsformen anlangt, so sind sie nur erfaßbar als Momente der Verbindung der Verbundenen; d. h. diese müssen erfaßt sein, und dann erst kann die Verbindung erfaßt werden. Die Verbindung ist also ein unselbständiges Moment, das zur Gegebenheit erst kommt nach der Explikation des Ganzen hinsichtlich seiner Teile, also in dem schon abgeteilten Ganzen. Das geschieht in folgender Weise: auf dem Grund des im Griff behaltenen Ganzen wird jedes Stück für sich erfaßt und dem Ganzen als Bereicherung zugeschlagen in der Weise, daß es nun ein eingeteiltes Ganzes ist. Nun tritt die Verbindung nicht als dritter Teil hervor, den das Ganze noch im selben Sinn hätte wie diese zwei Teile, sondern als eine mittelbare Bestimmung des Ganzen, oder zunächst als ein mittelbares Moment, das kein unmittelbares Moment des einen oder anderen Teils ist, sondern ihres Zusammen. Es kann nur hervortreten, wenn das Zusammen als Zusammen gebeben ist, d. h. wenn das Ganze in seine Teile expliziert und somit in sie eingeteilt ist. So sind auch die Verbindungsmomente innerhalb eines Ganzen mittelbare Beschaffenheiten und zunächst mittelbare Explikate.

Beschränken wir uns auf unmittelbare Explikate, so bleibt nur zweierlei:
    entweder die unmittelbare Explikation führt auf ein Stück,

    oder auf ein unmittelbares, unselbständiges Moment des Explikanden.
Ein unmittelbares Stück des Ganzen (jedes Stück ist unmittelbar erfaßbar, d. h. wenn es nicht Stück eines Momentes ist) unterscheidet sich in der Weise der Explikation vom unmittelbaren unselbständigen Moment, und letzteres ist immer und notwendig "Eigenschaft". Wir können Eigenschaft auch definieren als unmittelbares unselbständiges Moment eines Ganzen, oder als einen unmittelbaren Teil eines Ganzen, der neben sich im Ganzen keine unmittelbaren Teile hat, mit denen er "verbunden" wäre.
LITERATUR Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, Prag 1939
    Anmerkungen
    5) Zu diesem Begriff von letztem Substrat vgl. "Ideen zu einer reinen Phänomenologie etc.", Halle/Saale 1913, Seite 28 und öfter und "Logik", Seite 181.
    6) vgl. zu diesem "weitesten Begriff von Teil" auch die III. Logische Untersuchung, Seite 228 (zweite Auflage).