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GOTTLOB ERNST SCHULZE
(1761 - 1833)

Kritik der theoretischen Philosophie

"Diejenige Erkenntnis, welche Philosophie sein soll, wird nicht durch die Sinne, oder durch Erfahrung gegeben, sondern durch die Selbsttätigkeit der Vernunft (worunter wir hier das Bestreben des Gemüts, sich der Notwendigkeit seiner Erkenntnisse bewußt zu werden, verstehen) erzeugt, und muß den Bedürfnissen der Vernunft völlig angemessen oder Wissenschaft im eigentlichen Sinn dieses Wortes genommen, sein. Durch die Zergliederung der Merkmale einer wissenschaftlichen Erkenntnis erhalten wir demnach auch Merkmale, die der Philosophie wesentlich zukommen."

"Wenn endlich diejenigen, welche in der Wissenschaftslehre die einzig mögliche Philosophie verehren, das wissenschaftliche Philosophieren über Etwas darin bestehen lassen, daß man es schafft, und vor den Augen des Geistes werden läßt; so ist diese Definition der Philosophie vom System der Wissenschaftslehre abgezogen worden, nach welchem eine reine, absolute und durch sich selbst anfangende Tätigkeit den obersten hinreichenden Grund alles für uns Menschen Wirklichen ausmacht und diese Tätigkeit während der Ausübung ihrer schöpferischen Kraft vom philosophischen Genie soll beobachtet werden können, so daß es alles Wirkliche in sich entstehen sieht."


Einleitung

Wenn eine Erkenntnis, die aus der Vernunft geschöpft worden sein soll, sich keinen allgemeinen und dauerhaften Beifall verschaffen kann; wenn die Bearbeiter derselben im beständigen Widerspruch miteinander stehen, und der eine das für groben Irrtum erklärt, was der andere als die zuverlässigste Wahrheit anpreist; wenn endlich jeder neue Versuch, dieser Erkenntnis die Festigkeit einer Wissenschaft zu erteilen, mißlingt, und anstatt den Streitigkeiten, die über die Richtigkeit derselben stattfinden, ein Ende zu machen, nur zu neuen Streitigkeiten Anlaß giebt: So läßt sich hieraus schon mit ziemlicher Sicherheit abnehmen, daß der Aufsuchung einer solchen Erkenntnis nicht etwa bloß ein fehlerhafter Plan, sondern ein unerreichbarer Zweck und eine allen Bearbeitern derselben gemeinschaftliche Täuschung zugrunde liegen muß. Denn was aus der Vernunft herrührt und auf Wahrheit eine Beziehung hat, das verfehlt, vermöge der natürlichen Verwandtschaft, in der es mit den ursprünglichen Anlagen des menschlichen Gemüts steht, gewiß nicht, sich nach und nach den allgemeinen Beifall selbstdenkender Köpfe zu verschaffen; und alle Einwendungen, welche Unwissenheit und blinde Anhänglichkeit an ungeprüfte Meinungen dagegen vorbringen mögen, sind selbst dazu behilflich, daß die Überzeugung von der Richtigkeit derselben immer allgemeiner und fester wird.

Obgleich aber der Erfolg, den die Bearbeitung gewisser Lehren und Erkenntnisse hat, über deren Wahrheit und Vernunftmäßigkeit schon ziemlich sichere Auskunft gibt, so verschafft er doch keine Einsicht von den Ursachen des Mißlingens dieser Bearbeitung; sondern hierzu ist vielmehr eine Kritik, d. h. eine nach zuverlässigen Prinzipen angestellte Untersuchung über die Möglichkeit und Wahrheit solcher Erkenntnisse, die auf Allgemeingültigkeit und Dauerhaftigkeit vergebliche Ansprüche erheben, erforderlich.

Was bisher für ein ungünstiges Schicksal über diejenigen Erkenntnisse, welche zur Philosophie gehören, gewaltet hat, und wie wenig es den eifrigsten Bemühungen talentvoller Männer gelungen ist, diese Erkenntnisse zur Würde einer Wissenschaft zu erheben, ist zu bekannt, als daß davon ausführlich zu handeln nötig sein dürfte. Während der Zeit, daß viele andere Erkenntnisse, die weder in Anbetracht ihrer Beziehung auf das allgemeine und bleibende Interesse der menschlichen Vernunft, noch auch in Anbetracht der Menge der einsichtsvollen und geistreichen Männer, welche sich mit der Aufsuchung und Vervollkommnung derselben abgegeben haben, der Philosophie völlig gleichgestellt werden können, wissenschaftliche Festigkeit erhalten haben; ist letztere, die doch die Weisheit selbst und das gemeinschaftliche Orakel für alle übrige Wissenschaften zu sein vorgibt, in der Hauptsache der wissenschaftlichen Vollkommenheit nicht um einen Schritt näher gebracht worden, und ein Inbegriff unzähliger und endloser Steitigkeiten geblieben. Selbst die neuesten und gewiß mit dem größten Aufwand von Geisteskraft unternommenen Bemühungen, diesen Streitigkeiten ein Ende zu machen, und die Bearbeiter der Philosophie sowohl in Anbetracht des Zwecks, wonach sie zu streben haben, als auch in Anbetracht des Gebrauchs der Mittel, wodurch dieser Zweck soll erreicht werden können, miteinander einhellig zu machen, sind, so viel deren Erfolg bis jetzt gelehrt hat, ebenso vergeblich gewesen, als die älteren, und haben, anstatt Friede und Eintracht im Gebiet der Philosphie zu stiften, die darin herrschende Uneinigkeit nur noch vermehrt und sichtbarer gemacht. Auch ist man nach dem, was nunmehr schon eine vieljährige Erfahrung von den Wirkungen der neuesten Philosophie sogar bei den Anhängern derselben zu erkennen gegeben hat, nicht im Geringsten berechtigt zu erwarten, daß dieselbe sich vielleicht noch künftig, und wenn nur erst, wie man vorgibt, die blinden Verteidiger der älteren philosophischen Systeme sie zu bestreiten werden aufgehört haben, zu einer allgemeingültigen Weisheitslehre erheben dürfte. Denn seitdem einige von jenen Anhängern in die Geheimnisse der transzendentalen Art zu philosophieren tiefer einzudringen suchten, und es in der Auslegung der reinen Philosophie nicht mit dem bloßen Nachsagen der dem Urheber dieser Philosophie eigentümlichen Formeln und Kunstausdrücke bewenden lassen wollten; ist auch sogleich unter ihnen über den Geist und über die wahren Lehren derselben ein Zwist entstanden, der von den Äußerungen einer fast beispiellosen, nur der blindesten Sektiererei eigentümlichen Bitterkeit begleitet, und durch jeden neuen Versuch, ihn beizulegen, noch immer vergrößert wird.

Man kann es daher wohl niemandem verdenken, wenn er der Wirkungen wegen, welche bis jetzt alle philosophischen Systeme gegen ihre ursprüngliche Absicht hervorgebracht haben, gegen die Hochpreisungen der Einsicht und Weisheit, welche durch dieselben der menschlichen Vernunft zuteil geworden sein soll, ein allgemeines Mißtrauen unterhält, und es gänzlich aufgiebt, seine Wißbegier durch das Studium dieser Systeme, die so viel verheißen, und bisher so wenig geleistet haben, zu befriedigen.

Auch auf meine Denkungsart über die Philosophie hat die Beobachtung des Erfolgs, den das Streben so vieler, durch ihre Talente und durch den bei der Aufsuchung verborgener Wahrheiten bewiesenen Eifer ehrwürdiger Männer nach einer wissenschaftlichen Philosophie von jeher hatte, einen starken Einfluß gehabt, und ihr diejenige Richtung gegeben, aus welcher diese Kritik der theoretischen Philosophie entstanden ist. Mehrere Jahre hindurch hegte ich von dem positiven Gewinn, welcher mir durch die Beschäftigung mit den Systemen der spekulativen Philosophie zuteil werden würde, die lebhaftesten Hoffnungen. Diese Hoffnungen erregten sogar oftmals die Neigung, meine Kräfte auf die Bearbeitung eines dieser Systeme, welches mir eben die sicherste Hinweisung auf Wahrheit und Gewißheit zu enthalten schien, zu verwenden. Allein jede Neigung dieser Art wurde immer wieder, sobald ich zur Befriedigung derselben Anstalt machte, ganz vorzüglich durch die Erwägung der Schicksale unterdrückt, welche alle spekulative Beschäftigung mit den letzten Gründen des Daseins und unserer Erkenntnis der Dinge betroffen hat; denn das Zutrauen zu meinen Fähigkeiten ging nicht so weit, daß ich die Hoffnung fassen konnte, dasjenige wirklich zu erreichen, wonach so viele, mit den größten Talenten und mannigfaltigsten Einsichten versehene Männer vergeblich gestrebt hatten. Bei dieser Stimmung meines Gemüts und als ein aufmerksamer Beobachter der Begebenheiten, welche durch den transzendentalen Idealismus in der philosophischen Welt veranlaßt wurden, fing ich nach und nach an zu glauben, das Mißlingen aller Bemühungen, der spekulativen Philosophie wissenschaftliche Festigkeit zu verschaffen, sei eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der menschlichen Vernunft, welches von Grund auf und vollständig untersucht zu werden verdient und verfiel auf die Vermutung, daß wohl irgendein Erbfehler an dieser Philosophie haften und sich von einer dogmatischen Beschäftigung mit derselben auf die andere fortgepflanzt haben müßte. Was ich nun durch fortgesetztes Nachdenken von diesem Erbfehler in den wichtigsten Systemen der theoretischen Philosophie oder Metaphysik, in welchen er am leichtesten ausfindig gemacht werden kann, und von denen aus er sich auch den übrigen Teilen der Philosophie mitgeteilt hat, zu entdecken imstande gewesen bin, das ist im gegenwärtigen Werk enthalten.

Natürlicherweise erhebt der Verfasser desselben auf den Beifall derjenigen keinen Anspruch, welche im Besitz einer wissenschaftlichen, alle Bedürfnisse ihrer Vernunft befriedigenden Metaphysik zu sein meinen, jede Einwendung, so gegen die Richtigkeit derselben vorgebracht wird, aus der Geistesohnmacht oder Parteisucht ihrer Urheber abgleiten, und sich wegen des Mißlingens der Bemühungen, Friede und Einigkeit unter den Philosophen zu stiften, mit der Absicht in eine bessere Zukunft zu trösten, wo alle wahren Selbstdenker eine unter einem einzigen Vernunfthirten vereinigte Herde sein werden. Er wird sich sogar darüber nicht im Geringsten wundern, wenn er durch sein Unternehmen den Unwillen dieser Repräsentanten der spekulativen Vernunft erregen sollte. Dagegen hofft er, daß er alle, für die das Mißlingen jeder bisherigen Bemühung, das Ziel der theoretischen Philosophie zu erreichen, einiges Interesse hat, einen Versuch nicht mit Gleichgültigkeit aufnehmen werden, dessen Absicht vorzüglich dahin geht, die Ursachen dieses Mißlingens aufzusuchen, und der menschlichen Vernunft, nachdem nunmehr vergebens unternommen worden ist, sie durch eine von den überhaupt möglichen Erklärungen des Ursprungs unserer Erkenntnisse von Dingen zur Selbsterkenntnis zu führen, auf diese Selbsterkenntnis durch die Aufdeckung der Mängel aller solcher Erklärungen Anweisung zu erteilen.



Erster Teil
Von den Zwecken der Philosophie überhaupt
und der theoretischen Philosophie insbesondere


Erster Abschnitt
Von den wesentlichen Merkmalen
einer wissenschaftlichen Philosophie

Es kann entweder gar keine, oder nur eine einzige wahre Philosophie geben. Zur Untersuchung der Frage aber: ob dasjenige, was für Philosophie ausgegeben wird, es auch wirklich ist, oder nicht? ist ein deutlicher und genau bestimmter Begriff von dieser Wissenschaft erforderlich, und ohne einen solchen Begriff kann jene Frage gar nicht beantwortet werden. Es bringt es also die Absicht einer Kritik der theoretischen Philosophie mit sich, daß wir ihr die Erörterung der wesentlichen Merkmale dieser Philosophie zugrunde legen. Und obgleich dergleichen Erörterung noch keine deutliche Belehrung darüber erteilt, warum Metaphysik bisher ein bloßes Herumtappen unter lauter Vermutungen und gänzlich unstatthaften Hypothesen geblieben ist; so wird sie doch die wichtigsten Schritte leiten müssen, die wir künftig in der Aufsuchung der Mängel der metaphysischen Systeme zu tun haben, und der Beurteilung dieser Mängel immer zugrunde liegen. Weil aber die Metaphysik einen Teil der gesamten Philosophie ausmacht; so wird die Erörterung der Zwecke jener dadurch an Deutlichkeit gewinnen, daß wir ihr eine bestimmte Angabe der eigentümlichen Merkmale dieser vorausschicken.

Indem wir nun die Aufsuchung des Begriffs der Philosophie ausgeben, dürfte vielleicht mancher unserer Leser dieses Unternehmen schon im Voraus für zwecklos und unausführbar erklären. Wir müssen es also wohl zuerst hinreichend rechtfertigen.

Es ist nämlich aus der Geschichte der Philosophie bekannt genug, daß die Merkmale dieser Wissenschaft auch sehr verschiedene Art bestimmt worden sind, und daß fast jedes neue System der Philosophie auch zu einer neuen Erklärung derselben Anlaß gegeben hat. Mancher wird daher in Beziehung auf diese Tatsache behaupten: Es sei überall vergebliche Arbeit, eine allgemeingültige, genau bestimmte, und keiner Veränderung unterworfene Erklärung der Philosophie ausfindig machen zu wollen, indem jede Erklärung dieser Wissenschaft von der zu erklärenden Sache abhängig ist, mit ihr einerlei Schicksal teilt und folglich auch all den Veränderungen unterworfen bleibt, die das Objekt derselben treffen. - Andere werden hingegen sagen: Es ist unleugbar, daß es nicht eher eine richtige, vollständige und unveränderliche Erklärung der Philosophie geben kann, als bis es eine wahre, allgemein und unveränderlich gültige Philosophie gibt, indem der Inhalt jener Erklärung vom Inhalt und der Beschaffenheit dieser Philosophie abgezogen werden muß, und die letztere allererst die Richtigkeit der ersteren verbürgen kann; solange also die Philosophie selbst noch in keinen beharrlichen Zustand gebracht, und zu einer wahren Wissenschaft erhoben worden ist, so lange müssen auch alle Erklärungen derselben schwankend und veränderlich bleiben.

Wäre nun die erstere dieser Einwendungen gegen die Möglichkeit eines bestimmten Begriffs der Philosophie gültig, so würde folgen, daß es ebenso viele Philosophien gibt, als es leere Einbildungen gibt, welche die Menschen in sich erzeugen können, und für eine Philosophie zu halten Lust haben; was doch wohl sehr ungereimt sein dürfte. Wäre aber die zweite richtig; so würde man auf eine künftige vollständige Bestimmung des Begriffs der Philosophie vergeblich hoffen, indem ein philosophisches System, um als das allein wahre angenommen werden zu können, einen richtigen Begriff von der Philosophie schon voraussetzt, mit dem es verglichen und übereinstimmend befunden worden sein muß, ehe es für das wahre System von irgendeinem denkenden Kopf gehalten werden kann. Inzwischen läßt sich auch noch aus anderen Gründen klar darlegen, daß die erstere dieser Einwendungen ebenso falsch ist, wie die letztere.

Alle Wissenschaften verdanken ihr Dasein und ihre Ausbildung der Vernunft. Sie bilden sich nicht von selbst aus einem im menschlichen Gemüt vorhandenen Keim, wie sich etwa die organisierten Körper aus einem befruchteten Keim von selbst entwickeln; sondern sie sind insgesamt Kunstwerke, deren Entstehung und Beschaffenheit ganz und gar von der Tätigkeit des Menschen abhängt. Auch sind die Wissenschaften keine Erzeugnisse eines blinden Zufalls und der von Ungefähr entstandenen Einfälle des menschlichen Gemüts; vielmehr liegen ihnen allen bestimmte, auf die Natur des Menschen Beziehung habende Zwecke zugrunde, und jede derselben macht ein nach besonderen Absichten der Vernunft unternommenes Projekt aus. Was nun die Vernunft selbst ersonnen und erdacht hat, davon muß sie auch Rechenschaft geben können, denn sie muß doch wissen, was sie dabei beabsichtigt und gedacht hat. Eben daher kann auch von jeder Wissenschaft eine deutliche, vollständige und zu allen Zeiten gültige Erklärung gegeben werden, und zu dieser Erklärung wird man dadurch geführt, daß man den Absichten der Vernunft nachforscht, welche einer Wissenschaft zugrunde liegen. Da nun überdies eine Absicht der Ausführung derselben immer vorhergeht, und die Vernunft Entwürfe machen kann, deren Ausführbarkeit ihr noch unbekannt ist; so hängt die Möglichkeit und Richtigkeit der Erklärung einer Wissenschaft gar nicht von der Wirklichkeit derselben ab. Wenn daher auch in der Erkenntnis keines einzigen Menschen etwas enthalten wäre, noch auch jemals enthalten sein könnte, was dem Begriff einer gewissen Wissenschaft entspricht, so würde gleichwohl dieser Begriff nach seinen bestimmten und unveränderlichen Merkmalen angegeben werden können.

Eine gleiche Bewandtnis hat es mit der Wissenschaft der Philosophie. Sie bezieht sich auf einen besonderen Zweck der Vernunft, und die deutliche oder verworrene Erkenntnis dieses Zwecks hat alle Bearbeitungen der Philosophie veranlaßt, geleitet und ihnen ein bestimmtes Ziel gesteckt. Wenn wir also über den Zweck der Vernunft, welcher der Philosophie zugrunde liegt, nachdenken, und die Beschaffenheit desselben aufsuchen; so erhalten wir eine richtige Einsicht von den Merkmalen der Philosophie. Und obgleich diese Wissenschaft noch gar nicht vorhanden sein, ja sogar zu denjenigen Entwürfen der Vernunft gehören sollte, die wegen des Mangels tauglicher und hinlänglicher Mittel niemals ausgeführt werden könnten; so würden doch die ihr wesentlich zukommenden Merkmale vollständig und bestimmt angegeben werden können. Sollte sich nun überdies noch darlegen lassen, daß die Ursachen, welche die Verschiedenheiten in der Erklärung der Philosophie hervorgebracht haben, nicht in der Vernunft selbst, sondern in der Denkungsart der Bearbeiter dieser Wissenschaft enthalten sein; so würde umso weniger an der Möglichkeit eines bestimmten und feststehenden Begriffs der Philosophie gezweifelt werden können.


Der Philosophie liegen mehrere Zwecke der Vernunft zugrunde. Einige dieser Zwecke hat sie mit anderen Erkenntnissen gemein; einige kommen ihr ausschließlich zu, und enthalten den spezifischen Unterschied derselben von jeder anderen Wissenschaft. Wir wollen mit der Erörterung jener Zwecke den Anfang machen.

Diejenige Erkenntnis, welche Philosophie sein soll, wird nicht durch die Sinne, oder durch Erfahrung gegeben, sondern durch die Selbsttätigkeit der Vernunft (worunter wir hier das Bestreben des Gemüts, sich der Notwendigkeit seiner Erkenntnisse bewußt zu werden, verstehen) erzeugt, und muß den Bedürfnissen der Vernunft völlig angemessen oder Wissenschaft im eigentlichen Sinn dieses Wortes genommen, sein. Durch die Zergliederung der Merkmale einer wissenschaftlichen Erkenntnis erhalten wir demnach auch Merkmale, die der Philosophie wesentlich zukommen.

Jede Wissenschaft muß als solche, und nach der Idee davon, eine Erkenntnis sein, die apodiktische Gewißheit hat, und deren Teile in einem durch objektiv gültige Regeln bestimmten Zusammenhang mit einander stehen.

Eine Erkenntnis hat apodiktische Gewißheit, wenn sie vom Bewußtsein der Notwendigkeit ihrer Wahrheit begleitet wird. Soll demnach die Philosophie eine eigentliche Wissenschaft ausmachen, so müssen ihre Lehren so beschaffen sein, daß die Wahrheit des Gegenteils derselben gar nicht weiter denkbar ist. Besonders gilt dies von all denjenigen Sätzen der Philosophie, in welchen die letzten oder absoluten Gründe des Bedingten, deren Erkenntnis den Hauptzweck der Philosophie ausmacht, angegeben und bestimmt werden. Denn da diese Sätze bloß aus der Vernunft selbst, und zumindest nicht aus der Erfahrung geschöpft werden können; bloße und von aller Erfahrung abgesonderte Vernunft aber entweder etwas wissen, oder außerdem sich allen Urteilens enthalten muß: So gibt es so lange noch keine wissenschaftliche und folglich auch gar keine Philosophie, als jenen Sätzen die apodiktische Gewißheit fehlt.

Die Erkenntnis, welche apodiktische Gewißheit besitzt, bleibt immer dieselbe, und ist keiner Veränderung fähig. Soll also die Philosophie eine Wissenschaft ausmachen, so müssen ihre Lehren und Behauptungen keiner Veränderung weiter unterworfen, sondern über jeden Wechsel erhaben sein, und zu aller Zeit gültig bleiben. Hiermit wollen wir jedoch nicht behauptet haben, daß die Philosophie, nachdem sie als Wissenschaft gefunden und aufgestellt worden sein sollte, weiter gar keiner Verbesserung und Erweiterung fähig sein kann. Denn dadurch, daß etwa die Einsicht des Inhalts und des Zusammenhangs ihrer Lehren nach und nach mehrere Deutlichkeit erhält, würde sie selbst nicht verändert werden. Besonders aber kann die Erkenntnis von dem, was aus den Grund- und Lehrsätzen der Philosophie folgt, des wissenschaftlichen Charakters dieser Sätze unbeschadet, sich beständig erweitern und an Umfang zunehmen, indem die Überzeugung von der Wahrheit und Gewißheit derselben gar nicht von der Erkenntnis ihrer Folgen abhängt, und die Vernunft die Wahrheit eines Prinzips auf das Vollkommenste und Deutlichste einsehen kann, ungeachtet sie von dem, was aus demselben folgt, nur noch eine sehr eingeschränkte Erkenntnis besitzt. So erhebt die reine Mathematik vermöge der Beschaffenheit ihrer Prinzipien schon längst auf den Namen einer Wissenschaft gegründete Ansprüche, und man kann ihr diese Ansprüche, weder deswegen, weil die Beweise mancher Lehrsätze in derselben nach und nach geschärft und deutlicher vorgetragen worden sind, noch auch deswegen streitig machen, weil sie unaufhörlich fortrückt oder an Umfang zunimmt, und keineswegs eine geschlossene Erkenntnis ausmacht, sondern vielmehr einem Zirkel gleicht, dessen Mittelpunkt zwar unbeweglich fest steht, dessen Umkreis sich aber beständig erweitert.

Zur Erkenntnis, die Wissenschaft sein soll, ist ferner ein durch objektive Gründe bestimmter Zusammenhang ihrer Teile erforderlich. Es tut nämlich der Vernunft noch lange nicht Genüge, daß Erkenntnisse von allem Widerspruch frei sind, und nebeneinander bestehen können; sondern aller Willkür und Zufälligkeit feind strebt sie unaufhörlich danach, den Erkenntnissen, die ihr entweder bloß durch eigene Anstrengung oder mittels der übrigen Gemütskräfte zuteil geworden sind, Zusammenhang und Einheit zu geben.

Mannigfaltige Erkenntnisse besitzen dann die zu einer Wissenschaft nötige Einheit, wenn sie nach der Idee von einem Ganzen, welche die Zahl der Teile derselben, das Verhältnis des einen Teils zu den übrigen Teilen und zum Ganzen, endlich auch die Stelle bestimmt, den jeder Teil einnehmen muß, verbunden worden sind. Die mittels einer solchen Idee, welche sowohl nach den Regeln der Verbindung der Dinge in der Erfahrung, als auch nach den Regeln der Verbindung der Begriffe und Urteile im Verstand entworfen worden sein kann, vereinigte Erkenntnis gleicht in der Anordnung ihrer Teile der Verknüpfung der Teile in einem tierischen Körper, bei welchem kein überflüssiger Teil, noch auch der Mangel eines zum Zweck des Tieres nötigen Teils stattfindet, und jeder Teil an dem seiner Bestimmung angemessenen Ort befindlich ist. Die aller größe Vollendung der Verknüpfung mannigfaltiger Erkenntnisse ist aber die systematische Einheit derselben, welche darin besteht, daß Erkenntnisse in einem einzigen oberstenn Grundsatz (oder in einem einzigen Begriff) zusammenhängen, und daraus sämtlich, durch bloße Zergliederung seines Inhalts, abgeleitet werden können.

Es ist gar nicht zu leugnen, daß die Vernunft allererst durch diese systematische Einheit der Erkenntnisse vollkommen befriedigt wird. Daher ist sie auch derselben zu allen Zeiten so eifrig nachgegangen, daß es eben nicht nötig ist, das Streben danach zu verstärken, sondern in vielen Fällen sogar nützlicher sein dürfte, dieses Streben zu mäßigen und ihr bei der Befriedigung desselben Vorsicht einzuschärfen; weil es sehr leicht dazu Anlaß geben kann, die Unterschiede, die an unseren Begriffen und Erkenntnissen vorkommen, gänzlich zu übersehen, und anstatt sich mit Realitäten zu beschäftigen, mit bloßen Begriffen und allgemeinen Urteilen zu spielen.

Obgleich aber die systematische Einheit einer Erkenntnis, welche die Ordnung der Teile derselben absolut notwendig macht, für die wesentlichen Zwecke und Bedürfnisse der Vernunft höchst wichtig ist; So kann man doch nicht sagen, daß diese Einheit bei derjenigen Erkenntnis, die Wissenschaft sein soll, schlechterdings unentbehrlich ist. Denn es wird z. B. wohl niemand der reinen Geometrie den Namen einer Wissenschaft streitig machen wollen, obgleich ihr die systematische Einheit gänzlich mangelt und die verschiedenen Axiome derselben noch nicht auf ein einziges oberstes Axiom haben zurückgeführt werden können. Gesetzt also auch, daß die mannigfaltigen Erkenntnisse der Philosophie nicht in einer einzigen höchsten Erkenntnis, so jene insgesamt begründete und aus der sie alle abstammen, zusammenhängen, oder daß sich gar nichts entdecken läßt, wodurch die höchsten Gründe des Erkennens, Begehrens und Fühlens in einer notwendigen Verwandtschaft stehen und einander gleichartig sind; so würde doch schon dieses, daß die der Philosophie eigentümlichen Erkenntnisse zu einem obersten Zweck zusammenstimmen und alle Arten der Zustände des menschlichen Gemüts betreffen, eine Einheit derselben begründen, vermöge der sie ein Ganzes ausmachen, dessen Idee die Zahl und das wechselseitige Verhältnis ihrer Teile bestimmt. Es ist schön und der Vernunft sehr willkommen, wenn alle Sätze und Lehren einer Wissenschaft aus einem einzigen höchsten Grundsatz abgeleitet werden können, oder gleich den Strahlen eines Zirkels von einem einzigen Punkt ausgehen und die Aufsuchung einer solchen ganz vollendeten Einheit in unserer Erkenntnis bezieht sich allerdings auf das Interesse der Vernunft: Nur behaupte man aber nicht, daß dasjenige, was eigentlich den Wissenschaften doch nur zur Zierde gereicht, zur Wirklichkeit derselben und zur Überzeugung von der Wahrheit ihren Lehren schlechterdings unentbehrlich ist.

Was nun aber den spezifischen Unterschied der Philosophie von jeder anderen Wissenschaft anbetrifft, so beruth derselbe gleichfalls auf einem besonderen Bestreben unserer Vernunft, und die Natur dieses Bestrebens bestimmt den Inhalt derjenigen Untersuchungen, welche der Philosophie ausschließlich und sonst weiter keiner anderen Wissenschaft zukommen.

Vermöge einer ursprünglichen Einrichtung unseres Gemüts haben wir nämlich ein Verlangenn, zu allem, was nach unserer Einsicht nur bedingter Weise existiert, den letzten und unbedingten Grund, d. h. einen solchen aufzusuchen, in Anbetracht dessen nicht nach einem anderen Grund wovon er wieder abhängig wäre, weiter gefragt werden kann und darf. Durch die Befriedigung dieses Verlangens, dessen wir uns bald mehr, bald weniger deutlich bewußt sind, geschieht allererst der Vernunft, aus der es unmittelbar abstammt, ein Genügen, so daß ihr das Dasein des Bedingten solange noch rätselhaft und unbegreiflich bleibt, und sie ihre Nachforschungen über dessen Dasein noch für unvollendet oder unbeendet hält, als sie noch nicht einen höchsten absoluten Grund davon ausfindig macht.

Man muß aber dieses [psychologische - wp] Bedürfnis unserer Vernunft, einen unbedingten und absoluten Grund des bedingterweise Existierenden aufzusuchen, nicht mit einem anderen Bedürfnis unserer geistigen Natur verwechseln, welches vielleicht wohl mit jenem aus einerlei Quelle abstammen mag, aber dessen Befriedigung keineswegs auch die Befriedigung des ersten Bedürfnisses in sich schließt, sondern auf ein ganz anderes Ziel gerichtet ist, und zwar auf eine vollendete Einsicht der Bedingungen der Wahrheit unserer Urteile.

Die Natur unseres Verstandes bringt es nämlich mit sich, daß derselbe auf keine objektiv gültige (nicht bloß problematische) Art über etwas urteilen kann, ohne das Urteil worauf zu stützen, und ohne allein Grund, er werden nun entweder deutlich eingesehen oder nur dunkel geahnt, er sei ein wahrer oder ein bloß scheinbarer Grund, kann einem Subjekt weder ein positives, noch auch negatives Prädikat beigelegt werden. Denn da ein Gedanke die dadurch gedachte Sache nicht selbst ist, so muß außer der bloßen Möglichkeit desselben, die in der Abwesenheit eines Widerspruchs besteht, noch etwas gegeben sein, wodurch er eine Beziehung auf das dadurch gedachte Objekt erhält. Ist nun der Grund eines solchen Urteils noch unbekannt, und nicht schon mit dem Bewußtsein des Urteils gegeben, so daß wir noch fragen dürfen, warum das Prädikat desselben dem Subjekt beizulegen ist, so suchen wir eine Erkenntnis auf, woraus die objektive Gültigkeit des für sich genommen noch ungewissen Urteils abgeleitet werden kann, und erhalten durch dergleichen Ableitung einen Schluß, dessen Vordersätze die objektive Gültigkeit oder Wahrheit des Schlußsatzes bedingen. Sind die Vordersätze dieses Schlusses gleichfalls noch nicht gewiß; so müssen sie abermals durch einen Schluß begründet werden: Und die Prämissen dieses Schlusses bedürfen wiederum eines Beweises, wenn die Wahrheit derselben auch ungewiß sein sollte. Auf diese Art steigt der Verstand einem wesentlichen Bedürfnis gemäß, um zu objektiv gültigen Urteilen gelangen zu können, mittels lauter Schlüssen, von Urteilen, die für sich genommen noch ungewiß sind, zu ausgemachten Sätzen oder zu sogenannten Prinzipien empor, und wird allererst durch solche Prinzipien in den Stand gesetzt, auf eine assertorische Art über etwas urteilen zu können.

Man würde sich aber sehr irren, wenn man glauben wollte, daß durch die Aufsuchung und Entdeckung der letzten und unbedingten Gründe objektiv gültiger Urteile zugleich auuch das der Philosophie zugrunde liegende Bedürfnis der Vernunft befriedigt würde. Der seinem Inhalt nach bloß logische Grundsatz, daß jedes wahre Urteil sich auf eine unbedingt gültige Erkenntnis stützen muß, ist vielmehr nur die allgemeine Regel, nach welcher jeder Gebrauch des Verstandes geleitet werden muß, wenn dadurch irgendeine vollendete und hinreichend begründete Einsicht der Wahrheit, sie sei philosophischen Inhalts, oder nicht, erzeugt werden soll; und indem z. B. der Geomater die Demonstration eines Lehrsatzes bis zu den Axiomen seiner Wissenschaft fortführt, so hat er zwar eine in Anbetracht ihrer Gründe vollendete Reihe von Urteilen, aber noch gar nicht von dem aufgestellt, was zum eigentümlichen Gehalt der Philosophie gehört.

Um diesen Inhalt genauer bestimmen zu können, muß man eine unbedingte und in sich selbst vollendete Erkenntnis von der Erkenntnis des Unbedingten sorgfältig unterscheiden. Jenne ist in jeder wahren Wissenschaft vorhanden, die nur dadurch eigentliche Wissenschaft ist, daß sie vermöge der Prinzipien, worauf sie sich stützt, eine unbedingte Erkenntnis ausmacht. Diese aber ist das Eigentum der Philosophie, und bezieht sich auf ein besonderes Bedürfnis unserer Vernunft, welches von ganz anderer Art, als dasjenige Bedürfnis ist, vermöge dessen wir unseren Urteilen über Dinge außerhalb des Verstandes Gewißheit zu verschaffen trachten. Die Vernunft will nämlich nicht bloß die assertorischen Urteile vollständig begründet, sondern auch das bedingterweise Existierende durch die Angabe seiner höchsten Ursache erklärt wissen, und ihre Ntaur treibt sie dazu an, den Ursachen des bedingten Daseins so lange nachzuforschen, bis sie eine Ursache desselben entdeckt hat, die für sich und durch sich selbst besteht, die von keiner anderen Ursache abhängig ist, und das Dasein des Bedingten vollständig begreiflich macht. Sie setzt hierbei voraus, teils daß von allem, was bedingterweise existiert, auch eine unbedingte Ursache vorhanden sein muß, teils daß diese unbedingte Ursache sich wohl ausfindig machen lassen muß. Dieses Verlangen unserer Vernunft nun, sich das Dasein des bedingterweise Existierenden durch die Ableitung von einer unbedingten Ursache begreiflich zu machen, hat alle Philosophie veranlaßt, und der menschliche Geist würde niemals auf philosophische Spekulationen verfallen sein, wenn ihn nicht jenes Verlangen angetrieben hätte, über das Gebiet des Bedingten hinauszugehen, und außerhalb desselben einen Punkt aufzusuchen, woran die ganze Kette der bedingten Dinge befestigt werden kann. Aus diesem Verlangen unserer Vernunft stammt das Interesse ab, das die Philosophie für den Menschen hat; und sollte jemals in der menschlichen Vernunft das Bedürfnis, der Urquelle des Bedingten und Zufälligen nachzuforschen, verschwinden, so würde auch die Philosophie allen Reiz für die menschliche Wißbegierde verlieren. Durch dieses Verlangen unserer Vernunft wird endlich das Ziel aufgestecktf, das wir in der Philosophie zu erreichen suchen müssen, oder derjenige Zweck dieser Wissenschaft bestimmt, auf den sich zuletzt der Inhalt aller Lehren und Untersuchungen in derselben entweder unmittelbar oder mittelbar beziehen muß; und Philosophie ist nur insofern wirklich vorhanden, als eine Erkenntnis vorhanden ist, die jenes Verlangen unserer Vernunft vollständig befriedigt.

Es entsteht hierbei die Frage: Von welchen bedingten Dingen die Philosophie die unbedingten Ursachen anzugeben hat? Die Antwort auf diese Frage ist, daß eigentlich alles Bedingte, dessen Existenz für uns gewiß ist, in der Philosophie aus einer letzten und unbedingten Ursache begreiflich zu machen ist. Denn da es zum Bedürfnis unserer Vernunft gehört, zu jeder bedingten Existenz eine unbedingte, als die höchste Quelle von jener, aufzusuchen und die Philosophie ein Befrieidungsmittel dieses Bedürfnisses sein soll; so sieht man leicht, daß letztere ihren Zwecken so lange noch nicht entspricht, als im Umfang der existierenden Dinge etwas vorhanden ist, wovon sie die letzte Ursache nachzuweisen nicht vermag. Jede Unbegreiflichkeit in Anbetracht der vorhandenen Dinge, die ein philosophisches System übrig läßt, macht daher dasselbe auch unfähig, der Vernunft Genüge zu tun, und entfernt es von dem Ziel, auf dessen Erreichung die der Philosophie zugrunde liegende Absicht gerichtet sein muß.

Fassen wir nun dasjenige zusammen, was durch die bisherigen Untersuchungen über die Absichten der Vernunft, worauf sich die Philosophie bezieht, dargelegt worden ist, so muß diese durch die Wissenschaft der obersten und unbedingten Ursachen alles Bedingten, von dessen Wirklichkeit wir Gewißheit haben,' erklärt werden.

Was es aber auch immer mit der Möglichkeit und Wirklichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie für eine Bewandtnis haben mag; so ist doch unleugbar, daß die eben gegebene Erklärung derselben die wesentlichen Merkmale dieser Wissenschaft mit Ausführlichkeit und Zuverlässigkeit bestimmt, und daher auch zum Probierstein dessen was als Philosophie ausgegeben wird, gebraucht werden kann. DIese Erklärung ist nämlich erstens so beschaffen, daß sie nur auf die Philosophie, und weiter auf keine andere wissenschaftliche Erkenntnis, besonders nicht auf Mathematik und Naturwissenschaft paßt, deren Unterschiede von der Philosophie vielmals verkannt worden sind. Denn jene beiden Wissenschaften sollen zwar eine unbedingte und in Anbetracht ihrer Wahrheitsgründe vollendete Erkenntnis, aber keine Erkenntnis von etwas unbedingt Existierendem liefern, und man würde deren Grenzen überschreiten, wenn man in der Mathematik die absoluten Ursachen unserer Erkenntnisse von Größen, in der Physik hingegen die absoluten Ursachen des Daseins der Körper und der Gesetze ihrer Veränderungen angeben wollte. Wir können zweitens auch Gewißheit haben, daß an der Wissenschaft der Philosophie niemals andere Merkmale werden ausfindig gemacht werden, als welche in der obigen Erklärung derselben angeführt worden sind. Denn was auch immer für Veränderungen der Philosophie noch bevorstehen mögen, oder zu welchem Grad der Vollkommenheit sie noch künftig mag erhoben werden; so muß sie doch eine Wissenschaft der obersten und unbedingten Ursachen des bedingterweise Existierenden sein und bleiben. Weniger als eine wissenschaftliche Erkenntnis dieser unbedingten Ursachen darf sie nicht enthalten, wenn sie eine Philosophie sein soll. Noch mehr, als eine solche Erkenntnis, kann sie aber auch nicht gewähren. Folglich haben wir in der obigen Erklärung der Philosophie die unveränderlichen Merkmale derselben angegeben. Drittens ist meine Erklärung der Philosophie weiter keines Beweises bedürftig, denn sie ist lediglich aus der Absicht der Vernunft, die der Philosophie zugrunde liegt, geschöpft, und enthält nichts anderes, als die Bestandteile dieser Absicht; man darf sie daher nur mit der Idee der Vernunft von der Philosophie zusammenhalten, um sich davon deutlich zu überzeugen, daß sie mit ihrem Objekt vollkommen übereinstimmt und also wahr ist. Sie besitzt folglich alle zu einer schulgerechten Erklärung nötige Eigenschaften; und man kann die Philosophie entweder nur als eine wissenschaftliche Erkenntnis der absolut ersten Bedingungen des bedingterweise Existierenden denken oder man hat gar keinen Begriff davon.

Ehe ich aber weiter gehe, muß wohl noch einer Einwendung gegen die eben aufgestellte Bestimmung der Merkmale des Begriffs der Philosophie Erwähnung geschehen, die zu wichtig ist, als daß sie gänzlich mit Stillschweigen übergangen werden dürfte.
    "Obgleich es wahr ist", - wird nämlich mancher Anhänger des kritischen Idealismus sagen, - "daß man ursprünglich in der Philosophie eine Erkenntnis der höchsten und unbedingten Gründe existierender Dinge beabsichtigte, so ist doch auch ganz unleugbar, und läßt sich auf das Klarste darlegen, daß der Zweck, den man ehemals durch die Philosophie erreichen wollte, ohne Überlegung gefaßt worden ist und daher auch schon längst als ganz unerreichbar hätte aufgegeben werden sollen. Allerdings kann zwar die Vernunft in ihren Nachforschungen über die Gründe des Vorhandenen nicht beim Bedingten stehen bleiben, und durch die Erkenntnis desselben keineswegs befriedigt werden. Wenn sie aber ihr ganzes Vermögen zu einer realen Erkenntnis genau untersucht, so wird sie auch gar bald inne, daß sie Nichts versteht und begreift, als sofern es unter gegebenen Bedingungen bestimmt ist, und in das Gebiet der Erfahrungen, in welchem alles bedingt ist, gehört. Wird sie daher durch Wißbegierde aufgefordert, das absolute und unbedingte Ganze aller Bedingungen zu fassen; so bleibt ihr nichts anderes übrig, als von den Nachforschungen über die ersten Gründe der Dinge zu den Nachforschungen über die ersten Gründe ihrer Erkenntnisse und über die Grenzen des Gebrauchs ihres eigenen Vermögens überzugehen. Die echte Philosophie hat also keineswegs die Absicht, unsere Erkenntnis bis über die Erfahrung hinaus zu dem, was unbedingterweise vorhanden sein mag, zu erweitern, und alle Bemühungen, unserer Erkenntnis durch die Philosophie eine solche Erweiterung zu verschaffen, sind bisher fruchtlos gewesen; ja werden es auch jederzeit bleiben, weil sie der Bestimmung und Natur unserer Erkenntniskräfte widersprechen: Aber um den richtigen Gebrauch dieser Kräfte zu bestimmen, und dieselben vor jeder Verirrung in das Gebiet des Übersinnlichen, wo uns durch die größte Anstrengung doch nur Täuschungen und Blendwerke zuteil werden können, zu verwahren, dazu ist Philosophie mit all ihrer Kunst und Scharfsinnigkeit erforderlich, und darin besteht auch der wahre und erreichbare Zweck derselben. Es hat daher mit der Philosophie, insofern sie eine wissenschaftliche Erkenntnis des Unbedingten sein soll, gerade dieselbe Bewandtnis, wie mit manchem anderen Ziel der menschlichen Bestrebungen, in Anbetracht dessen wir erst durch viele mißlungene Versuche, es zu erreichen, haben überzeugt werden müssen, daß es für unsere Kräfte zu weit ausgesteckt ist, als daß wir jemals zu demselben gelangen könnten. Folglich erklärt und bestimmt man nur ein Hirngespinst, wenn man von der Philosophie sagt, sie sei die Wissenschaft der obersten und unbedingten Gründe aller existierenden Dinge; vielmehr soll die wahre Philosophie uns vor aller Beschäftigung mit diesem Hirngespinst, das die menschliche Vernunft lange genug getäuscht und vom richtigen Gebrauch ihres Vermögens abgehalten hat, verwahren, und diejenigen Anwendungen unserer Erkenntniskräfte, die der Natur derselben angemessen sind, bestimmen." -
So sehr es nun aber auch den Anschein haben mag, als wenn in dieser Einwendung ein ganz neuer Zweck der Philosophie festgesetzt würde, so läßt sich doch leicht und hinlänglich darlegen, daß der kritische Idealist entweder keine andere Absicht bei seinem Philosophieren hat, als die man in der Philosophie von jeher gehabt hat, und von uns im Vorhergehenden angegeben worden ist, nur aber dieselbe durch andere Mittel zu erreichen sucht, als durch welche man sie ehemals ausführen zu können glaubte; oder daß er in seiner Wissenschaft etwas ganz anderes, als Philosophie treibt und diese also ganz und gar nicht durch jene für die Vernunft entbehrlich macht.

Wir haben nämlich in unserer Angabe des Zwecks und der Merkmale der Philosophie nicht behauptet, daß sie eine Wissenschaft solcher unbedingten Gründe ausmachen muß, die außerhalb unseres Gemüts existieren; sondern nur überhaupt gesagt, daß sie es mit der Erforschung der unbedingten Gründe des Bedingten zu tun hat, darüber aber noch gar nichts bestimmt, ob das Unbedingte und Absolute, dessen Erkenntnis den Inhalt der Philosophie ausmacht, in uns oder außerhalb von uns befindlich sein muß. Nun gehört zum Bedingten, das in der Philosophie zu erklären ist, auch der ganze Inbegriff unserer Erkenntnisse, und die Frage: Welches die obersten Gründe des menschlichen Erkennens sind? ist folglich eine Frage der Philosophie. Inwiefern also der kritische Idealismus die absoluten Gründe der menschlichen Erkenntnis von Dingen aufsucht, insofern treibt er gerade dasjenige Geschäft, worin nach meiner obigen Behauptung das Wesen der Philosophie besteht. Was aber dieser Idealismus über die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens bestimmt, das ist eine bloße Folgerung aus demjenigen, was er über die obersten Gründe und Bedingungen des Erkennens zu wissen glaubt, und gehört insofern in die Philosophie, als es von Behauptungen abhängig ist, die wahrhaft philosophischen Inhalts sind. - Sollte hingegen der kritische Idealismus gar nicht die Absicht haben, die obersten und absoluten Gründe unserer Erkenntnis von Dingen anzugeben, so würde er das Verlangen unserer Vernunft, das Dasein des Bedingten aus dem Unbedingten zu begreifen, nicht befriedigen, und daher auch den Rahmen und Würde der Philosophie sich nicht zueignen können, sondern wenn er auch alles leisten würde, was er zu leisten verspricht, doch nur eine wissenschaftliche Physik der menschlichen Erkenntniskräfte liefern. Und da nun einmal die Natur unsere Vernunft mit dem unvertilgbaren Bestreben versehen hat, der Urquelle alles Wirklichen nachzuforschen; so ist es ganz vergeblich, nachdem man ihre Wißbegierde in Anbetracht der Gründe der menschlichen Erkenntnis von Dingen rege gemacht hat, diese Wißbegierde mit einer solchen Physik, die nur auf bedingte Gründe unserer Erkenntnis führt, abfertigen zu wollen; und es ist unvermeidlich, daß denkende Köpfe, die das Bedürfnis der Vernunft genauer ins Auge gefaßt haben und in einer solchen Physik einige Hinweise auf Wahrheit entdeckt zu haben glauben, von derselben bloß Veranlassung nehmen, den absoluten Gründen der menschlichen Erkenntnis weiter nachzuforschen, um dasjenige, was jene unvollendet gelassen hat, dem Bedürfnis der Vernunft gemäß gänzlich zu beenden.

Doch ich werde in der Folge vom Zweck des transzendentalen Idealismus noch ausführlicher handeln und dann finden, daß er allerdings auch auf die Entdeckung der unbedingten Gründe des bedingterweise Existierenden ausgeht, in der von seinem Urheber erhaltenen Form aber diese Entdeckung nicht auf eine theoretische Einsicht von den Dingen, sondern auf die moralischen Bedürfnisse des Menschen gestützt wissen will. Jetzt will ich nur noch die Aufmerksamkeit auf einige in der obigen Erklärung der Philosophie enthaltenen Punkte schärfen.

Wenn der Zweck der Philosophie hauptsächlich auf die Erkenntnis der unbedingten Ursachen des Bedingten gerichtet ist; so muß man die der Philosophie eigentümlichen Urteile von den "zur Philosophie gehörigen Urteilen sorgfältig unterscheiden. Zu jenen gehören alle Urteile, in welchen die letzten oder unbedingten Gründe von irgendeinem Etwas angegeben werden, das bedingterweise existiert. Sie machen das wahre Eigentum der Philosophie aus, und sind nur in dieser Wissenschaft einheimisch, in jeder anderen aber fremd, oder überflüssig, wo nicht gar schädlich und den Zwecken derselben zuwider. Die zur Philosophie gehörigen Urteile sind hingegen solche, in welchen die Eigenschaften von irgendeinem bedingten Etwas, das durch die Philosophie erklärt und begreiflich gemacht werden soll, angegeben werden. Sie machen die Materialien aus, welche in der Philosophie, dem eigentümlichen Zweck derselben gemäß, bearbeitet werden müssen, und kommen auch in anderen Wissenschaften vor, werden aber in diesen meistenteils zu ganz anderen Absichten gebraucht, als in jener. So sind z. B. die Urteile, daß die Lehren der reinen Geometrie insgesamt apodiktische Gewißheit haben und daß es Gesetze gibt, nach welchen die Veränderungen in der Sinneswelt bestimmt werden, lauter zur Philosophie gehörige Sätze. Dasselbe gilt auch von den Nominalerklärungen des Raums, der Substantialität, Kausalität, der sittlichen Güte freier Handlungen, des Rechts, der Schönheit und von allen Sätzen, die irgendeine sogenannte Tatsache des Bewußtseins ausdrücken. Die Urteile hingegen, in welchen der oberste Grund der Gewißheit der Geometrie, der Gesetze der Natur, und unserer Begriffe vom Raum, von der Substanz, Kausalität, sittlichen Güte, vom Recht, von der Schönheit und von anderen Tatsachen unseres Bewußtseins angegeben und bestimmt wird, sind Sätze, die der Philosophie eigentümlich angehören. Denn sie haben auf den besonderen Zweck dieser Wissenschaft eine Beziehung.

In Anbetracht desjenigen nun, was in der Philosophie durch die Angabe seiner obersten Ursache erklärt und begreiflich gemacht werden soll, ist ganz vorzüglich darauf zu sehen, daß die Existenz desselben, so wie auch die Existenz all der Eigenschaften und Bestimmungen, die ihm beigelegt werden, nicht problematisch, sondern ganz gewiß ist. Denn sonst treibt man in dieser Wissenschaft ein leeres Spiel und ganz unnütze Arbeit. Wenn etwa jemand die Beschaffenheiten solcher Wesen, welche den Sonnenkörper bewohnen sollen, aus einer absoluten Ursache ableiten würde, die deren Dasein und Bestimmung auf das vollkommenste erklärt und begreiflich macht, so würde doch dergleichen Erklärung für nichts mehr, als für ein bloßes Hirngespinst gehalten werden können, und zwar lediglich aus dem Grund, weil wir vom Dasein jener Wesen Gewißheit haben. Ebenso verhält es sich mit allen philosophischen Erklärungen, die das betreffen, was seinem Dasein nach noch problematisch ist. Denn nur bei demjenigen, wovon wir schon überzeugt sind, daß es existiert, entsteht in der Vernunft das Verlangen, einen obersten und unbedingten Grund davon aufzusuchen, und alle philosophische Spekulationen müssen daher den absoluten Grund von etwas unleugbar Wirklichen angehen.

Der oberste und unbedingte Grund aber, aus welchem in der Philosophie das Bedingte begreiflich zu machen und abzuleiten ist, muß, wenn diese Wissenschaft der Vernunft Genüge tun und in ihr Überzeugung und Einsicht (nicht bloße Vermutungen, womit der Vernunft gar nicht gedient ist) hervorbringen soll, so beschaffen sein, daß daraus die Bestimmungen des Bedingten als notwendig erkannt werden. Jedes Gegründete ist nämlich nur insofern aus einem Grund begreiflich, als der Zusammenhang des Gegründeten mit dem Grund eingesehen worden ist, und dieser Zusammenhang muß, als solcher, eine notwendige Verbindung jenes mit diesem ausmachen. Man darf es also in der Philosophie nicht dabei bewenden lassen, daß man irgendetwas, so als unbedingt gedacht wird, angibt, und an die Spitze des Bedingten stellt; denn dies macht das Unbedingte, woraus in der Philosophie das Bedingte erklärt und abgeleitet wird, so beschaffen sein, daß durch die Setzung desselben zugleich auch alle Bestimmungen des Bedingten gesetzt und als notwendig erkannt werden; und man hat daher von dem, was zum wesentlichen Zweck der Philosophie gehört, noch gar nichts geleistet, wenn man in ihr ein unbestimmtes und gänzlich unbestimmbares Etwas als die oberste Quelle des Bedingten ausgibt.



Zur Bestätigung der Richtigkeit unserer Erklärung der wissenschaftlichen Philosophie wird es sehr viel beitragen können, wenn wir noch die Ursachen aufsuchen, welche die Uneinigkeit erzeugt haben, die unter den Philosophen in Anbetracht der Bestimmung der wesentlichen Merkmale des Begriffs von ihrer Wissenschaft zu allen Zeiten stattgefunden hat. Sollten nämlich diese Ursachen nicht in der ursprünglichen Idee der Vernunft von einer Philosophie, sondern in der subjektiven Denkungsart der Philosophen enthalten sein, so würde daraus folgen, daß durch unsere obige Entwicklung der wesentlichen Merkmale der Philosophie, insofern auf dieselbe eine solche subjektive Denkungsart keinen Einfluß gehabt hat, die Zahl der veränderlichen, unsicheren und deshalb auch zur Prüfung der Systeme der Philosophie untauglichen Erklärungen dieser Wissenschaft, nicht noch unnützerweise vermehrt worden ist. Von den subjektiven Ursachen der Uneinigkeit der Philosophen in der Bestimmung der Merkmale der Philosophie wollen wir jedoch jetzt nur die erheblichsten anführen.

Allen Bestrebungen, eine gewisse Wissenschaft zustande zu bringen, liegt freilich jedesmal eine Idee von dieser Wissenschaft und vom Zweck derselben zugrunde. Allein diese Idee ist oftmals nur dunkel und verworren im Gemüt desjenigen vorhanden, welcher derselben gemäß gewisse Erkenntnisse aufsucht und ordnet; und es ist meistenteils der Fall gewesen, daß die Vernunft nur erst dann, nachdem sie schon viele Versuche angestellt hatte, die Idee einer Wissenschaft zu realisieren, zu diesem Zweck schon mancherlei Bauzeug gesammelt hatte und auf verschiedene Arten zu einem Ganzen zu verbinden bemüht gewesen war, die Merkmale dieser Idee mit Deutlichkeit wahrgenommen hat. Aus diesem Umstand läßt sich leicht begreifen, warum gewisse Erkenntnisse oft Jahrhunderte hindurch mit großem Eifer bearbeitet worden sind, ohne daß ihre Bearbeiter sich über den Inhalt, die Erfordernisse und die Grenzen derselben miteinander vereinigen konnten, und warum es insbesondere so lange gedauert hat, ehe Erkenntnisse ganz verschiedener Art gehörig voneinander unterschieden wurden. Zu einer solchen Unterscheidung wäre nämlich eine ganz deutliche Idee vom eigentümlichen Zweck jeder dieser Erkenntnisse erforderlich gewesen, und solange eine solche Idee (die selten der ersten Bearbeitung einer Erkenntnis vorhergeht, sondern meistenteils erst nach vielen Anstrengungen, sie zustande zu bringen, folgt) fehlte, solange war auch die Vermischung verschiedenartiger Erkenntnisse unvermeidlich. - Mit der Idee der Philosophie, hat es nun dieselbe Bewandtnis. Diese Idee hat zwar alles Philosophieren veranlaßt und darauf einen fortdauernden Einfluß gehabt; aber die Philosophen irrten in der Bearbeitung ihrer Wissenschaft lange Zeit um die Idee davon herum, ohne die Merkmale derselben deutlich zu kennen, und ohne das Ziel genau ins Auge gefaßt zu haben, nach welchem ihr Bestreben gerichtet war. Die Beschreibungen, welche die Philosophen von ihrer Wissenschaft gaben, konnten nun aber nicht wohl deutlicher und bestimmter sein, als die Idee war, welche sie von dieser Wissenschaft besessen haben. Es ist daher auch oftmals der Fall, daß man aus den Lehren der Spekulationen des Systems eines Philosophen den Endzweck des Systems weit deutlicher und richtiger kennenlernt, als aus der ausdrücklichen Erklärung, welche er von diesem Endzweck gegeben hat; denn der Erklärung lag vielleicht ein Begriff zugrunde, den er niemals im hellen Licht erblickte, obgleich die Bearbeitung seines Systems dadurch geleitet wurde.

Die Uneinigkeit der Philosophen in der Bestimmung der Mermale und des Zwecks ihrer Wissenschaft wurde ferner durch die zum Teil unvermeidliche Verschiedenheit der Erkenntnis vom Bedingten, davon in der Philosophie der oberste und absolute Grund angegeben werden soll, veranlaßt. Alle philosophische Spekulationen müssen sich nämlich auf Tatsachen beziehen, oder darauf ausgehen, den obersten Grund von einem Bedingten zu bestimmen, dessen Existenz gewiß ist. Die Erkenntnis desjenigen aber, was bedingterweise existiert, war nicht bei allen Philosophen dieselbe, und richtete sich nach dem Umfang und nach der Genauigkeit der Beobachtungen, welche jeder derselben über das Wirkliche angestellt hatte. Für den einen Philosophen war daher seinen Beobachtungen über das Existierende gemäß etwas Wirklichkeit und sogenannte Tatsache der Erfahrung, was dergleichen für den andern nicht war; der eine hatte am Wirklichen Eigentümlichkeiten kennengelernt, die dem anderen unbekannt geblieben waren; und jener suchte folglich auch durch sein System etwas Anderes begreiflich zu machen und zu erklären, als dieser. Wird nun etwa in den Erklärungen der Philosophie auf die Tatsachen Rücksicht genommen, deren erster und unbedingter Grund durch diese Wissenschaft angegeben werden soll, so müssen jene Erklärungen ebenso sehr voneinander abweichen, wie die Einsichten verschieden sind, welche die Bearbeiter der Philosophie von den Beschaffenheiten der wirklichen Dinge, die sie begreiflich machen wollen, besitzen. Wir werden in der Folge sehen, wie sehr zu allen Zeiten der Zweck der mancherlei Versuche, eine wissenschaftliche Philosophie zustande zu bringen, vom Inhalt und dem Reichtum der Einsichten abhängig gewesen ist, welche die Philosophen von der Natur des Wirklichen besessen haben.

Diesen beiden Gründen des Mangels der Übereinstimmung der Philosophen in der Erklärung der Merkmale ihrer Wissenschaft ist noch ein dritter (und unleugbar wohl auch wirksamste) Grund, nämlich die Uneinigkeit dieser Philosophen in Anbetracht dessen, was den ersten und unbedingten Grund des Bedingten ausmachen soll, beizufügen. Die Erkenntnis dieses Urgrundes alles Bedingten ist der eigentliche Zweck der Philosophie, und sie hört erst dadurch auf, eine bloß ideale Wissenschaft zu sein, und tritt in die Reihe der wirklichen Erkenntnisse, daß sie uns die Einsicht eines solchen Urgrundes verschafft. Diese Einsicht ist nun nicht schon unmittelbar durch die Vernunft und mit derselben gegeben; sondern muß erst unter der Leitung und durch die Selbsttätigkeit der Vernunft erworben und zustande gebracht werden. Auf dieses selbsttätige Geschäft der Vernunft haben mancherley Dinge Einfluß gehabt, demselben sehr verschiedene Richtungen gegeben, oder die spekulative Vernunft auf ganz verschiedene Behauptungen geführt, dadurch aber sowohl die Verschiedenheit der philosophischen Systeme, als auch die Verschiedenheit in den Bestimmungen des Zwecks dieser Systeme veranlaßt. Denn da die Philosophen bei der Erklärung ihrer Wissenschaft sich nicht bloß damit begnügten, lediglich diejenigen Merkmale derselben, die in der reinen und ursprünglichen Idee der Vernunft von einer Philosophie enthalten sind, anzugeben; sondern in dieser Erklärung auch der bestimmten Beschaffenheiten des Urgrundes alles Bedingten, das sie durch ihr Philosophieren wollten entdeckt haben, erwähnten, (welches allerdings nötig war, wenn die Philosophie als eine bereits wirkliche Wissenschaft beschrieben werden sollte): So mußten ebensoviel verschiedene und voneinander gänzlich abweichende Bestimmungen des Begriffs der Philosophie entstehen, wie Systeme dieser Wissenschaft entstanden, oder Urgründe des Bedingten erdacht worden waren; und sollen künftig noch neue Systeme der Philosophie erfunden werden, so würde dadurch zugleich die Zahl solcher Erklärungen der Philosophie, deren Inhalt von der bestimmten Beschaffenheit des unbedingten Grundes alles Bedingten abgezogen worden ist, vermehrt werden.

Es ging also ganz natürlich zu, daß die Erklärungen der Philosophie ebenso oft verändert wurden, als sich die Einsicht, welche die Philosophen vom Zweck ihrer besaßen, oder der Begriff, den sie sich vom Bedingten und von dessen absoluten Grund machten, veränderte. Und wenn der Leser der eben erteilten Anweisung gemäß die Ursachen einer jeden besonderen Definition dieser Wissenschaft aufsuchen will, so wird er leicht finden, warum von einem Philosophen, der die Definition aufstellte, seine Wissenschaft gerade so gedacht wurde, wie es geschehen ist. Wenn daher 'PLATO - um nur einige Erläuterungen dem bisher Gesagten beizufügen - die Philosophie für die Wissenschaft desjenigen, was unveränderlich dasselbe bleibt, ausgibt (1); so darf man, um zu begreifen, wie dieser Philosoph zu einer solchen Erklärung der Philosophie gekommen ist, nur dieses in Erwägung ziehen, daß er unter dem Unveränderlichen und sich immer Gleichbleibenden die ewigen Ideen in der Gottheit verstand, in diesen Ideen aber die Urbilder zu allem Wirklichen, und die höchsten oder absoluten Gründe der Form und mancherlei Bestimmungen dieses Wirklichen gefunden zu haben glaubte. Wenn hingegen der Urheber des kritischen Idealismus die wahre Philosophie auch manchmal wohl durch die wissenschaftliche Untersuchung der Vermögen der menschlichen Vernunft bestimmt (2), so ist in dieser Bestimmung der Philosophie jenes Idealismus darauf Rücksicht genommen worden, daß er sich nicht geradezu an die objektiv wirklichen Dinge, um deren Dasein und Eigenschaften aus einem absoluten Grund abzuleiten, sondern vielmehr an die menschliche Erkenntnis von Dingen, die aus lauter Urteilen bestehen soll, wendet, und von derselben die letzten erkennbaren Gründe in Begriffen, Prinzipien und Gesetzen, die dem menschlichen Gemüt a priori beiwohnen, entdeckt zu haben glaubt, durch diese Entdeckung zugleich aber auch dieses gefunden haben will, daß allererst das moralische Bedürfnis des Menschen eine Anweisung auf den Glauben an eine oberste moralische Weltursache erteilt. Wenn endlich diejenigen, welche in der Wissenschaftslehre die einzig mögliche Philosophie verehren, das wissenschaftliche Philosophieren über Etwas darin bestehen lassen, daß man es schafft, und vor den Augen des Geistes werden läßt (3); so ist diese Definition der Philosophie vom System der Wissenschaftslehre abgezogen worden, nach welchem eine reine, absolute und durch sich selbst anfangende Tätigkeit den obersten hinreichenden Grund alles für uns Menschen Wirklichen ausmacht und diese Tätigkeit während der Ausübung ihrer schöpferischen Kraft vom philosophischen Genie soll beobachtet werden können, so daß es alles Wirkliche in sich entstehen sieht.
LITERATUR - Gottlob Ernst Schulze, Kritik der theoretischen Philosophie, Hamburg 1801
    Anmerkungen
    1) De republica L. VI. Seite 69. ed. Bip.
    2) Kants vermischte Schriften, Band III, Seite 346.
    3) Schellings erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, Seite 316.