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GERHARD FUCHS
Fritz Mauthners Sprachkritik
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"Die Entlarvung von Scheinbegriffen und die definitorische Festsetzung der  wahren Bedeutung,  die Entmystifizierung der Sprache, waren für die Sprachphilosophen der Jahrhundertwende wichtige Anliegen gewesen."

Die Initiative der sprachkritischen Literatur ging in den 60er Jahren vor allem auf die sogenannte "Grazer Gruppe" über, eine lose Vereinigung von Schriftstellern, die in der österreichischen Literatur jene Innovationen produzierte, die sich nach dem Zerfall der "Wiener Gruppe" 1964 in der Hauptstadt nicht so recht einstellen wollten. Autoren wie PETER HANDKE, GUNTHER FALK, BARBARA FRISCHMUTH und WOLFGANG BAUER zeichneten für neue Impulse in der heimischen Literaturlandschaft verantwortlich, die der steirischen Metropole der Ruf als, wie es REINHARD P. GRUBER formulierte "(un)heimliche Hauptstadt der deutschen Literatur" einbringen sollte. (36) Zu den initiativen Schriftstellern der ersten Stunde gesellten sich im Lauf der Zeit unter anderen KLAUS HOFFER, REINHARD P. GRUBER, GERHARD ROTH und auch HELMUT EISENDLE.

Die Gemeinsamkeiten der Grazer Autoren beschränkten sich, obwohl sie sich im Selbstverständnis kaum als eine einheitliche Gruppe empfanden, nicht allein auf das kollektive Zelebrieren alkoholschwangerer Feten, sondern erstreckten sich auch auf ähnliche Themen und Überzeugungen, die sich literarisch auch völlig unterschiedlich konkretisieren mochten. Eine sprach- und erkenntniskritische Tendenz läßt sich vor allem aus den frühen Arbeiten inzwischen durchaus renommierter Autoren ablesen, so etwa in HANDKEs  Kaspar,  (37) den Identitätszerfall -Studien von GERHARD ROTH (38) oder der  Klosterschule  von BARBARA FRISCHMUTH, (39) die in ideologiekritischer Absicht die Phraseologie, die mit der Sozialisation in einem Kloster verbunden ist, präsentiert.

Ähnlich wie ELFRIEDE JELINEK (40) soll die Wiedergabe begrifflicher Ordnungsmuster die Aufmerksamkeit für die beengenden und einschränkenden Folgen sprachlich präformierter Weltinterpretation schärfen helfen. Eine satirische Abrechnung mit der szientifischen Terminologie als einem Spezialfall sprachlicher Realitätszurichtung bietet REINHARD PETER GRUBER mit seinem "Heimatroman"  Aus dem Leben Hödlmosers  (1973) (41), indem er die urtümliche, dialektgefärbte Umgangssprache mit dem gestelzten Wissenschaftsjargon konfrontiert. Im Essay  Alles überWindmühlen (42) werden deutliche Parallelen zu WIENER oder BAYER und später EISENDLE offenbar: die formale Imitation wissenschaftlicher Verfahrensweisen (thesenartiger Aufbau, Anmerkungen, Fußnoten) täuscht eine Präzision und Überprüfbarkeit in der Beschreibung vor, die immer wieder durch ironische Reflexion spielerisch gebrochen wird.

Diese kurze Übersicht zeigt, wie sehr sprachkritische Feststellungen, die sich auf die Jahrhundertwende -Philosophie zurückführen lassen, über die "Wiener" auch in die "Grazer Gruppe" Eingang gefunden haben. Während HANDKE, ROTH oder FRISCHMUTH ihre sprachkritische Phase als vorrangiges Thema der literarischen Produktion aber längst hinter sich gelassen haben, widmet sich HELMUT EISENDLE seit seinem ersten Roman  Jenseits der Vernunft  von (1976) (43) bis zu  Die Frau an der Grenze  (1984) (44) mit verstockter Beharrlichkeit diesem Problemfeld. (45)

Die sprachparanoische Verliebtheit in die Problematisierung des Erkennens und Beschreibens, die für EISENDLEs Protagonisten kennzeichnend ist, sucht ihre philosophische Legitimation in den Schriften FRITZ MAUTHNERs, dessen Behauptungen sich als, oft mehrmals wiederholte, Zitate wie ein roter Faden durch die Veröffentlichungen ziehen, meist in Form von geistreichen, aphoristisch präsentieren Merksätzen, die die Diskussionen in EISENDLEs Dialogromanen auflockern und anregen. Die Übernahmen stammen zum Großteil aus den  Beiträgen,  lediglich in  Der Narr auf dem Hügel  von 1981 finden sich Stellen aus dem  Wörterbuch der Philosophie.  (46)

Ich konnte für  Jenseits der Vernunft  neun MAUTHNER-Zitate, (47) für  Exil oder Der braune Salon  von 1977 elf (darunter mehrere Fremdzitate) (48) und  Der Narr auf dem Hügel  fünf (49) verschiedene nachweisbare wörtliche Übernahmen rekonstruieren. Einige der Kernaussagen MAUTHNERs bilden auch für EISENDLEs Protagonisten das Fundament ihres Weltverständnisses: (50)
  • Der Sprache entspreche nichts Wirkliches als konkreter Gegenstand. Sie sei vielmehr nur soziale Wirklichkeit - ihr Gebrauch und ihre Funktion. Der Sprachgebrauch, schon von MAUTHNER als Sprachspiel bezeichnet, (51) ermögliche keinen Zugang zur Wirklichkeit. Dadurch, daß die Wortinhalte schwankten und die subjektiven Bedeutungsassoziationen jeweils andere seien, erscheint wirkliche Verständigung als unmöglich.
  • Die Sprache umfasse nur eine Summe von geordneten Erinnerungspartikeln; sie könne nur sich selbst reproduzieren und nichts schöpferisch Neues schaffen. Auch die Gesetze der Wissenschaften seien nur ein Spiel mit abstrahierenden Begriffen, Objektivität sei unmöglich.
  • Denken sei weitgehend mit Sprechen gleichzusetzen und schließlich
  • Die Sprache zwinge uns, die Welt nach ihren Gesetzen zu sehen. Ein Zugang zu einer unverfälschten Wirklichkeit sei dadurch nicht möglich. Die verlorene Einheit mit der Natur wäre nur durch eine Befreiung von der Sprache wiederzugewinnen.
Dieser Abriß von MAUTHNERs Thesen, wie sie insbesondere die  Beiträge  bestimmen, entspricht auch den Säulen des Sprach- und Weltverständnisses von EISENDLEs Protagonisten. Die düster-melancholische Figur des  Schubert  im ersten Roman  Jenseits der Vernunft  ist ein Repräsentant des Sprachzweifels und der Sprachskepsis:
    "Wir leiden an einem seltsamen Zustand, sagt Schubert plötzlich halblaut, ein Zustand, den man fast als Krankheit ansehen kann. Eine Krankheit mit dem Namen Sprache. Nichts von alldem läßt sich sagen, was gesagt werden muß. Die Krankheit des Denkens, des Sprechens, die Krankheit der ungeklärten Begriffe." (52)
Diese "Krankheit der ungeklärten Begriffe" wird zum Ausgangs- und Zielpunkt der Dialoge zwischen  Schubert  und  Estes,  dem Gesprächspartner und  alter ego  des Autors. In der programmatischen Einleitung, die zum Schluß gleichlautend wiederholt wird, heißt es:
    "Mein Bewußtsein, die Erinnerung, die Inhalte des Gedächtnisses, alles ungeklärte, unsichere Begriffe, mit denen nichts anzufangen ist." (53)
Ähnlich wie bei HOFMANNSTHAL oder WIENER hat sich die Sprache verselbständigt und vom Sprechenden abgelöst, sie verweist nicht mehr auf die Realität außerhalb des Zeichens, sondern bildet eine eigene Wirklichkeit; sie läßt sich in der Folge nur noch als Spielmaterial verwenden - das sinn- und ziellose Jonglieren mit den Begriffen, den Erinnerungspartikeln, steht im Vordergrund.

Durch den von MAUTHNER geerbten, überzogenen Anspruch gegenüber der Differenzierungskompetenz der Worte verzweifelt  Schubert  an der postulierten Unzulänglichkeit der Sprache:
    "Sprechen heißt Anziehung. Stehen die Pole falsch, das heißt, haben wir die falschen Begriffe, ist eine Berührung unmöglich. Aber auch im umgekehrten Fall ist Sprache nicht mehr als eine kurze Berührung, die nicht das Wesentliche, nicht die Form ändert." (54)
Der nahezu handlungslose Roman - zwei Freunde treffen sich an der spanischen Küste bei Peniscola und plaudern während mehrerer Spaziergänge auf Saufgelage über die verschiedensten Themen - zerfällt in eine Akkumulation von monologischen Dialogen über die Unfähigkeit der Sprache. Jede Aussage wird vor diesem pessimistischen Hintergrund zu einer sinnlosen sozialen Anstrengung, die in letzter Konsequenz immer wieder auf einen monadenhaft aufgefaßten Sprecher zurückführt. Wo intrapsychische Probleme thematisiert werden, hat die Aufgabe der Hoffnung auf "echte Verständigung" jeweils die Verwandlung des spontanen Ausdrucks in zusammenhanglose Sprachfetzen, angelesene Bildungsrelikte, Merksätze oder abstruse Denkesoterik zur Folge.

Die geradezu dämonische Allmacht der Sprache, wie sie immer wieder beschworen wird, erzeugt im Verwender neben Resignation auch die Gelassenheit des Wissens um das Unabänderliche. In  Exil oder Der braune Salon  wird die Reduktion auf den Selbstzweck radikalisiert und literarisch als heiteres Geplauder während eines Billiardspiels zwischen vier Freunden inszeniert. Die Gesprächspartner, die sich in der Namensgebung an historischen Vorbildern orientieren, fungieren als Repäsentanten von Sprachsystemen.

Der "konditionierte Marxist" KRAUS, der "Physiognomiker" KASSNER, der "Magier" STAUDENMAIER und der "Rationalist und Ideensammler" WEININGER unterhalten sich über Politik und Wissenschaft, über Moral und Ethik. Während in  Jenseits der Vernunft  der "Exkrementenhaufen sprachlichen Abfalls" um mit MAUTHNER zu sprechen (55), zu einer Elegie menschlicher Kommunikationsmöglichkeiten verarbeitet wird, ist es in  Exil  ein fröhlicher Anarchismus der Begriffsleichen, mit dem EISENDLE die vorgestanzten Kategorien und Schematisierungen des Lesers durcheinanderwirbelt.

Die Gespräche sind als dynamische Abfolge von Reiz- Reaktionsmechanismen konstruiert. Die geschichtslosen Figuren verweigern jede introspektive Spekulation, und die Beschreibung der Innenwelten hat einer Aufzählung von Ideenkonstrukten und Sprachgebilden den Vorrang eingeräumt:
    "Wir definieren uns in nichts anderem als Sprache, wir sind Sprache. Sprache ist Psychologie, Philosophie, Geist, Geschichte, Überlieferung. Das Transportmittel unserer Vorfahren in uns ist die Sprache. Der Transport ändert das Überlieferte." (56)
EISENDLE präsentiert in  Exil  MAUTHNERs Philosopheme in einer literarischen Funktion: Die Sprache scheint zwar ihrer Vermittlungsfähigkeit beraubt; gleichzeitig aber produzieren die autistischen Monologe der Billardpartner Denkalternativen, z.B. den Einbezug der nordischen Mythologie in die Psychoanalyse (57) oder die Utopie WINSTANLEYs als eine im Vergleich zum Marxismus interessante Alternative der Gesellschaftsorganisation. (58) Die Ergebnisse einer philosophischen oder wissenschaftlichen Reflexion sollen zu einem zwanglosen Spiel mit den Ideen genutzt, erstarrte Denkmuster in Frage gestellt, Ideologien ins Lächerliche gezogen werden. Diese heitere, emanzipatorische Funktionalisierung der Sprachkritik ist aber nur ein Aspekt der MAUTHNER-Verarbeitung EISENDLEs.

In den drei Erzählungen, die unter dem Titel  Das nachtländische Reich des Doktor Lipsky  zusammengefaßt wurden, (59) unternimmt der Protagonist den Versuch, mit Hilfe der Phantasie und der Traumwelt die althergebrachten Verkrustungen einer eindimensionalen Sicht von der Welt aufzusprengen und sich so gegen den normalen, normalisierenden Sprachgebrauch aufzulehnen. Die Folge ist eine Koketterie mit dem Wahnsinn, die sich literarisch, ähnlich wie bei BAYER und WIENER, in einem Aufstand gegen die Regeln von Grammatik und Logik, von standardisierter Terminologie und üblichen Konnotationen äußert.

Als Lipsky mit dem fiktiven JAMES JOYCE in einen Dialog eintritt, verbinden sich der Rausch der Sprache und der durch den Alkohol verursachte zu einem furiosen Sprachspektakel, das die syntaktischen Anstandsregeln immer wieder durchbricht. In einem Reflexionsschub zu EISENDLEs Erzählung "Der kleine Tod" heißt es:
    "Sprache verbraucht sich, nützt sich ab, und die Abnutzung ist ein Maßstab des Trivialen, des Banalen, des Kitsches, des Normalen, des Durchschnitts, der Gewohnheit ... Sicher ist nur das Verbrauchte, es ist ein allgemeines Gut und brauchbar zur sinnleeren Verständigung. Das Originelle läßt sich nicht ermitteln." (60)
Der Aristokratismus MAUTHNERs, seine Verachtung der Alltagskommunikation, findet sich bei EISENDLE in abgewandelter Form wieder. Die Bewohner des "nachtländischen Reiches" ziehen aus der Verachtung des Gemeinen, wie es sich in der gedankenlosen Sprachverwendung als Phrase präsentiert, Konsequenzen: Sie desertieren aus den sinnbesetzten Gebieten des eingespielten Sprachrituals, ein "Abhauen aus der Sprache", wie es schon OSWALD WIENER propagierte. (61)

Die Flucht aus dem Alltag treibt  Schubert  und  Estes  in einen Ort bei Valencia, "zu Neujahr, schneelos, ohne Fremde, verstummt, vergessen, ausgerichtet auf den Sommer, arm und unnütz." Was sie suchen, ist "die Ignoranz der Wirklichkeit, die Flucht in die Idylle der Phantasie", den "Urlaub von der Vernunft, vom Bemühen um sinnvolle Zusammenhänge, um Beschreibungen der Wirklichkeit, die kein Abbild im Kopf hat". (62)

Auch die Gespräche der Protagonisten in  Exil  finden in einem geschützten Reservat, dem Billardsalon, statt. Der gesellschaftliche Kontext mit seinen Rollenanforderungen und Handlungsanweisungen, wie er sich in der Sprache niederschlägt, ist für die vier Freunde nur so weit von Interesse, als er sich als praktikables Spielmaterial verwenden läßt.

Auch  Marietta,  die Zentralfigur von  Die Frau an der Grenze,  bricht aus der Alltagsexistenz aus. Sie weigert sich, weiter dem Rollenklischee der Frau zu entsprechen:
    "Das andere ist mir wohlbekannt; Berufe, Männer, Menschen, Kinder, Angriff und Verteidigung, Sieg und Niederlage, Spiele, Gebärden eines verlorenen Heldentums, alles ist vorüber. ... So aber lebe ich hier, im Abseits." (63)
Wo FRITZ MAUTHNER bei einer oft pathosgeschwängerten Beschwörung der Sprachallmacht stehenbleibt, zieht EISENDLE literarisch auch praktische Konsequenzen: Flucht in eine Gegenwelt der Unvernunft, der Amoral, der Un-Sinnigkeit, der Abgeschiedenheit, des Wahnsinns, des Widerstands.

Besonders hervorstreichen möchte ich in diesem Zusammenhang noch den 1980 erschienen Ich-Roman  Der Narr auf dem Hügel;  hier stellt sich der Protagonist stärker den Anforderungen der profanen Wirklichkeit und reagiert nicht einfach mit Ignoranz oder realitätsabstinenter Flucht in eine primär sprachliche Gegenwelt. Nicht mehr die abstrakte Inkompetenz der Sprache steht im Vordergrund, sondern die konkrete falsche Verwendung der Begriffe, die Destruktion der Verständigungspotenzen.

Die Entlarvung von Scheinbegriffen und die definitorische Festsetzung der "wahren Bedeutung", die Entmystifizierung der Sprache, waren für die Sprachphilosophen der Jahrhundertwende wichtige Anliegen gewesen. "MAUTHNERs antiplatonistische, entdinglichende Metaphysikkritik", wie sie der Grazer Philosoph RUDOLF HALLER in einem Aufsatz bezeichnet, (64) richtet sich radikal gegen - auch wissenschaftliche - Abstraktionen, die die Welt ungerechtfertigt "verdoppeln", d.h. das Gegebene noch einmal, und zwar in der Sprache, erschaffen.

Während MAUTHNER aber fundamental die Abbildungs- und Darstellungsfunktion der Sprache in Zweifel zieht, wollte die neopositivistische Begriffskritik primär nur die falsche Sprachverwendung kritisiert wissen. Die zentrale Aufgabe der Philosophie, wie sie etwa WITTGENSTEIN versteht, besteht im Klarwerden von Sätzen, in einem Reinigungsbad für die entweder überhaupt unsinnigen oder verschleiernden Begriffe.

Die Kritik des  Narren auf dem Hügel  an der Moderne folgt der Diktion MAUTHNERs und verbindet Sprach- mit Kulturkritik:
    Sätze, Phrasen werden wie in Buden am Jahrmarkt ausgeschrien und angeboten: Indien, Fabrikation, Fanta, Goa, Singer, Bürgerlichkeit, Marx, Coke, Friaul, Dancing, Alles, Nichts, Schönheit, Grauen, Ekel, Elend, Disco, Kokrophilie. ... Bunt und schillernd strahlt die Sprache, die Sprechweise der Moderne über die Städte. Die Landstriche bleiben bislang noch unberührt. Wie lang noch?

    Es ist der Glanz der Fäulnis. Die sogenannten Sprachen der Kultur, die nur Sprechweisen sind, sind heruntergekommen wie die Knochen von Märtyrern, aus denen man Würfel geschnitzt hat. ... Um sich zu verständigen, haben die Menschen sprechen gelernt. In der Moderne hat die Sprache diese Fähigkeit verloren. (65)
Diese Stellen sind nicht nur dem radikalen Sprachzweifel MAUTHNERs bis in die Formulierung hinein verpflichtet, sondern äußern vorrangig Kritik an der aktuellen Sprachverwendung. Es ist mehr der durch gesellschaftliche Einflußfaktoren dominierte Sprachgebrauch, der die Verständigung durch Verunklarung und eine Inflation von Worten erschwert.

In  Die Frau an der Grenze  wird der Versuch unternommen, die ritualisierten Konventionen der Mann-Frau-Kommunikation zu unterlaufen. An die Abhängigkeit des Denkens glauben auch  Frau Wolf  und  Herr Pollack  mit jener Selbstverständlichkeit die für EISENDLEs MAUTHNER-Erbe typisch ist. Den Blick auf das Nachbarland, Jugoslawien, gerichtet, meint  Marietta: 
    "Dort hinter der Grenze, spricht man, denkt man, fühlt man anders, die Sprache und ihre verordnete Zugehörigkeit erzeugt andere Gefühle, ein anderes Denken." (66)
Anders als in den ersten Romanen ist aber die ausdrückliche Thematisierung der tatsächlichen oder vermeintlichen Unfähigkeit der Sprache sonst kaum zu verzeichnen. Die Sprachkritik richtet sich auf ein konkretes Objekt, auf ein fest umgrenztes Thema: die Spiele im Geschlechterverhältnis, deren Regeln Männer bestimmen, stehen zur Diskussion.  Marietta  verweigert sich nicht der Sprache schlechthin, sondern  Pollack  und den ihr aufgezwungenen Sprach- und Verhaltensnormen.

Die Selbstverständlichkeit der Männersprache mit ihrem Freund-Feind-Denken, ihren Kosten-Nutzen-Rechnungen und der zynischen Macht, die vielleicht aus Schwäche resultiert, werden von  Marietta  nicht akzeptiert. Als ehemalige Partizipantin dieses Sprachsystems, das sie im Rahmen ihres Sozialisationsprozesses verinnerlichen mußte, durchbricht sie immer wieder die ihr wohl geläufigen Erwartungshaltungen des Mannes und entwickelt Ansätze zu einer neuen "Frauensprache", zumindest einer individuellen Sprache  Mariettas. 

EISENDLE behandelt damit zum erstenmal die "Grammatik der Beziehungen". Er thematisiert die normative, regulierende Funktion der Sprache nicht nur als abstrakten Sachverhalt oder kritisiert auch nicht bloß einen oberflächlichen gesellschaftlichen Verhaltenskodex, sondern richtet sein Hauptaugenmerk auf die subtilen, verborgenen Vorschriften und Anweisungen zwischenmenschlicher Kommunikation.

Wenn also etwa WALTER WEISS für HANDKEs  Kaspar  als Prototyp einer sprachkritischen Entlarvungsliteratur die Offenlegung der herrschenden Ideologien, die mir "scheinbar neutralen Satzmustern Unterwerfung, Bescheidung, Genügsamkeit, Zufriedenheit mit der geltenden Ordnung beibringen," konstatiert und nachweist (67), geht EISENDLE noch einen Schritt weiter: die vorfabrizierten Erwartungshaltungen der Mann-Frau - Beziehung erscheinen als die mikrosoziologische Widerspiegelung einer makrosoziologisch etablierten Sprachordnung; die gesellschaftlichen Verhaltensmuster haben längst den Intimbereich okkupiert und mit ihren Rollenzuschreibungen private Unterdrückungsfunktionen übernommen. Damit ist MAUTHNERs Sprachkritik in EISENDLEs Verarbeitung endgültig mit einer sozialen, offensiv politischen Stoßrichtung versehen worden.

Auf weitere Aspekte dieser speziellen Spielart sprachskeptischer Literatur möchte ich nur zusammenfassend verweisen: Da auch die Wissenschaft nur sprachliche Metaphern konstruiert, wird ihr Anspruch auf Objektivität und Allgemeingültigkeit negiert: Der Szientismus wird, ganz in der Tradition der Lebensphilosophie, als lebensfeindlicher Reduktionismus denunziert, als aggressive, scheinobjektivistische Mythologie mit Religionscharakter. Der Autodidakt MAUTHNER mit seiner Skepsis gegenüber der akademischen Wissenschaft steht auch hier Pate.

Auf der Ebene der psychologischen Figurenzeichnung wird MAUTHNERs Philosophie als lebenspraktisches Bewältigungskonzept literarisch durchgespielt. Die solipsistische Weigerung und der privatsprachliche Anarchismus sind die Reaktion auf die unüberwindlichen, allmächtigen sprachlichen Interpretationsraster. Vor diesem Hintergrund wird aber eine Identitätsbildung für die Protagonisten schwierig: die Konstanz des Ichgefühls, überhaupt durative (dauernde) Selbst-Definitionen gelten - EISENDLE ist hier ein getreuer Schüler MAUTHNERs und dieser MACHs - als Reifikationen (?) und in weiterer Folge als sprachlich verordnete Zwangsmittel, gegen die durch Verweigerung und Identitätsauflösung in Traum, Phantasie und Wahn opponiert wird.

Damit wird aber auch der psychische Sicherheitsstatus des Individuums nachdrücklich gefährdet - Intellektualismus, Denken und Reflexion hypostasieren [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] zu bedrohlichen fremden Mächten, die durch Alkohol sediert (eingeschläfert) werden sollen. Autismus, Traurigkeit und Einsamkeit bestimmen vor allem in den ersten Romanen den vorherrschenden (Männer-) Typus. Die verhärteten, mißtrauischen Hagestolze reagieren auf Frauen folgerichtig mit Ignoranz und Ablehnung oder gar chauvinistischer Aggression.

Auf der formalen Ebene ist besonders  Der Narr auf dem Hügel  von Interesse, dessen erzähltechnische Konstruktion die inhaltlichen Aussagen und Verhaltensweisen der Figuren unterstreicht: der Roman imitiert mit seinen ineinander montierten Beschreibungs- und Reflexionspartikeln den Wahrnehmungs- und Interpretationsmodus der Figuren und faßt noch einmal ein wichtiges Moment von EISENDLEs Romanproduktion zusammen: die Auflösung von geschlossenen Ordnungsrahmen des Denkens, Sprechens und Handelns zugunsten einer atomisierten, dekompositorischen Wirklichkeitsrezeption und -komposition.

Die Romane EISENDLEs erweisen sich so auch formal, ähnlich wie WIENERs  Verbesserung von Mitteleuropa  oder BAYERs  Der Kopf des Vitus Bering  als literarische Demonstration eines Entfremdungsprozesses, an dessen Anfang die Negation und Auflösung der Subjektautonomie steht, wie sie NIETZSCHE, MACH und auch MAUTHNER verfochten. Die fehlende Abgrenzungsmöglichkeit gegenüber der teilweise als bedrohlich empfundenen äußeren Wirklichkeit löst die Identität immer mehr auf und läßt das Ich hilflos im Strudel der Impressionen treiben.

Was sich ins Bewußtsein drängt, sind zufällige, banale Ereignisse, Fremdaussagen, bezugslose Realitätspartikel. Während in EISENDLEs früher Romanproduktion dieser Auflösungsprozeß deutlich bedrohliche Züge zeigt, hat die anfänglich krampfhafte Suche nach einem sicheren Standpunkt, nach Identität, die auf dem Hintergrund von MAUTHNERs Sprachskeptizismus zu zerbersten drohte, mit  Der Narr auf dem Hügel  einer heiteren Gleichmut Platz gemacht. Trotz dieses veränderten psychischen "Sicherheitsstatus" bleibt die an der Sprachkritik MAUTHNERs geschulte erkenntnistheoretische und philosophische Konzeption bestimmend.

Es ist eine individualanarchistische Spielart des Bewußtseinsromans, die Autoren wie WIENER und EISENDLE pflegen. Der Rückbezug auf das Subjekt und das Mißtrauen gegenüber den sprachlich vermittelten Normen führen zu einer in gewissem Sinn apolitischen Renitenz (Widerspenstigkeit), die ihre Legitimation aus den sprachphilosophischen Konzeptionen der Jahrhundertwende zieht. Die Attraktion des "genialen Dilettanten" FRITZ MAUTHNER (68) für Schriftsteller bleibt jedenfalls, wie das Beispiel EISENDLEs zeigt, ungebrochen.
LITERATUR - Gerhard Fuchs, Fritz Mauthners Sprachkritik, Aspekte ihrer literarischen Rezeption in der österreichischen Gegenwartsliteratur, in Modern Austrian Literature 23, (1990), Nr. 2
    Anmerkungen
    36) REINHARD PETER GRUBER, Graz, die unheimliche Literaturhauptstadt, in Manuskripte (1975), Heft 50, Seite 139-141
    37) PETER HANDKE, Kaspar (Ffm 1967)
    38) GERHARD ROTH, Die autobiographie des albert einstein (Ffm 1972); ders.: "Künstel. Ein Fragment," in Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und andere Romane, (Ffm 1972); ders.: Der Wille zur Krankheit (Ffm 1973)
    39) BARBARA FRISCHMUTH, Die Klosterschule (Ffm 1968)
    40) Vgl. ELFRIEDE JELINEK, Die Liebhaberinnen (Reinbek 1975)
    41) REINHARD P. GRUBER, Aus dem Leben Hödlmosers - Ein steirischer Roman mit Regie (Salzburg 1973)
    42) REINHARD P. GRUBER, Alles über Windmühlen, Essay, in Manuskripte (1970), Heft 29-30, Seite 59-69 und (1975), Heft 50, Seite 205-217; Neuausgabe mit einem Vorwort von H.C. Artmann (Dudweiler 1978)
    43) HELMUT EISENDLE, Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand (Reinbek 1976 und Salzburg 1979)
    44) HELMUT EISENDLE, Die Frau an der Grenze (Salzburg/Wien 1984) Mit seinen Kriminalromanen von 1985 hat sich der Autor wohl weitgehend von seinem unmittelbaren Mauthner-Bezug gelöst - es sind keine Übernahmen mehr nachweisbar. Vgl. HELMUT EISENDLE: Anrufe. Der Doppelgänger. Die Verfolgung. Drei Romane nach GIORGIO MANGANELLI (Wien/Berlin 1985)
    45) Vgl. zum folgenden die Arbeit des Verfassers; "Leben im Kopf. Zum sprach- und wissenschaftskritischen Denken der Protagonisten in den Romanen HELMUT EISENDLEs" (Graz, Phil. Diss., 1986) (Masch.) Diese Untersuchung enthält u.a. ein Verzeichnis von EISENDLEs Fremdübernahmen - so auch aller MAUTHNER-Zitate.
    46) Vgl. FUCHS, Seite 473-477
    47) HELMUT EISENDLE, Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand (Reinbek 1976 und Salzburg 1979)
    48) HELMUT EISENDLE, Exil oder der braune Salon - Ein Unterhaltungsroman (Reinbek 1979 und Salzburg 1977)
    49) HELMUT EISENDLE, Der Narr auf dem Hügel - Landstriche, Flüsse, Städte, Dinge (Ffm 1984)
    50) Vgl. zum folgenden JOACHIM KÜHN, Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, (Berlin/New York 1975), Seite 54-75
    51) MAUTHNER, Beiträge, Bd. I, Seite 24: "In dem weltumspannenden und fast majestätischen Gesellschaftsspiel der Sprache erfreut es den einzelnen, wenn er nach der gleichen Spielregel mit Millionen zusammen denkt, wenn er z.B. für alte Rätselfragen die neue Antwort "Entwicklung" nachzusprechen gelernt hat, wenn das Wort Naturalismus Mode geworden ist, oder wenn die Worte Freiheit, Fortschritt ihn regimenterweise aufregen." Zu WITTGENSTEINs Sprachspiel-Begriff im Vergleich mit MAUTHNER vgl. JOACHIM KÜHN: Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, (Berlin/New York 1975), Seite 96
    52) HELMUT EISENDLE, Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand (Reinbek 1976 und Salzburg 1979) Seite 18
    53) HELMUT EISENDLE, Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand (Reinbek 1976 und Salzburg 1979) Seite 8 und 117
    54) HELMUT EISENDLE, Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand (Reinbek 1976 und Salzburg 1979) Seite 18
    55) MAUTHNER, Beiträge, Bd. 1, Seite 671
    56) HELMUT EISENDLE, Exil oder der braune Salon - Ein Unterhaltungsroman (Reinbek 1979 und Salzburg 1977) Seite 93
    57) HELMUT EISENDLE, Exil oder der braune Salon - Ein Unterhaltungsroman (Reinbek 1979 und Salzburg 1977) Seite 100f
    58) HELMUT EISENDLE, Exil oder der braune Salon - Ein Unterhaltungsroman (Reinbek 1979 und Salzburg 1977) Seite 55f
    59) HELMUT EISENDLE, Das nachtländische Reich des Dr. Lipsky - Erzählungen (Reinbek 1981 und Salzburg/Wien 1979)
    60) HELMUT EISENDLE, "Der kleine Tod", in HELMUT EISENDLE: Das nachtländische Reich des Dr. Lipsky - Erzählungen (Reinbek 1981 und Salzburg/Wien 1979) Seite 100f.
    61) Vgl. OSWALD WIENER, Die Verbesserung von Mitteleuropa
    62) Vgl. HELMUT EISENDLE, Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand (Reinbek 1976 und Salzburg 1979) Seite 8f und 118
    63) HELMUT EISENDLE, Die Frau an der Grenze (Salzburg/Wien 1984), Seite 15
    64) RUDOLF HALLER, Sprachkritik und Philosophie - Wittgenstein und Mauthner," in Sprachthematik in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Hrsg. Institut für Österreichkunde (Wien 1974), Seite 45
    65) HELMUT EISENDLE, Der Narr auf dem Hügel, Seite 30f. Bei MAUTHNER, Beiträge, Bd.1, Seite 230 heißt es: "In bunten Farben schimmern unsere Sprachen und scheinen reich geworden. Es ist der falsche Metallglanz der Fäulnis. Die Kultursprachen sind heruntergekommen wie Knochen von Märtyrern, aus denen man Würfel verfertigt hat zum Spielen. Kinder und Dichter, Salondamen und Philosophieprofessoren spielen mit den Sprachen, die wie alte Dirnen unfähig geworden sind zur Lust wie zum Widerstand. Alt und kindlich sind die Kultursprachen geworden, ihre Worte wie Murmelspiel."
    66) HELMUT EISENDLE, Die Frau an der Grenze (Salzburg/Wien 1984), Seite 93
    67) WALTER WEISS, Zur Thematisierung der Sprache in der Literatur der Gegenwart", in "Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur" 94. Sonderheft: Festschrift für Hans Eggers zum 65. Geburtstag, Hrsg. Herbert Backes (Tübingen 1972), Seite 678
    68) Vgl. PETER KAMPITS, Fritz Mauthner oder Sprachskepsis und Mystik, in ders.: Zwischen Schein und Wirklichkeit - Eine kleine Geschichte der österreichischen Philosophie (Wien 1984), Seite 113