cr-3 
 
FRITZ MAUTHNER
Wortaberglaube
I -10

"Diese Knechte an den Ruderbänken der Wortgaleeren sind nur noch den breiten Massen gefährlich. Ihre Waffen sind stumpf für unseren gebildeten Mittelstand. Er hat neue Worte gemünzt: das Recht, die Sitte, die Wohlfahrt, das Glück. Und unsere Minister, unsere Abgeordneten, unsere Journalisten sind die neuen Diener an diesen neuen Worten, sind die künftigen Pfaffen."

Der Götzendienst mit Namen wird immer als solcher bezeichnet, wenn es sich um einen Götzendienst alter oder ferner Völker handelt. Denn den eigenen Götzendienst nennt man Gottesdienst, wie man die eigene Macht Recht und die eigene Brunst Liebe nennt. Es gibt Völker, bei denen es verboten ist, den Namen eines Toten auszusprechen oder auch nur den Namen der lebendig gebliebenen gleichnamigen Verwandten. Das könnte die Götter beleidigen, sagen diese Menschenfresser. Dazu gehört auch die Anschauung mancher Völker, nach der die eheliche Verbindung mit einem Weibe von gleichem Namen wie eine Art Blutschande angesehen wird.

Uns sind solche Sitten fremd. Wenn aber ein Attentat auf einen greisen Kaiser versucht worden ist, so legen Dutzende von Namensvettern des Mörders den Namen ab, wie bei den Menschenfressern die überlebenden einen neuen Namen annehmen, um die Gottheit über die Identität zu täuschen. Andere wilde Völker haben Gesetze, die wie das dritte Gebot der Juden den Namen ihres Götzen auszusprechen verbieten. Orthodoxe Juden sagen heute noch nicht Jehovah, sondern Schem, das ist "der Name". Das wundert uns, aber der Bürger eines monarchischen Staats, der seinen Souverän einfach bei seinem Taufnamen oder bei seinem vollen Namen anreden würde, wagte wahrscheinlich eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung. Fromme Mohammedaner vermeiden es, auf ein Blatt Papier zu treten, weil der Name ihres Gottes darauf stehen könnte. Fromme Juden und gute christliche Kinder küssen die Bibel, wenn sie zufällig zur Erde gefallen ist. Und wieder müßten alle Zeitungsleser, um einen Prozeß zu vermeiden, immer genau nachsehen, ob ihr Stück Zeitungspapier nicht den Namen des Herrschers enthalte, bevor sie es seiner natürlichen Bestimmung zuführen. In Prag wurde vor einigen Jahren ein solcher Majestätsbeleidigungsprozeß wirklich geführt; wobei allerdings die klare Absicht der Beleidigung vorlag, weil man ein kaiserliches Reskript, auf weichem Papier gedruckt, zum Kaufe anbot.

Mein oft zitierter AGRIPPA der mir auch in seinen kabbalistischen Schriften den Schalk mitunter zu verraten scheint, hat einmal in seiner Geheimen Philosophie (III. Buch, 26. Kap.) einen Hauptgrund des Namensaberglaubens bemerkt:
"Die nach dem Kalkul der Sterne gebildeten Namen (sinnlose Buchstabenzusammenstellungen) vermögen doch, obgleich ihre Bedeutung und ihr Klang unbekannt sind, nach den geheimen Prinzipien der Philosophie mehr bei einem magischen Werke, als Namen, die eine Bedeutung haben, indem die über ihre Rätselhaftigkeit verwunderte Seele zuverlässig etwas Göttliches darunter vermutet."
Wir sind erhaben über Astrologie und Kabbala, und wir sind nicht geneigt, es unter den gleichen Begriff des Namensaberglaubens zu bringen, wenn Millionen Volksgenossen einen Zufallsnamen, den Rufnamen ihres Patrons, ihren Namenspatron, von Einfluß werden lassen auf ihren Lebensgang. Im Katholizismus beschützt der Heilige sein Patenkind. Und mir ist nur ein einziger Fall bekannt, in dem das Patenkind den Heiligen protegierte. Der große praktische Sprachkritiker NAPOLEON war auf den Namen "Napoleone" getauft worden; der Name stand nicht mehr im Kalender, so daß NAPOLEON BONAPARTE den Tag seines Schutzheiligen nicht kannte. Nachher war der Papst so gefällig, dem Kaiser zu Ehren den heiligen NAPOLEON in den Kalender zu setzen und sogar auf den 15. August, den Geburtstag des Kaisers. Und der Papst hätte, wenn NAPOLEON Lust dazu gehabt hätte - die Anekdote ist historisch beglaubigt - auch noch einen geistlichen Vorfahr der BONAPARTEs heilig gesprochen.

Der weit verbreitete Aberglaube, daß der Besitzer eines Bildes durch Stiche und ähnliche Verletzungen am Bilde dem Original Schaden zufügen könne, ist mit dieser Namensfurcht und dieser Unterwerfung unter das Namensbild verwandt. Wir sind über solche Kindereien erhaben. Aber wir glauben auch Schaden zu leiden, wenn der Hauch unseres Namensklanges in bösen Mäulern schwingt. Wir glauben die Gespenster unserer Begriffe in ihrem Scheinleben zu erhalten, wenn wir ihre Namen konservieren. Und ist ein solcher Begriffsname trotz aller Vorsicht doch gestorben, kann man ihn nicht länger halten, weil er zum Himmel zu stinken anfängt, wie z.B. der schöne Name Lebenskraft, dann setzen sich die Bonzen des betreffenden Wortkultus zusammen und geben den Verwandten der Lebenskraft, den anderen Seelenkräften, einen neuen Namen, z.B. den hübschen neuen Familiennamen: Vermögen. Und fangen die Vermögen zu verwesen an, so werden sie wieder umgetauft und heißen: Funktionen. So heißen sie augenblicklich. Nach hundert Jahren wird der Name Kraft seinen üblen Geruch verloren haben, und man wird die Funktionen wieder Kräfte nennen können.

Diese Abstraktionen erinnern an den polnischen Juden, einen modernen Mann, dem sein Name MOSES nicht gefiel. Als er in Karlsbad war, wo ihn niemand kannte, stellte er sich darum als Itzig vor. Er hatte sich nicht merklich gefördert.

PLATON und andere gute Philosophen des Altertums berufen sich oft auf Verse des HOMEROS als wenn der Dichter eine Autorität für die Wirklichkeit wäre. Die Verse sind ihnen nicht schmückende Zitate, auch nicht moralische Stützen ihres Beweises, sondern wirklich etwas wie Lehrsätze. Man ist heute feiner geworden. Aber die Worte, die das Volk sich in seiner Not oder in seinem Aberglauben erfunden hat, werden immer noch so behandelt, als ob das Dasein eines Worts ein Beweis für die Wirklichkeit dessen wäre, was es bezeichnet.

Wie eine Parodie auf die Entstehung der Sprache mutet uns das Allerweltswort "bedeuten an. Von dem ursprünglichen Sinne "durch Hindeutung etwas veranlassen", z.B. einem etwas zu tun bedeuten, ist es mit der Zeit eine Bezeichnung geworden für alle Fälle, in denen auf etwas anderes, Fremdes, Ungenaues hingedeutet wird. Durch Metaphern hat sich die Sprache entwickelt, dadurch also, daß ein Wort gelegentlich etwas anderes bedeutete, als es bedeutete. Jetzt versteht man unter "bedeutend", was von Wichtigkeit ist,; noch GOETHE, der das Wort sehr liebte, versteht unter bedeutend etwa so viel wie bezeichnend, charakteristisch. Es wäre gut, das viel mißbrauchte Wort auf Erklärung von Metaphern einzuschränken; in dem Satze z.B. "sie zählte siebzehn Lenze" bedeutet Lenze Jahre.

Der menschliche Aberglaube besaß aber an "bedeuten" ein vortreffliches Wort für dies Hindeuten eines Zeichens auf ein künftiges Ereignis oder auf eine verborgene Tatsache; und weil er das Wort hatte, so gebrauchte er es. Versteckte sich doch hinter den Naturerscheinungen die Macht von Göttern, welche mit Zeichen und Wundern Künftiges und Verborgenes mitteilten, so wie die Priester durch Worte Künftiges und Verborgenes enthüllen.Man fragte also: Was bedeutet dieses Erdbeben? Was bedeutet diese Mißgeburt? Was bedeutet dieser Komet?

Heute ist man furchtbar aufgeklärt und überläßt Erdbeben, Mißgeburten und Kometen der Naturforschung. Findet man aber irgendwo im Sprachgebrauche ein altersschwaches Wort, das man nicht mehr versteht, so fragt man mit dem gleichen Aberglauben: Was bedeutet Seele? Was bedeutet Vernunft? Was bedeutet Stoff? Als die Geologie noch lehrte, Gott habe die Felsen geschaffen und die Abdrücke von Pflanzen und Tieren gleich mit hineingeschaffen, da fragte man: Was bedeuten diese Naturwunder? Jetzt erklärt man die Abdrücke von Pflanzen und Tieren aus der Entstehung der Erde und der Entwicklungsgeschichte der Arten und fragt: Was bedeutet Entwicklung?

Die meisten Menschen leiden an dieser geistigen Schwäche, zu glauben, weil ein Wort da sei, müsse es auch das Wort für Etwas sein; weil ein Wort da sei, müsse dem Worte etwas Wirkliches entsprechen. Wie wenn jede Verwitterung in einem Steine der Abdruck einer Pflanze sein müßte! Oder wie wenn zufällig von einem Narren hingekritzelte Linien immer ein auflösbares Rebus sein müßten!

Ja es wird die Sprache allgemein so gebraucht. Nicht nur gemeine Leute und die - wie man sagt - Halbgebildeten schnappen unverstandene neue oder fremde Worte auf, um sie beim Sticken ihrer Geschwätzmuster ziervoll oder geziert anzubringen, sondern auch Gelehrte und Forscher und Denker haben seit jeher an alten, verwitterten Wortlauten herumgedeutelt, um ein Rätsel zu lösen, das sie hineinfragten. Man hat einst in den Zeichnungen einzelner Blüten wie in den Skeletten von Fischköpfen Rebusse zu finden und zu lösen geglaubt. Das waren aber doch noch halbbewußte Spielereien. Man hat uramerikanische Zieratlinien mit Hilfe hebräischer Charaktere deuten wollen. Das waren Narreteien. Man hat aber von jeher - und man tut es noch - das angestrengteste Denken lebendiger Menschen, d.h. die Assoziationen ihrer lebendigen Erfahrungen, angewandt auf längst verklungene Wortreste verstorbener Geschlechter, man hat von jeher mit den Säften lebendiger Verdauungsorgane die Exkremente der Ahnen zu neuer Nahrung verwandeln wollen. Und da tut man doch nichts anderes, als wenn man durchaus einen Rebus lösen wollte, der gar keiner ist, oder dessen Sprache man nicht versteht. Wie z.B. wenn ganz moderne Forscher immer noch die Seele, den Zweck, den Organismus, das Leben, den Tod, oder aber die Sprache, die Kategorien, die Wurzeln zu definieren suchen, bloß weil die Worte vorhanden sind.

Übrigens muß ein ausgemachter Tor gewesen sein, wer das Spielzeug der Rebusse in unsere Unterhaltungsblätter einführte. Schön wäre es freilich, mit Tatsachen zu reden anstatt mit Worten,  rebus  anstatt  verbis.  Aber der Rebusrater versimpelt nur die bequeme Buchstabenschrift. Ich glaube im Ernste, daß es Geisteskranke sein müssen, die unsere entsetzlichen Rebusse (Scherze ausgenommen) verfassen; und daß es nur Kinder sind, welche - nach alter Zusammengehörigkeit - sich mit den Werken dieser Narren abgeben.

Noch weit mehr als im gemeinen Sprachgebrauch wird in den Wissenschaften ein Fetischismus mit Worten getrieben; wie denn auch der Theologe, der aus dem Gespenst des Volksaberglaubens ein System baut oder es auch nur weiter trägt, ärgeren Fetischismus treibt, als der einfache Bauer, der bloß an das Gespenst glaubt.

Wie wir nun leichter geneigt sind, die Theologen des Mittelalters oder die Theologen der Menschenfresser für Systematiker toten Wissens zu halten, als etwa die gegenwärtigen Professoren der Theologie, so sehen wir auch deutlich, daß in der Geschichte der Wissenschaften mit jetzt veralteten Begriffen Schwindel und Götzendienst getrieben worden ist, wollen aber nicht leicht dasselbe von den höchsten Begriffen der augenblicklichen Wissenschaft annehmen. Und doch ist die Personifikation oder Deifikation heute dieselbe wie zu alten Zeiten. Die einzelnen "Kräfte" spielen heute dieselbe Rolle, wie einst die  qualitates occultae.  Und wenn die Gelehrten auch, mit der Nase darauf gestoßen, den Fehler der Personifikation leugnen, so denken sie doch, sobald sie sich unbeobachtet glauben, in dieser kindlichen Weise weiter. Für den Arzt sind die einzelnen Krankheiten persönliche Kräfte, trotz VIRCHOW, Personifikationen, die er bekämpft. Für den Naturforscher werden die Arten zu Personifikationen, trotz DARWIN, wenn man es auch nicht zugeben will. Noch sichtbarer wird der Fehler da, wo die Selbstwahrnehmung unkontrollierbar die Grundvorstellungen abgibt. In der Psychologie wimmelt es von Personifikationen. Der menschlichen Seele werden z.B. drei Personifikationen unterschoben: der Verstand, die Vernunft und die Phantasie. Auch sonst freie Köpfe können sich - trotz ihrer eigenen besseren Einsicht, die im Einleitungs- oder im Schlußkapitel oder sonst an einer schicklichen Stelle kund gegeben wird - nicht leicht von dem Bilde frei machen, daß jede dieser Untergottheiten einer bestimmten Tätigkeit der Seele vorstehe, wie ein Abteilungsvorstand im Ministerium. Es ist genau derselbe Prozeß, wie etwa die Griechen für die großen Gebiete des Lebens sich besondere Schutzgottheiten deifizierten und wie sie dann für kleinere Abteilungen Spezialnymphen, wie Dryaden und Oreaden, personifizierten.

Der Begriff eines pantheistischen Gottes ist um nichts metaphorischer als der Begriff eines monotheistischen oder eines polytheistischen Gottes. So hat im Volksleben der Begriff der Souveränität sich zuerst das Oberhaupt des Stammes, dann den König der Volksgenossenschaft und dann die Gesamtheit des Volkes selbst zum Träger ausgesucht; die Souveränität war aber doch nur das Bedürfnis aller, sich gegen die Bestialität des einzelnen zu schützen. Patriarchie, Monarchie und Demokratie (Panarchie) waren verschiedene Formen des gleichen Bedürfnisses. Der große Irrtum des Anarchismus besteht darin, daß er die Bestialität der Menschen nicht sieht, daß er das Bedürfnis des Zwangs leugnet, daß er dieses Bedürfnis darum überwunden zu haben glaubt, weil er die logischen Grundlagen und die Legitimität der einzelnen Herrschaftsformen erschüttert hat. In der ersten modernen Demokratie (Panarchie) kam auch der systematische Pantheismus auf.

Der Entwicklung des Gottesbegriffs entspricht aber noch mehr die Entwicklung des Seelenbegriffs. Auch in der Psychologie nahm man früher eine substantielle, eine persönliche Seele an; jetzt neigt man dazu, den gesamten Organismus als durchgängig beseelt zu verstehen, ohne daß darum die Seele aufgehört hätte, eine Personifikation zu sein. Auch der älteren Mythologie, deren Vielgötter aus Legenden, Volksetymologien und gewiß oft aus Stammesmythen entstanden, entspricht ein Zustand der Psychologie, der verschiedenen Funktionen verschiedene Seelen als Stammregenten zuwies.

Wir müssen uns zunächst von einigen hergebrachten Vorstellungen zu befreien suchen, wenn wir die ganze Bedeutung dieser Anschauung empfinden wollen, daß die Götter nur Worte seien. Eine aufgeklärte Religionsgeschichte glaubte den Göttern eins zu versetzen, wenn sie sie mit den Worten verglich, trotzdem die Religionsgeschichte ihrerseits wieder rechten Wortaberglauben treibt. Sie sagt: Götter sind bloße Worte. Wir aber möchten unsere geringe Meinung von dem Werte der menschlichen Worte dadurch recht überzeugend machen, daß wir auch unserseits die Worte mit den Götzen vergleichen. Wir sagen: Die Worte sind bloße Götter.

Wir müssen vor allem die überlieferte Vorstellung fallen lassen, als ob ein wesentlicher Unterschied bestehe zwischen dem Fetischismus der rohesten Negervölker und irgend einer geläuterten oder meinetwegen philosophischen Religion. Ein Fetisch ist ein wahrnehmbares Ding, mit dessen sinnlicher Erscheinung sich der Gläubige eine übernatürliche helfende Kraft verbunden denkt. Es ist wahr, der Neger schmeist den von ihm selbst aus Holz geschnitzten Fetisch fort, wenn er ihm nicht geholfen hat. Der katholische Räuber in Italien prügelt seine holzgeschnitzte Madonna nur, wenn ein Anschlag fehlgegangen ist, und betet das nächste Mal doch wieder zu dem geprügelten Bilde. Die Hauptsache ist in beiden Fällen ein Ding, in welchem eine geheime Kraft übernatürlich hilft.

Der Zauber ist Hilfe auf unatürlichem Wege. Und diese beiden Begriffe, der des übernatürlichen Wunders und der der Hilfe in der Not, sind auch noch in der sublimsten Religionsvorstellung vorhanden. Man nehme z.B. die Religion, welche als der Neue Glaube von DAVID FRIEDRICH STRAUSS nach der Zertrümmerung des christlichen Dogmas noch übrig bleibt. Er glaubt nicht einmal mehr an den fast unpersönlichen Gott der Deisten und ist damit über den Wortfetischismus von VOLTAIRE hinausgelangt. Er glaubt aber noch, und er selbst nennt es noch schüchtern Religion, wenn er eine einheitliche Weltordnung annimmt. Ein Universum, das französisch Univers (mit großem U) übersetzt werden mußte. Die Vorstellung von einem übernatürlichen Faktor wäre an sich noch nicht Religion, weil doch auch wir über oder außer den bekannten Gruppen von Naturerscheinungen, die wir Naturgesetze zu nennen pflegen, etwas Unbekanntes annehmen müssen, ein Ding-an-sich der Natur.

Zur Religion wird diese übernatürliche Natur erst dadurch, daß sie dem Gläubigen helfen soll. Helfen allerdings nicht in der groben Art, wie man in Afrika und Europa den Lokalgott, den Fetisch oder das wundertätige Bild um Regen, um Heilung und dergleichen anfleht; helfen soll die sublimierte Religion des Universums in der intimsten Seelennot, in dem geistigen Mangel des Menschen, der sich die Welt nicht erklären kann. Befriedigung schenken soll dieser letzte Schimmer von Religion; um Befriedigung, um Frieden wird dieser abstrakteste Wortfetisch angefleht. Erst wenn der Mensch vom Worte ebensowenig will wie vom groben Negerfetisch, erst wenn er interesselos, d.h. uneigennützig der interesselosen, d.h. gleichgültigen Natur gegenübersteht, erst wenn er mit SPINOZA ganz resigniert der taubstummen und fühllosen Notwendigkeit gegenübersteht, erst dann hat er den Fetischismus oder die Religion überwunden. Wie man sieht, will ich damit nichts gegen die Religion sagen.

Die Abhängigkeit der Mythologie (logos = Wort; erst später Erzählung, noch später erdichtete Erzählung) hat doch selbst MAX MÜLLER erkannt. Er sagt (Einf. i. d. Religionswissenschaft, deutsch S. 317) sehr gut: "Mythologie im höchsten Sinne des Wortes (er meint vorsichtig: jede Religion) ist die durch die Sprache auf den Gedanken ausgeübte Macht, und zwar in jeder nur möglichen Sphäre geistiger Tätigkeit." Das klingt sprachkritisch genug. MÜLLER fährt aber fort: "Und ich zögere nicht, die ganze Geschichte der Philosophie ... einen ununterbrochenen Kampf gegen die Mythologie, einen fortwährenden Protest des Gedankens gegen die Sprache zu nennen." Er sieht, daß Götter Worte sind; er sieht nicht, daß Worte nur Götter sind. Daß auch Philosophie nur Mythologie ist.

Der Vorwurf des Fetischismus, der hier wiederholt gegen Wortmißbrauch erhoben wird, ist doch mehr als bloß ein Bild. Es scheint, als ob die Götter genau auf die gleiche Weise entstanden wären wie Abstraktionen, daß Götter eben auch nichts sind als Abstrakta, wie umgekehrt Abstrakte, in Wahrheit nichts Wertvolles sind, sondern nur Götter.

Man beobachtete am scheinbaren Himmel, wie er bald blau ist und hell, bald finster und regnerisch, man brauchte eine Einheit für die verschiedenen Äußerungen des scheinbaren Subjekts und nannte sie z.B. Zeus. Der blaute oder donnerte und war ein Gott.

Man beobachtete an den scheinbaren Menschenseelen (die selbst wieder im einzelnen Menschen als ein Gott, als ein Ich, das Ich verschiedener Äußerungen, erfunden worden waren) ähnliche Grundstimmungen, Eigenschaften, die den anderen nützlich dünkten: Güte, Tapferkeit oder Zeugungskraft. Man hatte das Bedürfnis der Einheit und nannte das, was sich da angeblich bemerkbar macht: Tugend.

Den Zeus hat die Astronomie exmittiert; sie hat ihm seinen Himmel genommen. So wird die Physiologie den Tugenden ihre Wohnung nehmen, die Seele.

Als die Götter sich mehrten und schwer zu behalten waren, abstrahierte man aus ihnen die Gottheit, an die z. B. noch VOLTAIRE und LESSING glaubten. Aus den Abstraktis ohne Kult hat man immer leerere Begriffe abstrahiert, bis man zum ausgeblasenen Abstraktum Sein oder Wesen gelangte.

Als ROBESPIERRE anstatt des abgeschafften obersten Gottes das "höchste Wesen" proklamierte, tat er eigentlich gar nichts, als ein dürres Abstraktum mit dem ihm einzig gleichwertigen vertauschen. Und das "höchste Wesen", so kurze Zeit es auch was galt, fand doch ebenso wie seine Vorgänger seine Pfaffen, seinen Hokuspokus, seine Kleiderkomödien und seine Metzen und Metzeleien.

Und so glaube ich jetzt den Schritt wagen zu können und sagen zu dürfen, wie buchstäblich ich es verstehe, daß unsere Worte bloße Götter sind. Unsere gegenwärtige Weltanschauung, unsere Weise, Gott zu erkennen und zu verehren, d.h.: uns die Welt aus Ursachen zu erklären, ist uns nur darum  keine  Religion, weil diese Weltanschauung die  unsere,  die gegenwärtige ist. Religion und Wissenschaft müssen, vom Standpunkte unserer Kritik aus, darum in einem unüberbrückbaren Gegensatze stehen, weil Religion jedesmal und für jede Generation nichts anderes ist, als die eben überwundene Weltanschauung der früheren Generation oder die einer noch älteren Zeit. Religion ist die Weltanschauung oder die Sprache, die nicht mehr die Weltanschauung oder die Sprache der jeweiligen Gegenwart ist.

Aber man wechselt Weltanschauungen und Sprachen nicht, wie man ein Hemd wechselt, oder wie Schlangen sich häuten. Es kommen vielmehr neue Weltanschauungen und Sprachen über ein Volk, wie die neue Behaarung über ein Tierhärchen weise. Und auch das gibt wieder ein falsches Bild. Denn die neue Weltanschauung oder Sprache kann nur unmerklich die Bedeutung und den Laut der älteren Weltanschauung oder Sprache umformen. Der gesamte Bau unserer gegenwärtigen Weltanschauung oder Sprache besteht aus einem Material, das die veraltete Weltanschauung oder Sprache war und darum heute Religion geworden ist. Wir leben in unserer Sprache, wie etwa eine Schule in einer ehemaligen Kirche untergebracht worden ist; trotz aller Anpassung stehen die Bänke vor den Heiligenbildern der Kapelle, blickt das Himmelslicht durch gemalte Fensterscheiben hinein, stört von oben das Bimbambum der Glocke. Da ist nie ein Wort in der neuen Sprache oder Weltanschauung, welches nicht seine unverwischbare Geschichte hätte, welches nicht einen konservativen, einen veralteten, einen religiösen Sinn hätte. Darum kann nur die Kritik der Sprache uns zu einiger Klarheit über unsere eigene Weltanschauung verhelfen. Ohne Sprachkritik wird es immer möglich sein, aus der Existenz des Namens auf die Existenz des Benannten zu schließen, so z.B. aus dem Worte  deus  auf das Dasein Gottes.

Die protestantischen Geistlichen nennen sich mit überraschender Selbsterkenntnis Diener am Wort. Sie bilden sich etwas auf die veraltete Form des Ausdrucks ein. Diener des Wortes wäre ihnen nicht mystisch genug. Und wirklich liegt die Wahrheit in der ungewöhnlichen Präposition. Sie können gar nicht Diener des Wortes sein; denn dann müßte hinter dem Worte etwas stecken, was lebt und Herr ist. Sie sind Diener an etwas Leblosem.

Diese Knechte an den Ruderbänken der Wortgaleeren sind nur noch den breiten Massen gefährlich. Ihre Waffen sind stumpf für unseren gebildeten Mittelstand. Er hat neue Worte gemünzt: das Recht, die Sitte, die Wohlfahrt, das Glück. Und unsere Minister, unsere Abgeordneten, unsere Journalisten sind die neuen Diener an diesen neuen Worten, sind die künftigen Pfaffen.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906