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FRITZ MAUTHNER
Morphologie
II-20

"Agglutinierende Sprache nennt die Wissenschaft die Hauptmasse aller Sprachen der Erde darum, weil die einzelnen Worte nicht mehr isoliert nebeneinander stehen wie in "Onkel Dorchen Ei schenken..."

Bevor wir zusehen, welchen Wert die vorläufig vorgenommene morphologische Klassifikation der Sprachen für uns haben könne, wollen wir uns erinnern, daß der Begriff der Morphologie nur bildlich, also mit einem Gedankenfehler behaftet, auf die Sprache angewendet wird. Diese Übertragung gehört zu der ausgedehnten Gruppe der Metaphern, welche vom Sichtbaren zum Hörbaren führen. Der Begriff gehört ursprünglich in die Beschreibung des Tier- und Pflanzenlebens und ist da auch nicht völlig klar. Morphologie heißt da die Lehre von den Gestaltungen, von den sichtbaren Organen des Tiers oder der Pflanze. Da aber ein Individuum außer der Summe seiner Organe nichts besitzt, da von einem Baum z.B. nichts weiter übrig bleibt, wenn man die morphologischen Teile seiner Wurzeln, seines Stammes und seiner Krone, von den Wurzelfasern bis zu den Atmungsorganen der Blätter, genau beschrieben hat, so würde in der Naturgeschichte Morphologie und Physiologie die Beschreibung eines identischen Objekts sein und nur der Gesichtspunkt wäre verschieden. Unter dem Gesichtspunkte der äußern Ähnlichkeit oder Entwicklungsverwandtschaft kommt dann freilich eine neue Klassifikation zustande, welche z.B. die Vorderfüße der Säugetiere und die Flügel der Vögel morphologisch zusammenfaßt.

In jeder Beziehung ist die Sprache als Objekt von dem Tierreiche oder dem Pflanzenreiche verschieden. Vor allem sind die Bildungssilben einer Sprache, die man mit den Gestaltungen eines Tiers oder einer Pflanze vergleicht, nur indirekt für das Auge zu fixieren; sie gleichen vielmehr in der Tat den platonischen Ideen, insoferne sie als Matrizen irgendwo vorhanden sind, die dem Sprechenden die Form aufnötigen, in welcher er spricht. Dabei ist aber die Freiheit des Sprechenden eine so große, daß bekanntlich unaufhörlich Sprechfehler begangen werden, die dem Leben der Sprache nicht schaden, die vielmehr unaufhörlich die Sprache fortbilden helfen. Wir wissen aber, daß auch in der Entwicklung der Organe ebenso unaufhörlich mikroskopisch kleine "Fehler" angenommen werden müssen; es ist also dieser Unterschied nur einer in der Schnelligkeit des Tempos.

Sodann aber sind die Worte unserer Sprache nicht bloß die Summe ihrer Organe. Es bleibt von unseren Worten, wenn man die morphologischen Gestaltungen abzieht, die Hauptsache übrig, der Begriff oder Stamm oder die sogenannte Wurzel. Es beschäftigt sich also die Morphologie der Sprache nicht mit den ganzen Worten, sondern nur mit ihren äußersten Teilen; es ist, als ob die Morphologie eines Tiers sich nur mit den Extremitäten befassen wollte, um Kopf und Rumpf einer andern Wissenschaft zu überlassen. Dies tut die sogenannte Morphologie der Sprache.

Sie will, was alle Sprachwissenschaft will: die Gesetze finden und darstellen, nach denen die Wortformen sich unserem Denken angepaßt haben. Sie will die Geschichte der Sprache schreiben oder dichten. Man kann nun abstrakt die Sache so einteilen, daß man sagt: wir trennen die Wortstämme von den Wortformen, wir untersuchen die Entstehung der Wortstämme besonders und nennen alles, was wir über die Entstehung der Wortformen wissen, ihre Morphologie. Und so geraten wir plötzlich in den gefährlichen Zirkel hinein, von welchem die Logik spricht. Um die Gesetze der Formenbildung zu erkennen, müssen wir vorher eine Klassifikation der Formen, der Bildungssilben u. dgl. aufgestellt haben; um eine solche Klassifikation aber aufstellen zu können, müssen wir vorher die Gesetze der Bildungsformen haben. Man hilft sich, wie immer in solchen Fällen, mit einer provisorischen Übersicht, die man gern eine Hypothese nennt.

Mit gutem Gewissen kann die Sprachwissenschaft doch nur von einer Morphologie zweier Sprachgruppen reden, der semitischen und der indoeuropäischen. Und auch von diesen beiden Gruppen sind wieder nur einige indoeuropäische Sprachen historisch so genau durchforscht, daß eine ernsthafte Geschichte ihrer Bildungsformen begonnen werden könnte. Unsere Nachrichten über die unzähligen andern Sprachen der Erde stammen von so verschieden vorgebildeten Beobachtern her, sind an Zahl und Zuverlässigkeit so ungleich, sind in den meisten Fällen so lückenhaft und entbehren überdies zumeist so vollständig einer historischen Unterlage, daß schon darum ihre morphologische Klassifikation eher einem Kartenhause als einem soliden Gebäude gleicht. Man lehrt, daß die formalen Bestandteile der Worte sich aus ursprünglich selbständigen Worten entwickelt haben; daß also auch den Bildungssilben die sogenannten Wurzeln zugrunde liegen; daß (und dieses vermuten bloß die vorurteilslosesten Forscher) die Bedeutungen jener Wurzeln nicht den Kategorien unserer heutigen Grammatik entsprochen haben; daß endlich in irgend einer alten Zeit jede Sprache in der formlosen Zusammenfügung solcher Wurzeln bestand.

Mit Hilfe solcher Allgemeinheiten kann man noch nicht klassifizieren. Ordnen kann man nur nach bestimmten Merkmalen. Haben nun die Sprachen keine fixierbaren Merkmale, so gibt es doch Ähnlichkeiten im Lautmaterial, welche zu einer ersten Klassifikation dienen können. Französisch "homme" und lateinisch "homo", englisch "man" und deutsch "Mann" sind einander nicht unähnlicher als ein Wolf und ein Hund. Solche Ähnlichkeiten verwischen sich in den Beziehungen, die man die weitere Verwandtschaft nennt, zwar für den Ungelehrten, der die Zwischenstufen nicht kennt; für den Kenner aller Zwischenstufen aber ist die Ähnlichkeit (die sogenannte Verwandtschaft) zwischen "Tochter" und dem sIawischen"dci" nicht minder wahrnehmbar. Nun hätte man allerdings eine derartige Ordnung der bekannteren indoeuropäischen Sprachen nach der Ähnlichkeit ihres Lautmateriales die morphologische Ordnung nennen sollen. Man hat aber zufällig vorgezogen, alle diese Ähnlichkeitsfälle unter den Begriff der etymologischen Sprachverwandtschaft zu sammeln und den Begriff der Morphologie auf diejenigen Fälle anzuwenden, in denen von irgend einer Ähnlichkeit des Lautmaterials nicht die Rede sein kann. Also auch diejenigen Übereinstimmungen, wo z.B. das Lautmaterial des Verbums "haben" oder "tun" aus der einen Sprache sich in einer Bildungssilbe der Verben einer andern Sprache wiederfindet, gehören noch der Etymologie an und nicht der Morphologie. Die reine Morphologie beschäftigt sich mit denjenigen Übereinstimmungen, welche grammatische Kategorien betreffen und ohne greifbare oder nachweisbare Lautähnlichkeit einzig und allein als Ähnlichkeit grammatischer Analogien gedacht werden können.

Dennoch hat man sich nicht gescheut, eine morphologische Klassifikation auf diesen Schatten eines Lufthauchs zu begründen, ja sogar aus solcher Klassifikation den Nachweis von Verwandtschaften zu führen. Nicht die allgemeine Verwandtschaft, welche die Entwicklungslehre voraussetzt, hat man behauptet, sondern einen bestimmten näheren Verwandtschaftsgrad. Ebensogut könnte man nach einem speziellen Ahnherrn der Fliege und des Elefanten suchen, weil beide die morphologische Erscheinung eines Rüssels besitzen. Der Grund dieser Liebe zu phantastischen Annahmen liegt nicht nur in der weit verbreiteten dichterischen Neigung der Menschennatur, sondern wohl auch darin, daß das Objekt der Sprachwissenschaft so schwer festzuhalten ist. Wie der Flug der Vögel unendliche Zeiten hindurch nicht verstanden wurde, wie man erst jetzt, seit Erfindung der Momentphotographie, mit seiner Beobachtung beginnt, wie der Naturbeschreiber des Mittelalters gewöhnlich ohne Kenntnis der Tiere aus den schlechten Berichten älterer Schriftsteller seine Schlüsse zog, so bearbeitet heute noch der Sprachforscher an seinem Schreibtisch häufig diejenigen Zufallsworte und -wortformen, die vielleicht ein abergläubischer Missionar oder ein ehrgeiziger Afrikareisender gelegentlich einmal aufgeschnappt hat.

Aber auch die in großen Zügen vorgenommenen morphologischen Klassifikationen der Sprachen sind wertlos für unsere Erkenntnis. Man hat früher die ganze Masse in zwei formlose Haufen geteilt, indem man alle Sprachen in einsilbige und in mehrsilbige einteilte. Man dachte sich das ungefähr so, daß die Einsilbigkeit die älteste Sprachform sei und einen Zustand darstelle, in welchem das Volk noch nicht imstande ist, logische Beziehungen durch das Wort auszudrücken, weder durch Zusammensetzung der Worte noch durch Umbildung des Wortstammes; zu dem ungeheuern Haufen der mehrsilbigen Sprachen würden dann alle diejenigen gehören, in denen irgendwie logische oder grammatische Kategorien formell ausgedrückt werden können. Ich will beiseite lassen, daß diese Einteilung, welche doch auch die Existenz von Übergängen zugeben muß, geneigt sein müßte, z.B. das Englische wegen seiner auffallenden Zahl einsilbiger Worte zu den primitivsten Sprachen zu rechnen, während es doch offenbar zu seiner Einsilbigkeit auf dem Wege der längsten Entwicklung gelangt ist. Hervorheben möchte ich aber, daß diese Einteilung höchst unpsychologisch vom Standpunkte unserer historischen Grammatik vollzogen worden ist. Die besten Kenner des Chinesischen - und Chinesisch ist immer das Musterbeispiel für einsilbige Sprachen - behaupten, daß in dieser Sprache der psychologische Vorgang der Kategorienbildung gar wohl beobachtet werden kann. Und umgekehrt scheint es mir gewiß, daß ein chinesischer Gelehrter, der vorurteilslos, das heißt ohne sich durch unsere Grammatik und Logik irre machen zu lassen, eine unserer Sprachen analysieren würde, leicht dazu gelangen könnte, die meisten unserer Worte, die aus Zusammensetzungen entstanden sind, für eine Summe einsilbiger Worte oder Wurzeln zu halten. Selbst für uns wäre es nicht schwer, z.B. das Wort "gottgleich" in zwei Worte getrennt zu denken und zu schreiben, wobei freilich "Gott gleich" sich um eine Nuance von der bloßen Ähnlichkeit entfernte und der Identität näherte. Diese Trennung ist uns bei dem Worte "göttlich" schon schwerer zu denken und zu schreiben. Es gab aber eine Zeit, wo das adjektivische Suffix "lich" noch nicht existierte, wo "leiks" (gotisch) noch so viel wie Körper bedeutete, in der Bedeutung von "Gestalt" zu Vergleichungen diente (englisch like) und wo, was jetzt zu "göttlich" geworden ist, noch deutlich in zwei Worten unterschieden war. Der chinesische Gelehrte hätte also gar nicht so unrecht. In ähnlicher Weise dürfte er Worte wie "herrschaftlich" mit Recht in drei Worte trennen. Es will mir scheinen, daß diese Einteilung ungefähr ebenso wissenschaftlich ist, wie die Neigung unserer Volksgenossen, die Menschen in Weiße und in Farbige einzuteilen; es sind die sogenannten Farbigen untereinander mehr verschieden, als einige von ihnen es von uns sind, und überdies sind wir nicht weiß.

Die Einteilung in einsilbige und mehrsilbige Sprachen gilt für veraltet. Ihr Grundfehler jedoch steckt auch in derjenigen Einteilung, die jetzt vielfach für die richtige gehalten wird, die in isolierende, agglutinierende und flektierende Sprachen. Diese saubere morphologische Klassifikation entspricht ganz wohl dem menschlichen Bedürfnis, vorläufig zu schematisieren, wo man nicht endgültig ordnen kann. Diese Einteilung ist jedoch in ihrem Hintergedanken unnachweisbar und wahrscheinlich falsch, und selbst in der Definition ihres Einteilungsgrundes ungenau und unhaltbar.

Für jede dieser Gruppen lassen sich Beispiele aus den buntgemischten Sprachen der Erde herbeiholen. Isolierend ist das Chinesische vielfach, so wie die Sprache unserer zweijährigen Kinder. "Onkel Dorchen Ei schenken." Flektierend sind die Sprachen, die eine so schöne Grammatik haben wie die griechische oder die deutsche Grammatik. Wie steht es aber mit der Agglutination? Agglutinierende Sprache nennt die Wissenschaft die Hauptmasse aller Sprachen der Erde darum, weil - nach Ansicht eben dieser Wissenschaft die einzelnen Worte nicht mehr isoliert nebeneinander stehen wie in "Onkel Dorchen Ei schenken", auch die Bildungssilben noch nicht zu bloßen Flexionsformen geworden sind wie etwa in "der Onkel schenkte usw.". Es soll vielmehr eine Art Verklebung zwischen den Bildungsworten und den Stoffworten eingetreten sein, und es soll diese Verklebung der organischen Verbindung vorausgehen müssen. Der bildliche Ausdruck Agglutination ist hergenommen von dem Zusammenkleben einer Wunde, welche ihrer organischen Zusammenheilung vorausgeht. Unser Satz hätte in der agglutinierenden Periode etwa heißen können "Dorchen-Ei-Onkel-Geschenk" oder vielleicht auch "Onkel-Ei-Dorchen-Geschenk", wo allerdings vorausgesetzt würde, daß durch irgendwelche geistige Operationen je eines dieser Worte zu einem Formwort geworden wäre.

Doch selbst die bloße Unterbringung der Sprachen unter die drei Rubriken stößt auf Schwierigkeiten. Namentlich den richtigen Einteilungsgrund zwischen agglutinierenden und flektierenden Sprachen hat niemand definieren können, weil er in der Natur nicht vorhanden ist. Man umfaßt wohl auch beide Gruppen gemeinsam unter den Namen der flektierenden und nimmt dann eine flektierende Klasse im besonderen für die indoeuropäischen und semitischen Sprachen an. Doch selbst das genügt noch nicht. Die flektierenden Sprachen im engeren Sinne sollen sich dadurch auszeichnen, daß die Stammsilbe in der Flexion ihren Vokal ändert (binden, band, gebunden); diese Vokaländerungen aber haben in den semitischen Sprachen einen gänzlich andern Charakter. Kümmert man sich nicht um das Schema der Agglutination und um unsere europäische Auffassung von der Einsilbigkeit des Chinesischen, so gibt es wichtige Gesichtspunkte, von denen aus das isolierende Chinesisch, das agglutinierende Ungarisch unserem Sprachgefühl näher stehen als das so schön flektierende Hebräisch.

Man ist es nämlich gewohnt, außer im Sanskrit, im Griechischen und Latein die vollendeten Muster organischer, flektierender Sprachen anzustaunen, die modernen Sprachen jedoch als die Fortbildungen der antiken anzusehen, ohne zu beachten, daß sie in morphologischer Beziehung mehr und mehr einer ganz andern Klasse sich genähert haben. WILHELM von SCHLEGEL hat auf einige Erscheinungen hingewiesen, die sich deutlich bei einer Vergleichung zwischen dem Lateinischen und den sogenannten romanischen Tochtersprachen ergeben. Was das Lateinische durch Bildungsformen allein aussprach oder was es unausgesprochen ließ, dazu brauchen die Tochtersprachen besondere Worte; sie setzen z.B. den Artikel vor das Substantiv und das persönliche Fürwort vor das Verbum, sie konjugieren durch Hilfszeitwörter, sie bilden die Kasusform mit Hilfe von Präpositionen, sie steigern die Eigenschaftswörter durch Adverbien usw. Wollen wir diese Erscheinung, die ein wenig anders, zum Teil aber noch auffallender, auch im Deutschen und im Englischen zu beobachten ist, in der Morphologie ausdrücken, so müssen wir sagen, daß die Kultursprachen seit anderthalb Jahrtausenden deutlich das Bestreben haben, sich teils den isolierenden, teils den agglutinierenden Sprachen anzunähern.

Nähert sich nun, wie es scheint, die Formenbildung unserer Kultursprachen mehr und mehr der agglutinierenden Periode oder der agglutinierenden Mangelhaftigkeit, so dürften doch sowohl die historische Stellung als der Wert fraglich sein, die man nachbetend unseren "organischen" Sprachen zuschreibt.

Ein anderes Bedenken gegen die Aufstellung einer agglutinierenden Klasse deutlich gemacht zu haben, ist das unfreiwillige Verdienst MAX MÜLLERs. Er wollte wieder einmal etwas entdecken, und da entdeckte er die Verwandtschaft der agglutinierenden Sprachen. Wohl gemerkt die leibliche Verwandtschaft auf Grund morphologischer Klassifikation. Die Sprachwissenschaft hatte zur Not Ähnlichkeiten, das heißt stoffliche, lautliche Ähnlichkeiten zwischen einer Anzahl von Sprachen ermittelt, die sie die ural-altaische Gruppe nannte. Dazu gehörten überraschend genug Sprachen der Finnen und der Ungarn, der Samojeden und der Türken, die mongolischen und die Mandschusprachen. Es wäre Arbeit genug gewesen, Arbeit für Generationen von Sprachforschern, die bloßen Vermutungen zur Gewißheit zu erheben und womöglich die Frage zu untersuchen, die selbst in der indoeuropäischen Sprachwissenschaft so gerne umgangen wird: ob die nachweisbaren Ähnlichkeiten auf Erbschaft oder auf Entlehnung beruhen. (Denn da die Sprache ein Besitz ist und nicht auf Zeugung beruht, sollte überall nur von Erbschaft anstatt von Verwandtschaft die Rede sein.) MAX MÜLLER jedoch dehnte willkürlich diese Sprachfamilie aus rein morphologischen Gründen fast über ganz Asien und über einige umliegende Gebiete aus, wie z.B. über den Kaukasus und über Polynesien. Er nannte diesen Mischmasch die turanische Sprache. Der Name soll uns nicht weiter aufhalten, da er von der Sprachwissenschaft wieder fallen gelassen worden ist. In einem berühmten Gedichte des persischen Dichters FIRDUSI kommt der Name Tur vor; so heißt der feindliche Bruder eines Mannes, von welchem man ganz bequem die Perser oder Iranier abstammen lassen kann. Nichts ist wohlfeiler, als nun von Tur alle andern Völker abstammen zu lassen, welche auf einem kleinen Kärtchen von Asien um die Perser herum wohnen, diese Völker für blutsverwandt und ihre Sprachen für sprachverwandt zu erklären. Ich mache nebenbei darauf aufmerksam, daß der Name Arier, welcher die sogenannten indoeuropäischen Völker bezeichnen sollte und eine Wortmacht errang, die bis zu Ohrfeigen in Berliner Kneipen führte, daß der Name Arier genau ebenso legendarisch ist wie der Name Turanier oder Hamiten.

Der Protest gegen die unbewiesene Behauptung MAX MÜLLERs führte aber endlich dazu, daß die agglutinierenden Sprachen genauer daraufhin angesehen wurden, ob in dem Schema, das zu ihrer einheitlichen Klassifikation geführt hatte, wirklich auch nur der Grund zu einer Vergleichung liege. Und das Ergebnis dieser genaueren Untersuchung möchte ich allerdings schärfer, als es die verlegenen Gelehrten tun, in dem Satze zusammenfassen: die sogenannte Agglutination ist an sich überhaupt kein Vergleichungsgrund, bietet an sich keine Ähnlichkeit zwischen sonst verschiedenen Sprachen. WHITNEY sagt, daß man die Grade der Agglutination unberücksichtigt gelassen habe, wie sie z.B. zwischen dem kahlen und nahezu isolierenden Mandschu auf der einen und dem reich gegliederten Türkischen auf der andern Seite bestehen; er fragt, ob die Verwandtschaft zwischen den skythischen (ural-altaischen) Sprachen und den indoeuropäischen nicht näher sei als zwischen den skythischen Sprachen und den ebenfalls agglutinierenden malaiischen. FRIEDRICH MÜLLER(Grundriß I, Seite 70) macht besonders darauf aufmerksam, daß die Sprachwissenschaft die verschiedenen kaukasischen Sprachen, die MAX MÜLLER allesamt für turanisch erklärt, noch nicht in Zusammenhang bringen konnte.

Gegen die Aufrechthaltung der agglutinierenden Klasse als einer Vorstufe (einer Vorstufe nach Geschichte und Wert) unserer flektierenden Sprachen würde auch eine Tatsache sprechen, mit der sich die morphologische Klassifikation einmal gründlich abfinden müßte. Soviel ich weiß, werden jetzt die Indianersprachen Amerikas nicht mehr zu den agglutinierenden Sprachen gerechnet. POTT, vielleicht der gelehrteste unter den Begründern der vergleichenden Sprachwissenschaft, hat sehr gewissenhaft den drei Gruppen der morphologischen Klassifikation noch eine vierte hinzugefügt, die der einverleibenden Sprachen. Die Mundarten der jetzt lebenden Indianer sind solche einverleibende Sprachen, die nach den Berichten englisch sprechender Menschen den Unterschied zwischen Wort und Satz so gut wie aufheben. Über die historische Entwicklung dieser Sprachen wissen wir buchstäblich nichts, weil die europäischen Eroberer, als sie auf die hoch entwickelte Kultur Mittelamerikas stießen, sich darauf beschränkten, das Christentum einzuführen und Gold auszuführen; weder zum Morden und Taufen, noch zum Rauben brauchte man die Sprache der Eingeborenen zu studieren. So stehen die Amerikanisten einer historisch unerklärlichen Erscheinung gegenüber. Das Wesentliche dieser Indianersprachen - über deren Verwandtschaft oder Ähnlichkeit man übrigens völlig im unklaren ist - scheint darin zu bestehen, daß durch Einverleibung des Objekts und der adverbialen Bestimmungen in das Verbum (in welchem zugleich das Subjekt enthalten ist) ein einziges Wort ausdrücken kann, was wir in einem kürzern oder längern Satz auseinander legen.

Die phantastischen Erzählungen von Missionaren, daß man dergestalt aus einer einzigen Verbalwurzel zweimalhunderttausend oder nach einer andern Zählung siebzehn Millionen Wortbildungen machen könne, erwähne ich nur, um den Eindruck zu beleuchten, den solche Indianersprachen auf Indoeuropäer machen konnten. Die Ziffern selbst sind offenbar nicht gezählt, sondern aus unfruchtbaren Kombinations- und Permutationsrechnungen hervorgegangen. Aber auch die Wirklichkeit ist für uns noch sonderbar genug. Ich gebe einige wenige Beispiele nach WHITNEY. Es lassen sich nämlich in den Indianersprachen Beziehungen von Tätigkeiten und Umständen, die wir durch ganze Worte oder Nebensätze ausdrücken, einfacher durch einverleibte und einverleibende Partikeln bezeichnen. Das einfachste Beispiel ist, daß der Indianer das Objekt einer Handlung dem Verbum einverleibt. Unsere drei Worte "ich esse Fleisch" werden bei ihm dadurch zu einem einzigen Worte, daß er sagt "ich-Fleisch-esse". Unser Satz aus sechs Worten "ich gebe meinem Sohn das Brot" heißt im Indianischen "ich-es-ihm-gebe-Brot-mein-Sohn". In einer indianischen Bibelübersetzung ist der Satz "er fiel auf die Kniee nieder und betete ihn an" mit einem einzigen Worte wiedergegeben, welches zwölf Silben hat und welches ich nicht nachmalen mag, da ich es nicht verstehe und darum nicht nachprüfen kann.

Aus ähnlichen Gründen verzichte ich darauf, die Einteilung abzuschreiben, welche nach dem augenblicklichen Stande der Kenntnis die Indianersprachen in morphologische Gruppen teilt. Für uns muß es genügen, daß man auf Grund einer morphologischen Ähnlichkeit eine Verwandtschaft aller amerikanischen Sprachen angenommen hat, trotzdem unter ihnen Sprachen von ganz anderem, selbst von isolierendem Bau gefunden worden sind und trotzdem auch in Europa die Einverleibung gar nichts Seltenes ist, wie denn im Ungarischen und Türkischen wenigstens die Pronomina in jedem Kasus dem Verbum einverleibt werden können. Ist doch sogar das Passivum des Lateinischen in ähnlicher Weise entstanden, wenn anders z.B. "amor" richtig aus "amo-se" erklärt wird. Endlich hat man schon seit langer Zeit in der baskischen Sprache, diesem Kreuz der Sprachwissenschaft, Wortungeheuer beobachtet, die mit den sätzefressenden Worten der Indianer eine auffallende Ähnlichkeit haben.

Linguistische Märchenerzähler mögen diese Umstände dazu benutzen, um eine Verwandtschaft der Indianersprachen mit den Sprachen der alten Welt zu beweisen, aus morphologischen Gründen. Hat man doch ebenso den archäologischen Märchenerzählern das Vergnügen gegönnt, die Kultur des originalen Amerika aus den Kulturen Ägyptens oder Phönikiens herzuleiten oder gar die Indianer Abkömmlinge der ins Exil geführten Stämme von Israel sein zu lassen. Von unserem Standpunkt, die wir für das Alter der menschlichen Kultur weit größere Zeiträume annehmen, als die vorsichtige Wissenschaft zuzugeben wagt, wäre gegen die Möglichkeit auch nur eines dieser Märchen historisch nichts einzuwenden. Warum sollen die Indianer nicht zu einer Zeit, als die Nordhälfte der Erde wärmer war, aus Asien über die jetzige Beringsstraße nach Amerika gewandert sein? Warum sollen sie nicht zu einer Zeit, als Südamerika mit Afrika zusammenhing, von Afrika nach Amerika gewandert sein? Warum nicht? Warum nicht ein Dutzend andere Möglichkeiten? Nur daß die Bevölkerung der Alten Welt ebensogut aus Amerika stammen kann und daß die sprachwissenschaftliche Voraussetzung all dieser Träumereien, die morphologische Verwandtschaft, gänzlich unzureichend ist.

Wir werden gegen das Ende dieses Bandes erfahren, wie kurzsichtig es war, die Fragen der Ethnographie sprachwissenschaftlich beantworten oder gar (wie auf dem Umschlag von DEMOLINS "Les grandes routes des Peuples") saubere Wanderkarten entwerfen zu wollen.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906