Chang Tung-Sun | ||||
Chinesisch II-23
Es ist so schwer, sich von dem chinesischen Schrifttum aus zweiter und dritter Hand eine richtige Vorstellung zu verschaffen, daß ich den Versuch aufgeben wollte, die chinesische Sprache in den Bereich dieser Kritik zu ziehen. Nur von einem Gesichtspunkt aus ist das chinesische Schrifttum zu merkwürdig, um übergangen werden zu können. Ich werde mich freilich damit begnügen müssen, Fragen anzuregen, deren Beantwortung Leuten überlassen werden muß, die in die Psychologie der chinesischen Sprache und Schrift eingedrungen sind. Für uns ist die Tatsache wesentlich, daß die allen chinesischen Stämmen gemeinsame Schriftsprache noch in ganz anderem Sinne eine Schriftsprache ist als z.B. unsere deutsche Schriftsprache gegenüber den deutschen Dialekten. Unsere deutsche Schriftsprache oder unser Neuhochdeutsch ist bei aller Abhängigkeit von der Literatursprache doch immerhin eine in ganz Deutschland verständliche Lautsprache, die von Königsberg bis Basel auf allen besseren Bühnen gesprochen wird und der sich überall die Schulmeister anzunähern suchen. Als eine solche Lautsprache aller Gebildeten gibt es auch eine gesprochene Schriftsprache der Chinesen. Während aber die deutschen Dialekte je nach ihrem Klang mit unseren Buchstaben in der Dialektdichtung nachgeahmt und so von der Schriftsprache unterschieden werden, ist die eigentliche Staatssprache in China nur dadurch gemeinsam, daß die Schrift gemeinsam ist. Eine Verordnung der Regierung wird in allen chinesischen Provinzen öffentlich angeschlagen, in der gleichen Druckschrift, wird überall gleich verstanden, aber die gleiche Druckschrift wird in den verschiedenen Provinzen verschieden gelesen. Da diese Druckschrift aber durchaus keine Bildersprache, sondern eine höchst ausgebildete Wortsprache ist, so haben wir eine Psychologie des Lesens vor uns, in welche wir uns nicht leicht hineindenken können. Es scheint damit in enger Verbindung zu stehen, daß die chinesische Bildung und der chinesische Unterricht, der niedere wie der höhere, rein historischer, insbesondere philologischer Art ist, nur daß die Philologie der Chinesen mit Kalligraphie seltsame Beziehungen aufweist. Diese merkwürdige historisch-kalligraphische Gelehrsamkeit hat die Europäer angesteckt, die sich mit dem chinesischen Schrifttum beschäftigt haben. Es gibt aus alter Zeit - die Chinesen setzen diese Erfindung ihrer Schrift noch nicht fünftausend Jahre zurück - eine kleine Tafel, welche acht Zeichen und deren Kombinationen enthält. Es sind die Kombinationen dreier Striche von zwei ungleichen Längen, z.B. I GING usw. Die Tafel heißt das Jking Fohis, das heißt das Buch J, dessen Erfindung dem mythischen König Fohi zugeschrieben wird. Auf uns macht diese Tafel den Eindruck, als ob wir die erste Seite eines Schreibheftes mit den Elementen der Schrift vor uns hätten. Die Chinesen haben über dieses Buch J eine Bibliothek von Tausenden von Werken zusammengeschrieben, und so hat man auch in Europa die unglaublichsten Deutungen versucht. LEIBNIZ suchte mathematische Geheimnisse darin. Ich erwähne diese Kindereien, weil sie charakteristisch sind für die Geistesrichtung Chinas. Auch bei uns zerbrechen sich die Gelehrten ihre Köpfe über rätselhafte Inschriften, aber sie erhoffen von der Lösung doch immer nur Mehrung ihres historischen Wissens; die Geistesrichtung der Chinesen dagegen ist so potenziert historisch, daß sie Bereicherung ihrer realen Kenntnisse von solchen Beschäftigungen erwarten, was bei uns doch nur noch Theologen zuzutrauen wäre. Wenn nun die Chinesen Schriftstücke, die bloß einige hundert Jahre alt sind, in demselben Sinne behandeln wie das Buch J und ferner die Tafel Loschu, so ist es klar, daß sie sich wie unsere alten Scholastiker im Kreise herumdrehen und nicht einmal das bißchen Welterkenntnis der Europäer erlangen können. Es ist bezeichnend, daß darum der größte Teil der chinesischen Literatur moralisches Geschwätz ist, welches dadurch für die Erkenntnis nicht wertvoller wird, daß es braves moralisches Geschwätz ist. Der Schulunterricht der Chinesen entspricht diesen Vorbedingungen. Er ist von der frühesten Jugend bis zur Mandarinenreife eigentlich nur ein Schreibunterricht. Es scheint, daß die Chinesen die Erlernung der Sprache im weitesten Sinne, das heißt die Erlernung des ererbten Volkswissens der Natur überlassen und nur Literatur lehren. Wir sind wenigstens in den höheren Schulen besser daran. Ich glaube aber, daß wir uns von dem Bildungszustand in China ein richtiges Bild machen, wenn wir uns unser Volksschulwesen nach den Wünschen der Kirche erweitert denken. Die Ähnlichkeit wird um so größer, als auch in China der Jugendunterricht (für Knaben) allgemein, wenn auch nicht obligatorisch, ist und dort ebensoviele Leute schreiben gelernt haben wie bei uns. Was unsere Volksschule den Kindern jedoch bietet, ist außer einer notdürftigen Kenntnis des Lesens, Schreibens und Rechnens, wie es für Wirtschaftsnotizen nützlich ist, fast nur noch eine Summe von Bibelsprüchen und Kirchenliedern, von denen wir manche nicht viel besser verstehen als das Buch J. Denke man sich nun, daß unsere Jünglinge auf Gymnasien und Realschulen und auf den Hochschulen nichts anderes hinzulernten als immer mehr Bibelsprüche und Kirchenlieder und die Fähigkeit, neue Kirchenlieder anzufertigen und die alten zu kommentieren, so hätten wir etwas, was ungefähr unserer theologisch-philologisch-kalligraphischen Gelehrsamkeit und der Geistesbildung der Chinesen entspräche. Der Hauptunterschied zwischen den chinesischen und unseren Schulen besteht darin, daß die chinesische Literatur buchstäblich Schrifttum ist. Grammatik, Syntax und Inhalt der Sprache, alles steht nur. auf dem Papier. Der gute Schüler ist in China also derjenige, der die Zeichen unmittelbar versteht; der bessere Schüler versteht die Zeichen schon, wenn der Lehrer sie mit seinem Fächer in die Luft zeichnet. Der vorgerückte Schüler lernt immer noch nichts Reales hinzu, sondern immer nur neue und seltenere Schriftzeichen. Der Gebildete verfügt über ebensoviele tausend Zeichen wie der Mann aus dem Volke über Hunderte. Der vorgerückte Schüler schreitet also nicht zu Kenntnissen vor, sondern immer nur zu einer weiteren Beherrschung der Schrift. Er lernt nach einem sehr künstlichen System die komplizierten Wortzeichen in ihre Bestandteile zerlegen, die wir uns hüten müssen Silben zu nennen, und gelangt so dazu, mit Hilfe dieses Systems die chinesischen Wörterbücher nachschlagen zu können, die vielmehr Zeichenbücher sind, da jeder Begriff sein besonderes Zeichen hat. Kenner des chinesischen Geistes mögen uns erklären, warum die sonst so praktischen und klugen Chinesen es immer abgelehnt haben, die Buchstabenschrift, die man ihnen zum öftern darbot, anzunehmen. Von einer Bilderschrift ist die chinesische jetzt himmelweit entfernt, mag sie auch einst aus einer solchen hervorgegangen sein. Sie ist vielmehr eine Art Silbenschrift, doch nur so, daß auch ein kompliziertes, aus mehreren Begriffszeichen zusammengesetztes Wortbild immer nur eine Silbe darstellt. Silbenschrift ist die chinesische darum, weil das Zeichen, einfach oder kompliziert, doch sehr häufig nur den Klang angibt und dieser Klang bis zu fünfzig verschiedene Begriffe bezeichnen kann. So kommt es, daß der Knabe nach angestrengter zehnjähriger Übung wohl geläufig schreiben und lesen kann, ohne jedoch den Sinn des Gelesenen oder Geschriebenen klar zu verstehen. Es mag in ihren Gehirnen etwa so aussehen, wie wenn auf unseren oder noch mehr auf französischen Gymnasien eine Klasse von lauter dummen Jungen mit einem dummen Lehrer Philologie treibt. Aber die Knaben machen auch in China ihre Prüfungen, auf Grund deren sie Beamte werden. Denn auch in China wird diese Art von Philologie einzig geschätzt. Das Ergebnis des ganzen Bildungsganges ist eine eigentümliche historische Bildung, welche bei den Mandarinen eine Blüte der Rhetorik erzeugt hat, nur daß die Rhetorik bloß auf dem Papiere steht. Es ist eine Rhetorik mit dem Pinsel in der Hand. Und wie bei uns und noch mehr bei den Franzosen die Rhetorik der Lautsprache mit Deklamationsübungen verbunden ist, so gehört bei den Chinesen zur Bildung eines Gentleman eine vollendete Übung in der Kalligraphie. Aus der ausschließlichen Schriftlichkeit des chinesischen Geisteslebens ergeben sich kleine und große Unterschiede gegen die europäische Bildung. Bei uns, wo die allgemeine Verbreitung des Schrifttums erst durch den Buchdruck möglich wurde, ist die Erstarrung der Sprache in der Literatur jüngeren Datums, wenn auch bei den verschiedenen Völkern verschieden alt. Der Italiener liest ohne Schwierigkeit noch DANTE der Franzose nur noch MOLIÈRE, der Deutsche gar nur noch LESSING. Zur Lektüre eines tausend Jahre alten Schriftstellers gehört in Europa schon Gelehrsamkeit. In China hat sich die Lautsprache ebensosehr verändert. Chinesische und europäische Gelehrte haben nachgewiesen (durch Vergleichung alter Reimworte und durch japanische Wörterbücher, welche chinesische Ausdrücke mitteilen), daß die chinesische Sprache vor zweitausend Jahren durchaus anders war als die heutige. Das hindert aber die Chinesen nicht, so alte Literatur zu lesen. Hier ist also ein Punkt, wo die Chinesen denn doch recht zu haben scheinen, wenn sie unsere alphabetisch-phonetische Schrift verwerfen. Es ist nicht paradox, wenn man sagt: die chinesische Schrift kann in jeder Sprache gelesen werden. Es könnte ein Deutscher, ohne ein Wort der chinesischen Lautsprache zu erlernen, die gesamte chinesische Literatur mit den Augen verstehen und sie auf deutsch lesen, vorausgesetzt natürlich, daß sich die chinesische Weltanschauung in deutschen Worten immer wiedergeben ließe. Was uns bei dieser Übertragung des Chinesischen in eine unserer Sprachen am allerseltsamsten erscheint, das ist bekanntlich der Umstand, daß die chinesische Sprache durchaus flexionslos ist. Das Nomen und seine Beiwörter, das Verbum wird nicht abgeändert, weder in der Schrift noch in der Lautsprache (vorausgesetzt, daß der Tonfall in der Lautsprache nicht einen Ersatz gewährt, der für europäische Ohren schwer aufzufassen ist). Haben wir nun z.B. die drei chinesischen Schriftzeichen schang lao lao vor uns, so könnte auch ein Deutscher sie ohne Kenntnis des Chinesischen richtig dem Sinn nach lesen als: Amt Greis Greis. Was er zu lernen hätte, wäre die Kunst, daraus einen indoeuropäischen Satz zu bilden. Da muß er wissen, daß "Greis" ein Nomen, ein Verbum, ein Adjektiv und jedes dieser Worte in jeder Flexionsform sein kann. Es kann bedeuten Greis, Greise, greis, als Greis behandeln (ehren), als Greis behandelt werden, Greis sein, Greis werden usw. Schang lao lao wird etwa heißen: die Beamten oder die Hofleute ehren die Greise. Nun kann ich mir recht gut einen polnischen Juden denken, der von der Fußwaschung in der Hofburg gehört hat, und der diesen indoeuropäischen Satz mit lebhaftestem Mienenspiel etwa so ausdrückt: "Hof! Greis Greis!" Es wäre diese Ausdrucksweise aber nichts weniger als literarisch, während schang lao lao auf dem chinesischen Papier eine wunderschöne rhetorische Floskel ist. Die Grammatiker sind gewöhnt, unter Flexionen nur die Formveränderungen des Nomens und des Verbums zu verstehen. Wir haben längst erkannt, daß die Zeiten des Verbums und die Fälle des Nomens eben nur nach dem Charakter unserer Sprache so überaus häufig sind, daß sie um dieser Häufigkeit willen besondere Kategorien abgeben. Man hätte die Formsilben, durch welche Nomina zu Verben werden, und umgekehrt durch welche Nomina und Verba zu Adjektiven werden, durch welche endlich die unendliche Mannigfaltigkeit der abstrahierten und abgeleiteten Begriffe aus Stammworten entsteht, ebensogut Flexionen nennen können. In diesem weitesten Sinne ist die chinesische Sprache flexionslos. Es bleibe dahingestellt, ob die Zeichen für Ackerbau wirklich einen Acker und eine Hand abgebildet haben; jedenfalls bedeutet dieses Doppelzeichen dann Ackerbau, Wachstum, wachsen, gewachsen, Reichtum, Glück, glücklich, Glück wünschen, ohne daß diese Flexionen im weiteren Sinne besonders ausgedrückt werden. Wieder möchte ich Kenner der Chinesenseele fragen, ob diese Flexionslosigkeit nicht auf die Schriftlichkeit der Sprache zurückzuführen ist. So nämlich: Die frühe Schriftlichkeit der chinesischen Sprache steht in offenbarem Zusammenhange mit der Einsilbigkeit und der Flexionslosigkeit, die europäische Ohren und Grammatiker dem Chinesischen nachsagen. Unser Wort Vater oder pater wird irgend einmal aus drei Bedeutungssilben bestanden haben, pa-te-r, etwa so viel als schutz-tun-er. Die Etymologie mag im einzelnen falsch sein, das Schema ist wahrscheinlich richtig. Wäre nun dieses Wort schon in alter Zeit schriftlich fixiert gewesen, so hätte man entweder die drei Zeichen schutz-tun-er beibehalten oder vielleicht auch bloß Schutz ausgesprochen und tun-er als Zeichen stehen lassen. Beides würde uns chinesisch vorkommen. Dadurch, daß die nichtchinesischen Sprachen soviel länger mündlich blieben, konnte der Wortakzent, der eigentlich ein Kompositionsakzent oder Satzakzent war, die Wörter umgestalten; die unbetonten Kompositionsteile wurden zu Flexionen. Es ist in dieser Beziehung sehr merkwürdig, daß die romanischen Sprachen, in welchen die volleren lateinischen Flexionen noch mehr verblaßten, sich nach dem Untergange der römischen Kultur in den Jahrhunderten entwickelten, in denen bei ihren Völkern die Schrift eine seltene Kunst war. Es scheint mir möglich, daß die Stellung der Zeichen, weil sie mit dem Auge auf dem Papier so viel leichter zu übersehen ist, das Verhältnis der Zeichen zueinander leichter ausdrücken konnte. Daß in der chinesischen Sprache, auch in der Lautsprache, die Stellung der Silben unsere Flexion ersetzt, ist bekannt. Daß aber auch wir Europäer uns diesem Zustande nähern, ist noch nicht genug beachtet worden. Und doch belehrt uns die oberflächlichste Vergleichung, z. B. des Französischen mit dem Lateinischen, daß die Stellung der Satzglieder um so konventioneller wurde und werden mußte, je mehr die alten deutlichen lateinischen Flexionen ihre Form einbüßten. Das gilt im Französischen, verglichen mit dem Lateinischen, für den einfachsten Satz, wie jeder weiß. Die Sache geht aber noch weiter und äußert sich da auch in denjenigen modernen Sprachen, die eine so strenge Wortstellung wie das Französische nicht besitzen. Ein schöner Periodenbau, wie er bei Schülern gelobt wird, ist eigentlich mit voller Klarheit besser durch das Auge als durch das Ohr zu übersehen. Und ein solcher Periodenbau erscheint dem natürlichen Sprachgefühl unwillkürlich als "papierener Stil". Der Erfinder dieses guten Wortes hat sicherlich dabei nicht an die Papiersprache der Chinesen gedacht. Nun besitzt das Chinesische jedoch auch seine Flexionen im weiteren Sinne und - wie ich mir habe sagen lassen auch im engeren Sinne; nur daß die Flexionszeichen nicht gesprochen werden, sondern bloß für das Auge da sind. Was ist es denn anderes als Flexion, wenn das Zeichen "alt" zu Wortbildungen führt? Mit dem Zeichen für "Wort" verbunden heißt es Worte der Alten oder Kommentare. Mit dem Zeichen für "Frau" verbunden heißt es Tante. Mit dem Zeichen für "Fleisch" heißt es gedörrtes Fleisch und nachher dörren. Mit dem Zeichen für "Gewächs" heißt es bitteres Kraut und nachher Mühe usw. Wenn die sichtbaren Flexionszeichen nicht ausgesprochen werden, so scheint das der gleiche Vorgang zu sein, wie wenn z.B. im Französischen die alten Flexionszeichen wohl geschrieben, aber nicht mehr gesprochen werden. So daß aime, aimes, aiment ganz gleich klingen. Nur unsere Entfernung von der Chinesenseele kann uns darüber staunen lassen, daß im Chinesischen das eine Wort jéu nicht nur Hand und rechte Hand, sondern auch herausnehmen, Mondfinsternis (weil eine Hand den Mond zu bedecken scheint), danach düstere Gemütsverfassung, Abend, Herbst, Vollendung, Ursache usw. bedeuten kann. Ich habe kein so kurzes Gedärm, daß ich mich mit meinen oberflächlichen Kenntnissen aus zweiter Hand auf den Streit einlassen könnte, wie alt etwa der Gebrauch dieser sichtbaren Flexionszeichen im Chinesischen sein mag, und ob wirklich erst die Berührung mit dem Ausland nach Beginn der christlichen Zeitrechnung dazu den Anstoß gegeben habe. Hier kommt es mir nur darauf an, überall darauf hinzuweisen, daß sich die wesentlichen Züge des chinesischen Sprachgeistes, in unserer gebildeten Sprache wiederfinden. Nur das erste das beste Beispiel. Innerhalb einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Werkstatt wird der Lehrling deutlich verstehen, was der Meister haben wolle, der "Nadel!" ruft. Es hat für mein Ohr schon etwas Chinesisches, etwas Papierenes, wenn in einem solchen Falle ausdrücklich die Haarnadel, die Nähnadel, die Radiernadel, die Kristallnadel usw. verlangt wird. Umgekehrt wird der Schein einer Begriffsdifferenzierung erweckt, wenn ein Händler in Berlin nebeneinander Süßsahnebutter, Tafelbutter, Tischbutter, Kochbutter und Backbutter anzeigt. Besonders die Unterscheidung zwischen Tafelbutter und Tischbutter erscheint mir als eine Blüte von Chineserei. Der einfache Mann sagt Butter, ist froh, wenn er überhaupt Butter bekommt, und unterscheidet höchstens zwischen guter und schlechter Butter. Das vulgäre Beispiel scheint mir typisch für unzählige vermeintliche Feinheiten der Schriftsprache, namentlich der offiziellen Sprache; nur daß bei uns ein feierlicher Herr die unzähligen gesprochenen Schnörkel beherrschen muß, wo von Mandarinen sechzigtausend gemalte Schnörkel verlangt werden. Auch in China begnügt sich der einfache Mann mit einem Bruchteil dieser gemalten Schnörkel. Man irrt sich, wenn man die Papiersprache der Chinesen für eine größere Belästigung des Gedächtnisses hält als unsere offizielle papierne Sprache. Auch sie ist Ballast für das Gedächtnis, auch sie wird erst durch zehn- bis zwanzigjährige Uebung gewonnen. Wenn es aber wahr ist, daß nur durch die Allgemeinverständlichkeit der chinesischen Papiersprache - weil sie nämlich in allen Dialekten verstanden werden kann - die einheitliche Verwaltung des ungeheueren Reichs möglich ist, so rühmen wir uns doch ebenfalls der einigenden Macht unserer Schriftsprache. Und es klingt wie ein Witz der Sprachgeschichte, daß unsere neuhochdeutsche Schriftsprache, die doch durch Jahrhunderte allein das einigende Band von Deutschland war und es in kritischen Zeiten vielleicht heute noch ist, nachweislich aus der Sprache der deutschen Kanzlei hervorging. Unserem Kanzleistil, insbesondere dem Kurialstil ist nicht einmal die kalligraphische Sorge der Chinesen ganz fern geblieben; ich denke dabei weniger an die so geschätzte schöne Schrift, um welcher willen man in Berlin mit der Zeit Geheimrat werden kann, sondern an unsere gelehrten und sogar politischen Streitigkeiten um Orthographie und Interpunktionen. Orthographie ist zuletzt oft eine Frage der Geschichte und Kalligraphie. Es ist oben schon flüchtig angedeutet worden, daß die psychologischen Wirkungen des Buchdrucks in China weit früher eintraten als bei uns. Unser Typendruck freilich, der bei unseren vierundzwanzig Buchstaben so epochemachend werden konnte, ist bei den vielen tausend Zeichen der Chinesen dort unpraktisch. Er wurde in China schon im 11. Jahrhundert erfunden, geriet aber wieder in Vergessenheit. Das übliche und das alte, auf das 10. Jahrhundert zurückgehende Druckverfahren der Chinesen ist freilich nur eine Faksimilierung durch Stereotypie. Es entspricht in seiner primitiven Art unserer Vervielfältigung durch den Lichtdruck. Darauf kommt es nicht an. Jedenfalls wurde in China jedes Buch schon im Mittelalter leicht und wohlfeil in Tausenden von Exemplaren hergestellt, und so konnte sich dort viel früher als bei uns die Psychologie des Lesens ausbilden, die Gewohnheit, durch das Gesicht zu verstehen. Das Bestehen einer schriftlichen Sprache und das frühe Aufkommen des Buchdrucks waren Wechselwirkungen, wie man zu sagen pflegt. Wie wir jede Chineserei bei uns wiederfinden, so auch die oft verspottete Verehrung der Chinesen für ihre Papiersprache. Was dort der Schriftaberglaube, ist bei uns Wortaberglaube. Es handelt sich da nicht nur um Phrasen, wie daß die Schriftzeichen die Augen oder die Spuren der Weisen seien, daß die Chinesen es für unziemlich halten, bedrucktes Papier a posteriori oder sonst unsauber zu gebrauchen, daß sie unnütz gewordene Druckschriften lieber verbrennen als zu Packpapier verwenden. Ist es doch ein rührender Zug der Chinesen, daß sie Vereine gebildet haben zum ehrfurchtsvollen Verbrennen alter Druckschriften. Ich denke an abergläubischere Gebräuche. Es werden bei der Leichenbestattung gewisse Papiere verbrannt oder diese Papiere dem Toten in die Hand gegeben. Noch toller mutet es uns an, wenn wir bei den Chinesen beschriebenes Papier als Heilmittel kennen lernen. Wenn ein Arzt dort die nötige Arznei nicht gleich herbeizuschaffen vermag, so schreibt er wohl die Verordnung auf ein Stück Papier, verbrennt es und läßt den Kranken die Asche in einem Tränklein einnehmen. Darüber lacht der Europäer, weil er dieselben Dinge nicht mit Papier, sondern mit gesprochenen Worten tut. Oder ist es etwas anderes, wenn Millionen in Europa sich in Krankheitsfällen "besprechen" lassen, ja selbst wenn der europäische Doctor medicinae schon für einen Heilkundigen gilt, sobald er in lateinischen Worten die Diagnose gestellt hat. Die symbolische Bedeutung des Rezepts, das als Papierasche eingenommen wird, geht aber noch weiter. Manchem mag die Vergleichung gesucht erscheinen, die sich mir aufdrängt. Was in der Seele des Chinesen vorgeht, wenn er Rezeptasche gläubig verschluckt, was in der Seele des europäischen Kranken vorgeht, wenn er sich seine Kopfrose besprechen läßt, oder wenn er von der lateinischen Diagnose des Herrn Geheimrats eine Heilwirkung erwartet, das liegt zu unterst dem höheren Gebrauche der Sprache zugrunde, dem Glauben an ihre Fähigkeit, die Wirklichkeitswelt erkennen zu lassen. Auch das chinesische Rezept hat ja doch nur Bedeutung als ein Erinnerungszeichen für das Heilmittel, das verschrieben worden ist; die Naivität des Chinesen, der Rezeptasche verschluckt, besteht ja doch nur darin, daß er von dem Erinnerungszeichen eine reale Wirkung erwartet. Steht es nun anders um den höheren Gebrauch der Sprache, um ihren Gebrauch zum Zwecke der Welterkenntnis? Nur als Erinnerungszeichen für Sinneseindrücke haben Worte überhaupt irgend einen Wert. Sprechen wir nun Worte noch aus, verbinden wir noch Begriffe, nachdem ihr Zusammenhang mit der Sinnenwelt uns verloren gegangen ist, nachdem sie dem Schicksal jeder Sprache verfallen und abgeblaßt sind, so verschlucken wir nur noch Rezeptasche. In Rauch verflüchtigt hat sich das Papier der Chinesen, zu leerem Schall geworden sind unsere einst lebendigen Begriffe. Name ist Schall und Rauch, bei uns wie bei den Chinesen. Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906 |