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BERTRAND RUSSELL
Wilhelm von Ockham
- franziskanischer Scholastiker

"Wir müssen unterscheiden, ob wir von dem Wort als einem Ding sprechen oder ob wir es benützen, weil es eine Bedeutung hat, sonst verfallen wir in Irrtümer wie etwa: "Der Mensch ist eine Species. Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates eine Species"

Nach THOMAS von AQUIN ist WILHELM von OCKHAM der bedeutendste Scholastiker. Über die näheren Umstände seines Lebens weiß man nur ganz wenig. Er wurde wahrscheinlich zwischen 1290 und 1300 geboren und starb am 10.April, ob aber 1349 oder 1350 ist ungewiß. (Der schwarze Tod wütete 1349, so daß dieses Jahr das wahrscheinlichere ist.) man nimmt allgemein an, daß er zu OCKHAM in Surrey geboren wurde, aber Deslisle Burns meint, es müsse sich um OCKHAM in Yorkshire handeln. Er lebte in Oxford, dann in Paris, wo er zuerst Schüler, dann Rivale von DUNS SCOTUS gewesen ist. Er war in den Streit des Franziskanerordens mit Papst Johann XXII. über die Armut verwickelt. Unterstützt von dem Ordensgeneral MICHAEL von CESENA hatte der Papst die Spiritualen verfolgt.

Nach einer früher getroffenen Vereinbarung galt das den Mönchen belassene Eigentum als Geschenk des Papstes, der ihnen die Nutznießung gestattete, ohne daß sie sich durch diesen Besitz versündigten. Dem machte Johann XXII. ein Ende, indem er erklärte, sie sollten regelrechte Eigentümer sein. Dagegen lehnte sich der größte Teil des Ordens unter MICHAEL CESENA auf. OCKHAM, der vom Papst nach Avignon geladen worden war, um sich gegen den Vorwurf der Ketzerei in der Frage der Transsubstantiation (Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi) zu rechtfertigen, trat auf die Seite von Michael Cesena, desgleichen ein anderer bedeutender Mann, MARSILIUS von PADUA. Alle drei wurden 1328 exkommuniziert, entkamen jedoch aus Avignon und suchten bei Kaiser Ludwig Zuflucht. Ludwig war einer der beiden Bewerber um das Reich; er wurde von Deutschland, der andere jedoch vom Papst begünstigt. Der Papst exkommunizierte Ludwig, der gegen ihn an ein allgemeines Konzil appellierte. Der Papst selbst wurde der Häresie bezichtigt.

OCKHAM soll bei einer Begegnung mit dem Kaiser gesagt haben: "Verteidigt mich mit dem Schwert, dann werde ich euch mit der Feder verteidigen." Jedenfalls ließen er und Marsilius von Padua sich unter dem Schutz des Kaisers in München nieder und schrieben recht bedeutende politische Abhandlungen. Was aus OCKHAM nach dem Tode des Kaisers im Jahre 1338 wurde, ist unsicher. Manche behaupten, er habe sich mit der Kirche ausgesöhnt, doch scheint das nicht zuzutreffen.

Wenden wir uns den philosophischen Lehren OCKHAMs zu. Hierüber gibt es ein sehr gutes Buch von Ernest E. Moody,  The logic of William Occam.  Vieles von dem, was ich zu sagen haben werde, stützt sich auf dieses Werk, das eine zwar etwas ungewöhnliche, aber nach meinem Dafürhalten richtige Ansicht vertritt. Wer über die Geschichte der Philosophie schreibt, hat meist die Neigung, die Menschen im Licht ihrer Nachfolger darzustellen; das ist jedoch im Allgemeinen ein Fehler. So führte man auf OCKHAM den Zusammenbruch der Scholastik zurück; dann wieder sah man in ihm einen Vorläufer von DESCARTES oder von Kant oder dessen, der gerade bevorzugte moderne Philosoph des jeweiligen Interpreten sein mochte.

Moody, mit dem ich übereinstimme, hält das alles für falsch. OCKHAM wollte, wie er meint, in erster Linie das unverfälschte Bild des ARISTOTELES, von arabischen und augustinischen Einflüßen befreit, wiederherstellen. Das war in hohem Maße auch die Absicht des heiligen Thomas; die Franziskaner blieben jedoch dabei, sich weit stärker an Augustin, als an ihn zu halten. Moderne Historiker machen bei der Interpretation OCKHAMs nach Moodys Auffassung den Fehler, einen allmählichen Übergang von der Scholastik zu neuzeitlichen Philosophie finden zu wollen; daher hat man moderne Doktrinen aus ihm herausgelesen, wo er in Wirklichkeit nur ARISTOTELES auslegte.

Am bekanntesten ist OCKHAM durch einen Ausspruch geworden, der sich nicht in seinen Werken findet, jedoch die Bezeichnung "OCKHAMs Rasiermesser" bekommen hat. Dieser Satz lautet: "Entitäten sollten nicht unnötig vervielfacht werden." Wenn auch nicht dies, so sagte er doch etwas, was ungefähr auf dasselbe hinausläuft, nämlich: "Es ist unnütz, etwas mit mehr zu tun, was auch mit weniger getan werden kann." Das heißt, wenn sich in irgendeiner Wissenschaft alles interpretieren läßt, ohne diese oder jene hypothetische Entität vorauszusetzen, dann soll man sie auch nicht voraussetzen. Ich für mein Teil habe festgestellt, daß dieses Prinzip bei der logischen Analyse höchst fruchtbar ist.

In der Logik, wenn auch offenbar nicht in der Metaphysik, war OCKHAM Nominalist; die Nominalisten des fünfzehnten Jahrhunderts sahen in ihm den Begründer ihrer Schule. Er glaubte, Aristoteles sei von den Scotisten falsch ausgelegt worden und diese falsche Auslegung gehe teilweise auf den Einfluß AUGUSTINUS, teils auf AVICENNA, teils aber auf eine frühere Quelle, nämlich die Abhandlung des PORPHYRIUS über ARISTOTELES'  Kategorien  zurück. Porphyrius warf in dieser Abhandlung drei Fragen auf:
  • Sind Gattungen Arten oder Substanzen?
  • Sind sie körperlich oder unkörperlich?
  • Sind sie, wenn das letztere zutrifft, in sinnlich wahrnehmbaren Dingen oder getrennt davon?
Er stellte diese Fragen als sachlich zu den aristotelischen Kategorien gehörig und veranlaßte damit das Mittelalter, das  Organon  zu metaphysisch auszulegen. Thomas hatte versucht, diesen Irrtum auszumerzen, aber durch Duns Scotus war er wieder neu entstanden. Die Folge war, daß Logik und Erkenntnistheorie in Abhängigkeit von der Metaphysik und Theologie gerieten. OCKHAM begann sie wieder zu trennen.

Für OCKHAM ist die Logik ein Instrument der Naturphilosophie, das von der Metaphysik unabhängig sein kann. Logik ist die Analyse der diskursiven Wissenschaft; die Wissenschaft hat es mit Dingen zu tun, die Logik jedoch nicht. Die Dinge sind individuell; unter den Termini gibt es dagegen Universalien; die Logik behandelt die Universalien, während sich die Wissenschaft ihrer bedient, ohne sie zu erörtern.

Die Logik beschäftigt sich mit Termini oder Begriffen nicht als seelischen Zuständen, sondern um ihrer Bedeutung willen. "Der Mensch ist eine Spezies" ist kein logischer Satz, weil er eine Kenntnis vom Menschen voraussetzt. Die Logik befaßt sich mit Dingen, die der Geist in sich selbst erzeugt und die ohne die Vernunft nicht existieren können. Ein Begriff ist ein  natürliches,  ein Wort ein  konventionelles  Zeichen. Wir müssen unterscheiden, ob wir von dem Wort als einen Ding sprechen oder ob wir es benützen, weil es eine Bedeutung hat, sonst verfallen wir in Irrtümer wie etwa: "Der Mensch ist eine Species, SokratesSokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates eine Species."

Termini, die auf Dinge hinweisen, nennt man "Termini erster Intention", Termini, die auf Termini verweisen, "Termini zweiter Intention". Die Termini der Wissenschaft sind erster, die der Logik zweiter Intention.  Metaphysische  Termini nehmen insofern eine Sonderstellung ein, als sie beides bezeichnen, Dinge, die durch Wörter erster Intention, und Dinge, die durch Wörter zweiter Intention bezeichnet werden. Es gibt genau sechs metaphysische Termini: Sein, Ding, etwas, eins, wahr, gut. Diese Termini haben die Eigentümlichkeit, einander wechselseitig als Prädikat dienen zu können. Aber zum logischen Denken sind sie nicht erforderlich.

Begriffen werden Dinge, nicht Formen, die ja der Geist schafft; die Formen sind nicht das,  was  begriffen wird, sondern  wodurch  die Dinge begriffen werden. Die Universalien sind in der Logik nur Termini oder Begriffe, die von vielen anderen Termini oder Begriffen ausgesagt werden können.  Universale, Gattung, Art  sind Termini zweiter Intention und können infolgedessen nicht  Dinge  bedeuten. Da aber bei einem seienden Universale "seiend" und "eins" gleichbedeutend sind, ist das Universale  ein  individuelles Ding.

Ein Universale ist nur ein Zeichen für viele Dinge. Hierin stimmt OCKHAM mit Thomas gegen Averroes, Avicenna und die Augustiner überein. Beide behaupten, es gäbe nur individuelle Dinge, individuelle Meinungen und Vorgänge des Begreifens. Allerdings geben beide, Thomas wie OCKHAM, das  universale ante rem  (Allgemeines vor dem Ding) zu aber nur um die Schöpfung erklären zu können; sie hat in Gottes Geist bestehen müssen, damit er die Schöpfung vollbringen konnte. Das aber gehört in die Theologie, nicht in die Erklärung  menschlicher  Erkenntnis, die sich nur mit dem  universale post rem  (Allgemeines nach dem Ding) beschäftigt. Bei der Erklärung der  menschlichen  Erkenntnis gibt OCKHAM niemals zu, daß die Universalien Dinge wären. SOKRATES ähnelt PLATON, meint er, aber nicht kraft eines dritten  Dinges  genannt  Ähnlichkeit.  Ähnlichkeit ist ein Terminus zweiter Intention und ist im Geist.

Behauptungen über künftige Möglichkeiten sind nach OCKHAM weder falsch noch richtig. Er macht keinen Versuch, diese Ansicht mit der göttlichen Allmacht in Einklang zu bringen. Hier wie anderwärts hält er die Logik von der Metaphysik und Theologie getrennt. OCKHAM bestand auf der Möglichkeit, Logik und menschliche Erkenntnis unabhängig von Metaphysik und Theologie zu studieren, und förderte dadurch mit seinem Werk die wissenschaftliche Forschung. Die Augustiner irrten, sagt er, wenn sie zunächst von der Annahme ausgingen, die Dinge könnten nicht begriffen werden und der Mensch könne sie nicht begreifen, dann aber eine Erleuchtung vom Unendlichen her zu Hilfe nahmen, durch die Erkenntnis möglich wurde. Hier ist er gleicher Ansicht wie Thomas von Aquin, die er allerdings nicht mit demselben Nachdruck vertritt, denn jener war in erster Linie Theologe, OCKHAM aber, soweit es sich um Logik handelte, vor allem ein weltlicher Philosoph.

Seine Einstellung ermutigte alle, die sich mit einzelnen Problemen befaßten, zum Beispiel seinen unmittelbaren Nachfolger NIKOLAUS von ORESME (gest. 1382), der sich mit einer Planetentheorie beschäftigte. Dieser Mann war in gewissem Sinne ein Vorläufer von Kopernikus; er bewies sowohl die geozentrische wie die heliozentrische Theorie und behauptete, daß sich mit jeder von ihnen alles bislang Bekannte erklären lasse; daher sei es unmöglich, sich für eine von beiden zu entscheiden.

Nach WILHELM von OCKHAM gab es keinen bedeutenden Scholastiker mehr. Eine neue Zeit für große Philosophen begann erst mit der Spätrenaissance.
LITERATUR - Bertrand Russell, Scholastische Denker in ders. "Philosophie des Abendlandes", Wien/Zürich 1988