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FRITZ MAUTHNER
Aus dem
Märchenbuche der Wahrheit



Das Gesetz

Seit Weltengedenken liebten einander der Mond und die Erde.

Eines Erdenabends, es hatte zwischen den Liebenden stundenlang gewittert und sie waren wieder gut, sagte die Erde: "Willst du was Tolles hören, lieber Mond? Horch zu. Der Staub auf meinem grünen Gürtel vermag ein Geräusch zu machen. Der Staub nennt das Sprechen und Denken."

"Ho!" machte der Mond erstaunt. "Spricht und denkt er auch was über uns, der Staub auf deinem lieben grünen Gürtel?"

"Ja. Der Staub hat herausgebracht, daß du dich um mich drehst."

"Ho, das war schwer! Was weiß er noch, der kluge Staub?"

"Nichts weiter. Nicht daß der Äther uns innig verbindet, nicht, daß wir unendliche Küsse tauschen, nicht, daß du dich mit deiner Kraft einwühlst in meine wogenden Meere. Nichts. Aber er hat einen Grund gefunden für dein Drehen, wie er es nennt."

"Was für einen Grund?"

"Ein Wort."

"Hoho! Wie kann ein Wort ein Grund sein? Was für ein Wort?"

"Gesetz nennt der Staub unsere Liebe."

"Hohohoho! Was ist das, Gesetz?"

"Der Staub auf meinem grünen Gürtel hat viele Gesetze. Das sind kleine Tafeln und auf jeder steht ein Wort: du sollst. Und wenn nun ein Staubkorn nicht kann, so kommt ein zweites, eins mit Eisenatomen, und packt es beim Kragen. Das ist das Gesetz des Staubes und so erklärt er sich unsere Liebe. Wir sollen! Wir!"

"Hoho!" lachte der Mond und preßte die Erde an sich und spülte mit etwas Flut den Staub von ihrem lieben grünen Gürtel.

"Das war die Sintflut", sagte der Staub.


Zwei Bettler

Zwei Bettler saßen an der Kirchentür. In der Kirche donnerte der Pfarrer von der Allmacht und von der Güte Gottes, ermahnte die Sünder und mahnte zum Glauben. Die Männer und Frauen blickten verstohlen aufeinander oder lasen in ihren Büchern oder schliefen. An dem großen Fenster rechts vom Hauptaltar zwitscherten die Schwalben.

Bis vor die Kirchentür hinaus hörte man von Zeit zu Zeit die eindringlichsten Stellen der Predigt. Denn es war Sommer, die Tür stand offen, und die Bettler hatten ihre Gebreste entblößt. Und Schwalben schossen hin und her und fingen im Fluge die kleinen Mücken. Der jüngere Bettler hatte nur einen Stelzfuß. Dem älteren Bettler fehlte ein Arm und seine Brust war grauenhaft zerfressen.

Der jüngere Bettler sagte: "Der Pfaff ist doch ein Feigling. Ich kann hier in der warmen Sonne sitzen und brauche immer nur: "Vergelt's Gott" zu sagen und stehe mich jahraus, jahrein ebenso hoch wie er. Dafür muß er aber Tag und Nacht ein Gesicht machen wie ein Leichenbitter und muß alle segnen, die ihm was geben, mit vielen hundert Worten segnen, und auf lateinisch, die Kinder, die Brautleute und die Toten. So eine Memme, und kommt nicht höher als ich! Pfaff, anstatt sich ein Bein abschießen zu lassen!"

Der alte Einarm schlug ein Kreuz und sagte: "Lästere nicht! Du wirst noch die ewige Seligkeit verscherzen."

"Ewige Seligkeit?...! Du natürlich, du hältst zu den Pfaffen. Für dich hat Gott auch etwas getan. Er hat dich als Einarm auf die Welt kommen lassen und dir dazu den Aussatz gegeben. Du hast allen Grund, ihm dankbar zu sein. Aber ich? Nichts hat er mir gegeben, und ich pfeife auf den Pfaffen. Alles habe ich mir selber zu verdanken." Und er schob den versteckten Fuß ein wenig zurück und schnallte das Stelzbein fester.


Das Opfer

Es war einmal ein Maler, der hatte viel gelernt auf der Akademie: Zeichnen und Farbenreiben, Anstreichen und Sichkleiden und große Pläne machen. Dazu hatte er noch eine wunderschöne Geliebte.

Er hieß Stieglitz und war ein schlechter Maler. Die Geliebte aber hatte starke Arme und starr emporgerichtete Augen; sie wollte ihn hoch sehen über seinen Genossen oder ihn hochheben über sie, wenn er nicht steigen konnte aus eigener Kraft.

Er ging müßig umher und sprach von einem großen Bilde, das sollte "das Opfer" heißen. Morgen wollte er anfangen. Nur ein Modell suchte er für das "Opfer".

Jahrelang suchte er sein Modell. Endlich fragte die Geliebte: "Was suchst du denn für ein Modell? Was wird dieses Weib denn können, das ich nicht kann?"

"Schön muß sie sein wie du, und dieses Messer muß sie sich in die Brust stoßen können, aufrecht auf dem Modelltisch, vor mir."

"Spann die Leinwand auf", sagte die Geliebte. "Nimm die Palette und mach die Augen auf!"

Ein Band nur löste sie und alle Gewänder fielen von ihr ab. Nackt stand sie da, schlank und voll in ihrer Blüte; sie stieg drei Stufen hinauf, setzte das Messer an unter der schwellenden linken Brust, blickte stolz und entschlossen empor und fragte: "Ist es so recht?"

"Nicht ganz", rief der Maler ungeduldig. "Das ›Opfer‹ muß ja lächeln! Lächelnd muß sie das Messer hineinstoßen."

Die Geliebte lächelte und stieß sich lächelnd das Messer tief ins Herz.

Der Maler ist alt geworden und hat sein großes Bild nie gemalt. Er hatte doch ein glückliches Lächeln verlangt! Mit einem glückhaften Lächeln auf den Lippen mußte das Opfer sterben. Die Geliebte aber hatte im Tode ganz falsch gelächelt, bitter, spöttisch.


Der Buchweizen und die Rechenmeister

Das Volk hatte nicht genug Buchweizengrütze. Als es immer lauter nach Grütze schrie, bestellte die Regierung einen gelehrten Rechenmeister, der herausbringen sollte, auf welchem Boden Buchweizen am besten gedeihe. Der Meister erhielt einen Gehalt, eine Frau, drei Assistenten, ein Laboratorium und eine Bibliothek. Nach langen Mühen und Versuchen brachte er endlich heraus, daß Buchweizen am besten in einem Boden gedeihe, der aus der und der Mischung von Lehm, Sand und seinen Nitraten bestehe. Er veröffentlichte diese Entdeckung, und das Volk freute sich.

Bald stellte es sich aber heraus, daß das Volk nicht wußte, welcher Boden aus der und der Mischung bestehe. Da gab die Regierung einem anderen Rechenmeister einen Gehalt, eine Frau, drei Assistenten, ein Laboratorium und eine Bibliothek, und dazu den Auftrag, herauszubekommen, woran man einen Boden von der und der Mischung erkenne. Der treffliche Gelehrte studierte zuerst mit der Retorte und dem Mikroskop, dann erst entschloß er sich, Experimente mit dem Aussäen von Buchweizen anzustellen. Sie glückten. Nach langen Mühen und Versuchen brachte er es heraus, daß man einen Boden von der und der Mischung daran erkenne, daß Buchweizen darin am besten gedeihe. Er veröffentlichte diese Entdeckung, und das Volk freute sich.

Viele Jahre später kam ein schlechter und sparsamer Mann an die Spitze der Regierung. Da beide Rechenmeister eben gestorben waren, gab der neue Minister eine Frau, drei Assistenten, ein Laboratorium und eine Bibliothek an das Nachbarvolk ab, steckte einen Gehalt in den Staatssäckel und betraute einen dritten Gelehrten mit beiden Wissenschaften.

Schleunig bekam dieser eine Gelehrte Kopfschmerzen und dachte nach, wie er die beiden Entdeckungen vereinigen könnte. Eines Tages, als er es vor Kopfschmerzen nicht mehr aushalten konnte, fiel es ihm ein. Wo Buchweizen am besten gedeiht, da ist der und der Boden; wo der und der Boden ist, da gedeiht Buchweizen am besten. Alle drei Assistenten sprangen von ihren Arbeitsstühlen auf, als sie den logischen Schluß vernahmen: Also gedeiht Buchweizen dort am besten, wo Buchweizen am besten gedeiht.

Uneigennützig überließ der treffliche Rechenmeister seine Entdeckung den drei Assistenten und seiner Witwe. Denn er hängte sich auf.


Zwei Schuster

Es hat eine Zeit gegeben, wo alle Menschen glaubten, die Erde schwimme als eine beträchtliche Scheibe auf dem Ozean. Nur über die Form der Scheibe ist man damals nicht einig gewesen.

Zu dieser Zeit lebten in Athen zwei Schuster in einer gemeinsamen Werkstatt. Sie waren gute Schuster und arbeiteten gleichmäßig an jedem Paar Stiefel, der eine am rechten, der andere am linken Stiefel. Aber sie waren nicht einer Meinung über die Form der Erdscheibe. Der eine Schuster hielt sie für kreisrund, der andere für rechteckig. Unablässig schlugen sie mit dem Hammer, bohrten sie mit der Ahle und schmierten sie mit Pech; aber ebenso unablässig zankten sie, und der eine verschwor die Häupter seiner Kinder fürs Quadrat, der andere für den Kreis. Nur die Stiefel machten sie nicht nach dem Vorbild des Quadrats oder des Kreises, die Stiefel machten sie nach der Form ihrer eigenen großen Füße, der eine den rechten, der andere den linken. Und sie standen oder saßen, beim Streit oder bei der Arbeit, fest auf der schwimmenden Erdscheibe.

Die Ururenkel der beiden Schuster von Athen sitzen wieder in einer gemeinsamen Werkstatt. Jetzt zanken sie über die Freiheit des Willens und über die Ungleichheit der Menschenköpfe. Ihre Stiefel aber machen sie immer noch gleich nach ihren großen Füßen, der eine den rechten, der andere den linken, und arbeiten willig.


Rosenrote Fenster

Der gute Herzog lebte mit seiner schönen Frau in einem großen Schlosse, das hatte lauter rosenrote Fensterscheiben. Darum glaubte der Herzog, die Welt sei rosenrot. Denn er kam niemals aus dem Schlosse heraus.

Eines Tages las er in seiner rosenroten Zeitung, die Bürger lebten der Meinung, die Welt sei nächtens schwarz, bei Tage aber mitunter blau und meistens grau. Da wurde er zornig und rief seinen Schatzmeister. Der mußte ungeheure Schulhäuser im ganzen Lande bauen, darin waren lauter rosenrote Fensterscheiben.

Nun lernten die Schulkinder wirklich, die Welt sei rosenrot, und waren guter Dinge. Wenn sie aber herauskamen aus den Schulhäusern, so erfuhren sie zu ihrem Schrecken, daß die Welt nächtens schwarz war, bei Tage aber mitunter blau und meistens grau. Weil sie nun die Augen an die rosenrote Farbe gewöhnt hatten und weil sie sich über die Fopperei ärgerten, darum erschien ihnen auch der blaue Himmel gräulich.

Der Herzog las in seiner rosenroten Zeitung, daß die Schule die Bürger nicht gebessert hätte. Da ließ er noch zorniger seinen Kriegsfeldherrn kommen und befahl ihm, jeden einzelnen Bürger zu binden und ihm beide Augen mit Gewalt rosenrot anzustreichen. Das tat weh, und die Bürger wurden böse. Sie rotteten sich vor dem Schlosse zusammen und drohten die rosenroten Schloßfenster mit grauen Steinen einzuwerfen. Da erschraken der Kriegsfeldherr und der Schloßkaplan über alle Maßen. "Alles, nur das nicht!" Es gab nämlich eine alte Wahrsagung, daß die Kapelle einstürzen müßte, wenn auch nur eines der rosenroten Schloßfenster zerbrochen würde. Lieber sollte alles beim alten bleiben.

Der gute Herzog aber wollte noch einen Versuch machen. Er berief abermals seinen Schatzmeister und sagte zu ihm: "Mein lieber Schatzmeister, öffne alle deine Truhen; wir wollen über der Erde einen neuen starken Himmel aus rosenrotem Glase bauen. Dann werden die schlechten Bürger endlich zugeben müssen, daß die Welt rosenrot aussieht."

"Dann wäre sie es sogar, Hoheit", sagte der ehrliche Schatzmeister. "Aber dazu langt's nicht."

Und so blieb alles beim alten.


Die Palme und die Menschensprache

Am niederen Ufer des Kongo standen zwei Palmen, eine alte, hohe, mit Früchten behangene, nicht weit ab eine junge, schlanke, nicht größer als drei Menschenzwerge, und die blühte zum erstenmal. Die junge Palme dachte gar nichts, denn sie blühte. Die alte sann seit Jahren nach und wollte etwas sagen. Doch alles, was sie durch Biegen und Rauschen zustande brachte, war doch immer nur: Es ist schwül, es regnet, und so ähnlich. Da beneidete sie die Menschen, die so schön schwarz waren, auch um ihre geläufige Sprache.

Eines Tages kamen Mwato und Nganya mit Spaten heran und begannen die junge Palme mit allen Wurzeln aus der dunklen Erde zu graben. Die alte Palme hatte die Empfindung, nun könnte es hier still werden. Und sie wunderte sich, daß der Jüngling und das Mädchen nicht unaufhörlich plauderten, da sie es doch konnten. Die aber gruben nur immer tiefer.

Als die heiße Mittagstunde nahte, legte Mwato zuerst den Spaten fort und Nganya folgte ihm. Er holte Nüsse herbei, und sie brachte Wasser. Sie hielten eine Mahlzeit und dann begannen sie zu sprechen.

NGANYA: Hat der weiße Mann dir das Geldstück schon gegeben, ich meine den Lohn, weil wir die junge Palme ausgraben?

MWATO: Er hat es mir versprochen. Versprechen ist dasselbe, wie geben.

NGANYA: Kannst du mir sagen, zu welchem Zauber die weißen Männer die Palme brauchen?

MWATO: Das kann ich dir ganz genau sagen. Sie sind Priester des Kaisers, der kein Land hat und auf dem Wasser herrscht. Ich verstehe sehr gut ihre Sprache. Es ist Englisch, was soviel heißt wie die Göttersprache. Der Kaiser dieses Landes hat gar kein Land. Aber dort ist es das ganze Jahr so kalt, daß das Meer so hart wird wie Stein. Darum kann er auf dem Wasser herrschen. Auf dem harten Wasser wachsen aber nur Jamwurzeln und Reis, nicht Bananen und Datteln. Der Kaiser aber wird böse, wenn er nicht Bananen und Datteln hat, und findet er keine in der längsten und kältesten Nacht des Jahres, so muß der Himmel einstürzen, und das harte Wasser wird in Trümmer geschlagen, und ihr oberster Gott, der kein Wasser vertragen kann, muß ins Meer stürzen.

NGANYA: Das ist Bitterwasser.

MWATO: Bitterwasser kann er auch nicht vertragen. Nun kamen die weißen Priester sorglich zu uns, um für ihren Kaiser Bananen und Datteln zu holen. Jetzt aber holen sie sich schon junge Bäume und wollen sie ganz und gar auf ihr gefrorenes Wasser pflanzen.

Nganya warf sich auf den Rücken und strampelte vor Vergnügen mit ihren schwarzen Beinen. Sie lachte unbändig. Dann sprang sie auf, umrankte mit ihrem schlanken Leib die junge Palme und rief unaufhörlich: "Ich will dich wärmen, du sollst nicht frieren!" – Und dann lachte sie wieder und sagte zu Mwato: "Soll ich auch dich wärmen?"

MWATO: Sie wird nicht frieren. Der oberste der weißen Priester hat mir alles genau erzählt, und ich habe alles genau verstanden. In der Hauptstadt des gefrorenen Wasserlandes steht ein großer Tempel, und seine Wände sind hart wie Eisen und durchsichtig wie Luft.

NGANYA: Du lügst!

MWATO: Ich nicht. Es ist der Tempel der Palmen. Dorthin schaffen sie Erde vom Kongo und senken die Palmen mit Wurzeln ein. Dort auch – so sang mir der erste der Priester – schüren des Tempels dienende Brüder ein ewiges Feuer im Palmendienst. Und die Sonne scheint durch die luftigen Wände und vermählt sich drin mit dem ewigen Feuer und ruft die Palmen hinauf in die Höh.

NGANYA: Weißt du noch mehr so Märchen? Was geschieht sonst in dem Tempel der Palmen?

MWATO: Des Morgens sieht man dort junge Mütter mit ihren Säuglingen und Lehrer mit den Knaben. An den Palmen lernen die Knaben lesen.

NGANYA: Lesen? Was ist das?

Mwato (nachdenklich): Ich weiß nicht gewiß. Ich glaube so ungefähr gefrorenes Sprechen.

NGANYA: Und dann?

MWATO: Dann kommt in der Dämmerstunde wohl ein Lehrer und eine junge Mutter allein unter die Palmen und empfangen die Weihen für das Geheimnis der Liebe.

NGANYA: Liebe?

MWATO: Na ja, das ist wieder gefrorene Freude bei ihnen; wie zum Beispiel, wenn wir beide erfroren wären und uns doch umarmen wollten.

Nganya warf sich lachend auf Mwato und schrie: "Ich bin nicht erfroren, ich liebe dich nicht." Dann hielt sie plötzlich inne und sagte: "Nein, es muß doch schön sein, sich vorher dazu weihen zu lassen. Womit werden sie geweiht?"

MWATO: Mit Kleidern.

NGANYA: Kleider? Was ist das schon wieder?

MWATO: Bunte Matten. Wer dort keine solchen Kleider auf dem Kopfe trägt, der heißt ein Heide und wird verbrannt.

Nganya (weinend): Ich will nicht hin! Ich will mich vom Kleiderpriester nicht weihen lassen! Mir wird kalt!

Und sie warf sich schluchzend mit den Augen auf Mwatos Kniee.

Die alte Palme aber, die hoch hinausragte über den Urwald und viel gesehen hatte, wiegte sich leise und merkte, daß die weißen und schwarzen Menschen einander nicht verstanden.

Nach einer Weile flüsterte NGANYA: "Wie gut du bist!"

Mwato antwortete: "Nein, du bist gut!"

Die alte Palme sah ihnen in die Augen und vernahm, daß sie beide sagen wollten: "Ich bin glücklich."

Mwato und Nganya waren glücklich alle zwei beide.

Aber die alte Palme wußte jetzt, daß auch gleichfarbige Menschen einander nicht verstehen, selbst dann nicht, wenn sie sich verstehen wollen, und sie beneidete die Menschen nicht mehr um ihre arme Sprache.


Die Jury

Ein tüchtiger König hatte auch Adler in seinem Reich. Lange achtete er ihrer nicht, bis eines Tages ein Abenteurer an des Königs Tisch den Einfall vorbrachte, man könnte gut gezüchtete Adler zu einer Schwadron von Brief- und Paketträgern drillen für den nächsten Krieg. Der König schenkte dem Abenteurer eine abgelegte Komtesse zur Frau und lenkte seine hohe Aufmerksamkeit sofort auf die Adlerzucht. Für das bestgebaute Adlerweib setzte er einen Preis aus. Und Ochsen bestellte er zu Preisrichtern.

Vettern einer kalbenden Kuh, die dem König befreundet lebte, waren alle Preisrichter. Und allemal hörten sie zuerst die Meinung der Kuh, bevor sie auch nur "Muh" sagten. Es waren bebänderte Ochsen, und zierliche Glöckchen hingen ihnen von der Wampe hinunter.

Ein junges Adlerweib, weil es töricht war, ihren Adlermann verlassen hatte und sich in ihrem einsamen Stadtnest nicht wohl fühlte, meldete sich zum Wettbewerb. Ein stolzes Adlergeschöpf.

Um das Adlerweib standen die Preisgeschworenen herum, sieben Ochsen, und dem Neste zunächst die einflußreiche Kuh mit ihrem Kalbe.

"Hat sie Hörner?" fragte der Ochsenälteste und rüsselte mit seinem Maul vor den Augen des Adlerweibs.

"Mein Kälbi kriegt sie bald", sagte die Kuh. "Und nicht einmal ihr Mann hat welche."

"Muh", machten die sieben Ochsen.

"Hat sie ein goldenes Joch?" fragte der zweite Ochse und legte sich zum Wiederkäuen nieder.

"Nicht einen roten Pfennig", sagte die Kuh. "Mein Kälbi hat auch kein Geld, aber es gehört zur Familie."

"Muh", machten die sieben Ochsen.

"Kann sie alten Fraß wiederkäuen?" fragte der dritte Ochse.

"Lebendiges schlingt sie hinunter", rief die Kuh.

"Seht nur, wie schön mein Kälbi schon wiederkäut."

"Muh."

"Hat sie 'nen Stall, 'nen warmen Stall?" fragte der vierte Ochse.

"Bei Mutter Grün, in Luft und Wind!" rief die Kuh.

"Eine Hergeflogene! Aus dem Ausland! Nicht einmal eine Streu hat sie wie mein Kälbi, das hier geboren ist."

"Muh."

"War sie bei Hofe?" fragte der fünfte Ochse und bewegte die Wampe, daß die Schellen klingelten.

"Ohne Band und Schelle seht ihr sie", rief die Kuh. "Da guckt mein Kälbi an. Seinem Vater zuliebe hat es, wie es nur vierundzwanzig Stunden alt war, schon ein Glöckchen gekriegt."

"Muh."

"Gibt sie Milch?" fragte der sechste Ochse.

Die Kuh antwortete gar nicht. Kälbi suchte muffelnd unter dem Adlerweib und kehrte dann kläglich zum strotzenden Euter der Mutter zurück.

"Muh."

"Gibt sie Mist?" fragte der siebente Ochse.

Der Ochsenälteste bat das Adlerweib, sich ein wenig vom Neste zu lüften.

"Etwas Mist wenigstens muß da sein", meinte er wohlwollend.

Da lagen zwei Eier.

"Wie ekelhaft!" rief die Kuh. "Nicht einmal Mist gibt sie. Nichts als diese schäbigen Eier. Adlereier. Riecht mal, wie schön mein Kälbi schon mistet."

Da machten alle Ochsen "Muh" und sprachen den ersten Preis für Adlerzucht dem Kälbi zu. Das wurde später ein großer Ochse.

Damals aber war es noch jung und gut. Darum sagte es freundlich zum Adlerweib: "Mach dir nichts draus. Was hättest du vom Preis des Königs gehabt, außer der Ehre? Der Preis ist ja ein Fuder Heu."

Da stieß das Adlerweib ab und schwang sich auf durch den wogenden Äther, zurück zu ihrem Adlermann.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner - Aus dem Märchenbuche der Wahrheit -
Fabeln und Gedichte in Prosa, Stuttgart 1896