ra-2 Was das Nützlichkeitsprinzip ist Was will der Pragmatismus? Bentham    
 
PAUL HENSEL
Darstellung und Kritik
des Utilitarismus


"Während die Moral lediglich an den Verstand appelliert und den einzelnen über sein Glück aufzuklären trachtet, ihn aber nicht hindern kann, diesem seinem eigenen Wohl entgegen zu handeln, scheint der Gesetzgeber und Richter in einer ungleich günstigeren Lage zu sein. Er hat das Wohl des Ganzen im Auge, kann sich die Maßregeln, die dazu behilflich sind, verdeutlichen und kann die Befolgung dieser Maßregeln durch das ganze Arsenal von Strafmitteln, das ihm zu Gebote steht, erzwingen. Aber gerade in dieser großen Machtvollkommenheit liegt eine ebenso große Gefahr, die Gefahr des zuviel Regierens, die Gefahr, überflüssige Strafen auf angebliche Verbrechen zu setzen."

Daß die Ethik sich auf das menschliche Handeln bezieht, ist allgemein zugestanden. Nicht so groß ist die Einstimmigkeit in der Beantwortung der Frage, ob sie eine Wissenschaft ist vom menschlichen Handeln, wie es tatsächlich geschieht, oder eine Wissenschaft vom menschlichen Handeln, wie es zu geschehen hat; ob mit anderen Worten die Ethik eine normative Wissenschaft wie Logik und Ästhetik oder eine Wissenschaft von Tatsachen wie Naturwissenschaft und Geschichte ist. Aber auch diejenigen Lehrer, die die Ethik als eine Wissenschaft von Tatsachen wie Naturwissenschaft und Geschichte ist. Aber auch diejenigen Lehrer, die die Ethik als eine Wissenschaft von Tatsachen betrachtet wissen wollen, haben doch nicht versäumt, aus der Beobachtung dieses Tatsachenmaterials Regeln für das "richtige" Handeln abzuleiten. Und somit haben sie in letzter Linie in der Feststellung dieser Normen die Ethik wenigstens zum Teil als normative Wissenschaft gelten lassen. In unserer Zeit, die vor allen Dingen nach Tatsachen hungrig ist, kann es nicht fehlen, daß diese Bestrebungen sich des größten Ansehens erfreuen. Es erscheint nichts einleuchtender als die Forderung, man müsse zuerst wissen, was da ist, bevor man sich darüber entschließen könne, was zu geschehen habe; und so erleben wir dann heute eine solche Hochflut von Begründungen der Ethik auf dem Boden von Tatsachen, daß es geboten erscheint, diese Betrachtungen mit einer Übersicht über zwei der hauptsächlichsten Versuche, die in dieser Richtung gemacht worden sind, zu eröffnen.

Ich möchte zu diesem Zweck den Utilitarismus und den Evolutionismus wählen, also erstens die Lehre, daß all unser Handeln auf den größtmöglichen Nutzen - um zunächst die weiteste Formulierung zu geben - hinauslaufe und darauf zu richten sei und zweitens den Versuch, unser Handeln als notwendige Konsequenz einer Entwicklungsreihe zu verstehen.

Es möchte nun sonderbar erscheinen, weshalb ich bei der Betrachtung des Utilitarismus mir einen Vertreter wähle, JEREMY BENTHAM, dessen Leben in die Jahre 1748 - 1832 fällt, und dessen Hauptwerk, "Prinzipien der Moral und Gesetzgebung" (Principals of Morals and Legislation), schon 1789 erschienen ist. Aber BENTHAM hat das für unsere Zwecke unschätzbare Verdienst grandioser Einseitigkeit. Bei allen übrigen seiner Vorgänger und Nachfolger (namentlich ist hier sein großer Schüler JOHN STUART MILL zu nennen) muß der utilitaristische Gedanke, mag er auch im Mittelpunkt des Systems stehen, erst herauspräpariert und aus anderen Gedankenmassen losgelöst werden. Nicht so bei BENTHAM. Sein ganzes System ist gar nichts anderes als die logisch konsequente Ausarbeitung eines klar und deutlich erfaßten Gedankes. Es läßt sich in allen seinen einzelnen Teilen deutlich überblicken, wie man alle Radien eines Kreises verfolgen kann, wenn man sich in den Mittelpunkt dieses Kreises stellt. Suchen wir uns auf diesen Mittelpunkt zu begeben.

Alle Lebewesen streben nach Lust; von Natur suchen sie Unlust zu vermeiden, Lust sich zu verschaffen. Das Handeln des Menschen macht hierbei keine Ausnahme. Auch der Fromme, der auf Lust in diesem Leben verzichtet, tut dies nur, um Lust in jenem Leben zu erreichen, denn die Seligkeit wird notwendig als ein Zustand überschwänglicher Lust gedacht. Die einzige Ausnahme von dieser Regel, daß alle Wesen Lust suchen, sind also die wenigen Menschen, die BENTHAM als Asketen bezeichnet, die nach ihren Angaben den Schmerz der Lust vorziehen. Ihnen gegenüber überläßt sich BENTHAM ganz seiner satirischen Laune. Er bemüht sich zu zeigen, daß ihr ganzes Verhalten sinnlos ist, daß es sich nur als Resultat einer eigentümlichen Verbildung der menschlichen Natur begreifen läßt, und daß sie in Wahrheit dem Tollhaus näher stehen als der normalen menschlichen Gesellschaft.

Während es sich aber mit dem Asketen überhaupt nicht streiten läßt, sondern seine Torheit sich selber überlassen bleiben muß, gibt es eine andere Klasse von Menschen, die ebenfalls behaupten, nicht nach Lust zu streben, sondern aus Ehre, Pflicht, Gewissen und dergleichen zu handeln. Der Versuch, diese zu überführen, ist nicht aussichtslos, und BENTHAM hat diesem Versuch einen erheblichen Teil seiner Arbeit gewidmet. Es gilt zu zeigen, daß alle diese abstrakten Prinzipien, namentlich aber jede Berufung auf moralische Gefühle, wenn man sie analysiert, nichts anderes meinen, als daß der Handelnnde Unlust vermeiden oder Lust gewinnen will; daß sie also nichts anderes sind als unvollständige Formen des Utilitarismus, die sich nur nicht auf ihre letzten Prinzipien zurückführen lassen wollen.

Es ist nun zweifellos, daß, rein für sich betrachtet, die stärkste und intensivste Lustempfindng auch die erstrebenswerteste ist. BENTHAM ist viel zu klar denkend, um den Ausweg, den spätere Utilitarier gewählt haben, indem sie eine niedrigere und eine höhere Lust unterschieden, für seine Theorie brauchbar zu finden. Ein Rechnen, ein vernünftiges Abwägen kann es nur zwischen qualitativ Gleichartigem geben. Der ganze Versuch einer verstandesmäßigen Abwägung der menschlichen Handlungen muß scheitern, wenn diese Handlungen nicht auf einen gemeinsamen Generalnenner zurückführbar sind. Lebte der Mensch nur im Augenblick und für den Augenblick, so würde er zweifellos vernünftig handeln, wenn er die jedesmal größte Lustempfindung für sich durch sein Handeln zu erringen trachtete. Aber durch diese Voraussetzung eines Augenblicksmenschen ist den wirklichen Verhältnissen nicht Rechnung getragen. Das menschliche Leben weist eine Reihe von Handlungen, Gefühlen und Empfindungen auf, und es zeigt sich, daß nach den Gesetzen fester Assoziation jeder geistige Akt wiederum seine unausbleiblichen Folgen hat, die sich ihrerseits nach Lust und Unlust bestimmen und bewerten lassen. Fernerhin aber hat nicht jede Lust weitere Lustfolgen, sondern eine ganze Anzahl zeigt sich notwendig mit Unlustfolgen verbunden, und ebenso können sich unzweifelhaft Unlustgefühle als die sicheren Vorboten reicher Lustquanten ausweisen. Diese Tatsachen machen eine Wissenschaft der Moral notwendig und nützlich. Nur derjenige, der die Lustquanten gegenüber den Unlustquanten richtig abzuschätzen weiß, der auf kleine Lustquanten zugunsten größerer zu verzichten gelernt hat, ja, der bereit ist, Unlust auf sich zu nehmen, um größere Lust dafür zu erringen, kann auf den Namen eines tugendhaften Menschen Anspruch erheben und darauf hoffen, sein Glück nicht dem Zufall, sondern der eigenen Klugheit und Tätigkeit zu verdanken. Damit wird die Ethik, obwohl durchaus auf Lust- und Unlustgefühlen basiert, eine streng rationale Wissenschaft. Jedes einzelne dieser Gefühle kann mit einer bestimmten Zahl in Rechnung gesetzt werden, und es handelt sich nur um die Aufstellung der Kredit- und Sollposten von Lust und Unlust und den Vergleich ihrer gegenseitigen Summen miteinander, um zu entscheiden, ob eine Handlung tugendhaft oder lasterhaft ist, zu geschehen hat oder unterbleiben soll.

Die Gesichtspunkte, die für diese Abschätzung in Betracht kommen, sind die Intensität, die Sicherheit, die Dauer, die Schnelligkeit, die Fruchtbarkeit und die Reinheit der Lust- und Unlustgefühle, und wir wollen nun sehen, wie BENTHAM nach diesen Gesichtspunkten zu entscheiden unternimmt, ob die Trunkenheit ein Laster oder ob sie eine Tugend ist. An Intensität ist die Trunkenheit entschieden hochgradig lustbringend, die Sicherheit ihres Eintritts ist gleichfalls sehr hoch anzuschlagen, ebenso die Schnelligkeit dieses Eintretens. Dies alles sind erhebliche Kreditposten, und wenn sie allein in Betracht kämen, wäre der Trunkenbold der Kluge und Tugendhafte, der Mäßige, der Lasterhafte und der Tor -, aber sie kommen nicht allein in Betracht. Schon die Dauer der Trunkenheit ist eine äußerst geringe, weil niemand in diesem Zustand mit Bewußtsein längere Zeit verharren kann, und noch schlimmer gestaltet sich die Rechnung bei den beiden letzten Posten. Die Lust der Trunkenheit bringt nicht nur keine weitere Lust hervor, sondern Übelbefinden am nächsten Tag, Unfähigkeit zur Arbeit, Armut, üble Nachrede, Strafen für begangene Exzesse, und ebenso ist ihre Reinheit äußerst zweifelhaft, oder vielmehr, sie ist als unrein zu betrachten, weil jene Unlustquanten notwendigerweise mit ihrem Zustand selber verknüpft sind. Jeder verständige Mensch, der sich einmal diese Rechnung ganz klar gemacht hat, wird sich also hüten, sich in diesen Zustand zu versetzen -, nicht aus einer abstrakten Liebe zur Mäßigkeit, sondern weil er klar einsehen muß, daß er selber seine Rechnung sonst nicht findet. Dies gibt aber auch den richtigen Standpunkt zur Beurteilung der Menschen, die sich sogenannten Lastern ergeben: Es sind nicht schlechte Menschen, sondern schlechte Rechner; sie wollen genau dasselbe, was der sogenannte Tugendhafte will, und was alle Lebewesen überhaupt wollen, nämlich glücklich werden. Ihr Fehler ist, daß sie die dazu nötigen Rechnungen gar nicht oder nur unvollkommen vollziehen.

Ferner folgt aber daraus, daß kein Verzicht auf Lust als ein Definitivum angesehen werden darf. Wer auf Lust verzichtet, ohne die Vermeidung eines größeren Unlustquantums oder die Erreichung eines größeren Lustquantums in sicherer Aussicht zu haben, ist kein tugendhafter Mensch, sondern ein Narr. BENTHAM läßt über diese seine Meinung gar keinen Zweifel.
    "Das verabscheuungswürdigste Vergnügen, was der gemeinste Verbrecher jemals aus seinen Verbrechen gezogen hat, dürfte nicht verschmäht werden, wenn es für sich allein bliebe. Faktisch aber bleibt es nicht allein, sondern ihm folgt notwendig ein solches Quantum Unlust oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Chance eines solchen Quantums von Unlust, daß vergleichsweise die Lust ein Nichts wird."
So kann der Moralist beweisen, daß Tugend und Glück, Laster und Unglück Wechselbegriffe sind. Was HOGARTH in seienr Bilderfolge "der Faule und der Fleißige" uns anschaulich macht, BENTHAM lehrt es uns zu verstehen. Es ist zweifellos, daß, wenn Tugend und Glück einmal auseinander gehen könnten, der Verständige sich dem Glück zuzuwenden hätte, aber eine einfache Überlegung zeigt, daß dies nie der Fall sein kann.
Bisher haben wir den Handelnden nur mit Rücksicht auf ihn selbst betrachtet, und diese Betrachtungsweise ist auch der einzige und richtige Ausgangspunkt, um eine wissenschaftliche Moral darauf zu gründen. Nun ist es aber nicht nur mein eigenes Handeln, von welchem der Endzweck meines Lebens, mein eigenes Glück abhängt, sondern ich finde mich beeinflußt in meinem Wohl und Weh durch die Handlungen meiner Mitmenschen, die wiederum durch dieses mein Handeln in Mitleidenschaft gezogen werden. Ich muß daher versuchen, durch die Handlungen meiner Mitmenschen in meinem Wohl gefördert oder mindestens in ihm nicht gestört zu werden, und habe dazu nur das eine Mittel, durch mein Handeln ihr Wohl zu fördern und mir dadurch ihr Wohlwollen zu erwerben. Auch dies ist nicht so aufzufassen, als könnte ich mich jemals veranlaßt sehen, definitiv auf ein mir erreichbares Lustquantum zugunsten des Wohls irgendeines Mitmenschen verzichten. Ein Mensch, der das täte, wäre wie ein Verschwender, der sein Gold mit vollen Händen anderen zuschleudert und sich selber ruiniert. Aber dasselbe vollzieht sich hier auf dem Boden der Gesellschaft, was sich früher bei einem Einzelwesen vollzog. Die richtig berechneten Opfer für die Gemeinschaft gehen uns nicht verloren, sie sind wie Sparanlagen, die sich fruchtbringend verzinsen, und auf die wir jederzeit zurückgreifen können. Wenn wir bei einer jeden Handlung "das größte Glück der größten Anzahl Menschen" im Auge haben, können wir sicher sein, daß sich auch unser eigenes Wohl durch diese Handlungen als am Besten gefördert erweisen wird.

Bevor wir uns die weiteren Anwendungen, die BENTHAM seiner Theorie gegeben hat, vergegenwärtigen, ist es vielleicht nützlich, auf die Analogie hinzuweisen, welche BENTHAMs Moral in diesen letzten paradoxen Sätzen mit der von ADAM SMITH begründeten klassischen Nationalökonomie zeigt, eine Analogie, die BENTHAM nicht müde wird selber hervorzuheben. ADAM SMITH hatte gezeigt, daß der Reichtum eines Volkes nur möglich ist unter der Voraussetzung, daß die einzelnen Mitglieder dieses Volkes lediglich ihren eigenen individuellen Vorteil im Auge haben. Das Gedeihen aller wird gefördert, wenn jeder sein eigenes Gedeihen verfolgt. So ist auch das Glück des Einzelnen Endzweck des BENTHAMschen Moralisten, aber er weiß, daß er dieses Ziel nur erreichen kann, wenn das Maximum des Wohlseins aller erstrebt wird.

Noch ein anderes Ziel lag BENTHAM am Herzen, das sich im Doppeltitel seines Hauptwerks, Prinzipien der Moral und Gesetzgebung, ausdrückt; es ist die Reform der Gesetzgebung, namentlich des Strafgesetzes, deren Notwendigkeit sich den Engländern des achtzehnten Jahrhunderts in nachdrücklicher Weise aufdrängen mußte. Neben dem großen Reformator der Strafgesetze, BECCARIA, hat BENTHAM einen ebenbürtigen Platz einzunehmen, denn was ihm am großen Schwung des Italieners fehlt, das ersetzt er durch eine ungleich gründlichere Sicherung seiner Vorschläge, durch die Ableitung seiner Prinzipien aus der Theorie der menschlichen Lust- und Unlustgefühle. Wir müssen daher, um uns volle Klarheit über die Bedeutung der Gedanken BENTHAMs zu verschaffen, uns auch diesen zweiten Teil seines Systems zu vergegenwärtigen.

Während die Moral lediglich an den Verstand appelliert und den einzelnen über sein Glück aufzuklären trachtet, ihn aber nicht hindern kann, diesem seinem eigenen Wohl entgegen zu handeln, scheint der Gesetzgeber und Richter in einer ungleich günstigeren Lage zu sein. Er hat das Wohl des Ganzen im Auge, kann sich die Maßregeln, die dazu behilflich sind, verdeutlichen und kann die Befolgung dieser Maßregeln durch das ganze Arsenal von Strafmitteln, das ihm zu Gebote steht, erzwingen. Aber gerade in dieser großen Machtvollkommenheit liegt eine ebenso große Gefahr, die Gefahr des zuviel Regierens, die Gefahr, überflüssige Strafen auf angebliche Verbrechen zu setzen. Wenn jede Strafe eine Zufügung von Unlust ist, wenn es Naturgesetz für jedes Wesen ist, die Unlust zu fliehen, so muß sich der Gesetzgeber auf das Gewissenhafteste hüten, irgendeinem Wesen irgendwelche unnütze Unlust zuzufügen, und dies nach einer doppelten Richtung hin: Wenn sein Zweck das Wohl der menschlichen Gesellschaft ist, so dürfen keine Handlungen unter Strafe gestellt werden, mit deren Ausübung das Wohl dieser Gesellschaft vereinbar ist. Namentlich dürfen alle diejenigen Handlungen, die lediglich das handelnde Individuum selber schädigen, ohne ihre üblen Folgen weiter zu verbreiten, nicht unter Strafe gestellt werden. Das Moment der Fruchtbarkeit ist für den Gesetzgeber das Ausschlaggebende. Daher ist der aufgeklärte Despotismus, der andauernd wenn auch in bester Absicht regiert, eine ganz verderbliche Form der Regierung. Er fügt dauernd Unlustquanten zu, die ebensogut hätten unterbleiben können. Die einzige Aufgabe des Staates ist, Leben und Eigentum seiner Bürger zu schützen, denn das Leben ist der Träger, das Eigentum das vornehmste Mittel zur Glückseligkeit. Er darf nur das Minimum von Strafe verhängen, dessen Zufügung genügt, um ein Motiv gegen die Verletzung von Leben und Eigentum in der Rechnung der zu solchen Ausschreitungen Geneigten zu bilden. Daher ist es aber ganz verwerflich, auf denselben äußeren Tatbestand in jedem einzelnen Fall dieselbe Strafe zu setzen. Die Strafe soll abschrecken, sie ist ein notwendiges Übel, sie wird aber ein überflüssiges Übel, wenn mehr Unlust zugefügt wird, als es der vorliegende Fall erfordert. Eine Frau wir leichter abgeschreckt als ein Mann, ein jugendlicher Verbrecher leichter als ein verhärteter, ein Gelegenheitsverbrecher leichter als ein gewohnheitsmäßiger. Mit erstaunlicher psychologischer Feinheit weiß BENTHAM eine so stattliche Reihe von notwendigen Beurteilungsmomenten zu entwickeln, daß jedem Verbrecher eine individuelle Beurteilung seines individuellen Falles gesichert erscheinen kann. Damit hat sich der Ring der Betrachtungen BENTHAMs geschlossen, der Moralist suchte nach seinem eigenen individuellen Glück, und er fand, daß sich dieses nicht realisieren läßt, ohne "das Glück der größten Zahl" zu wollen. Der Gesetzgeber geht auf das Wohl des Ganzen aus, und er findet, daß dies nicht zu erreichen ist ohne individuellstes Eingehen auf das Wohl des Einzelnen.

Bei der Kritik eines so festgeschlossenen Gedankengebäudes muß von der Grundlage angefangen werden, und diese besteht in der von BENTHAM behauptete Möglichkeit, Lust- und Unlustempfindungen gegeneinander abzuwägen. Es ist zweifellos, daß dies dauernd geschieht, und daraus leitete BENTHAM die Berechtigung seines Verfahrens her. Es ist aber fraglich, ob dies in so exakter Weise geschehen kann, daß diese Schätzungen auf wissenschaftlichen Wert Anspruch zu erheben vermögen, was nach BENTHAM der Fall sein soll. Wieviel Unlust Zahnschmerz wiegt die Lust eines guten Gewissens auf? Noch verwickelter gestaltet sich die Berechnung, wenn die vollständige Tafel der Gesichtspunkte berücksichtigt wird. Es ist hier lediglich Sache der individuellen Willkür, wie hoch die einzelnen Posten in Anschlag gebracht werden sollen. Wenn der Trunkenbold im vorher angegeben Beispiel die positiven Faktoren in seiner Rechnung nach seiner indidivuellen Schätzung so hoch ansetzt, daß sie die negativen überwiegen, so hat er nicht nur das Recht, sondern nach BENTHAM sogar die Pflicht, der üblen Nachrede, die sich aus seinem Handeln für ihn ergibt, seine bessere Überzeugung entgegenzustellen, wie dann auch BENTHAM ausdrücklich darauf hinweist, daß man sich durch die sozialen Nachteile, die dem Duellgegner erwachsen, nicht verleiten lassen dürfe, die unvernünftige Sitte des Duells mitzumachen. Ebenso scheint BENTHAM sich auf dem Gebiet der Moral nicht das vergegenwärtigt zu haben, was er auf dem Gebiet der Gesetzgebung so eindringlich einschärft, daß nämlich jede Handlung einen individuellen Akt darstellt und individuell beurteilt sein will. Mag es sein, daß in den meisten Fällen Mordtaten entdeckt und bestraft werden, obwohl ein Kenner wie VIDAL, der Chef der Pariser Polizei, behauptet, daß drei Viertel aller Mordtaten unentdeckt bleiben. Aber selbst wenn dies nicht der Fall wäre und die Sache sich so verhielte, wie BENTHAM annimmt, so kann es sich doch ereignen, daß ich mich in der Lage finde, einen ganz bestimmten individuellen Mord, der mir großes Vergnügen gewährt, ohne die geringste Möglichkeit einer Entdeckung auszuüben. Dann fällt auch, sofern ich ein "sittlicher", d. h richtig rechnender Mensch bin, die Angst vor einer Entdeckung fort, und zwingt mich nicht ausgerechnet das BENTHAM'sche Kalkül dazu, die Handlung zu begehen? Es kommt dazu, daß BENTHAM eine Unmöglichkeit fordert, wenn er will, daß die Folgen einer Handlung mit in Betracht gezogen werden sollen. Streng genommen hat jede Handlung Folgen, die ins Unendliche gehen. Wir werden darauf noch später zurückzukommen haben, da die volle Schwierigkeit dieses Punktes erst zutage tritt, wenn die Handlung in Bezug auf die Allgemeinheit gewertet wird. Nämlich gerade hier, wenn zunächst der vorläufige Verzicht auf eigene Lustquanten zugunsten des Wohles anderer gefordert wird, machen sich die schwersten Bedenken geltend. Ist es denn wirklich so gewiß, daß ich sicher bin, selbst bei wohlüberlegten Opfern eine erträgliche Verzinsung des aufgeopferten Lustquantums erwarten zu können? Gibt es nicht auch in der moralischen Welt wie im wirtschaftlichen Leben Fälle genug, wo nicht nur die Zinsen, sondern auch das eingezahlte Kapital verloren gehen? Es mag sein, daß in geordneten Zeiten solche Fälle seltener vorkommen, aber wer kann für die Fortdauer solcher geordneten Zeiten bürgen? Vielleicht wird gerade der kluge Rechner, auf alle Handlungen des Wohlwollens verzichtend, am besten dabei seine Rechnung finden, wenn er alle erreichten Lustquanten so vollständig und rücksichtslos wie möglich für seine eigene Person fruchtbar macht, ohne sich auf das umständliche Ausgleichsverfahren der Gesellschaft einzulassen. Es wird vielleicht zu diesem Resultat noch durch eine weitere Überlegung gedrängt werden. Was mir Lust bringt, weiß ich, daher kann ich nur das als Lust anerkennen, was  mir  Lust bringt. Es muß deshalb die Gesellschaft, um mich für die aufgeopferten Lustquanten zu entschädigen, mich in meiner Münze bezahlen. Je mehr nun meine Begriffe von Lust und Unlust von den landläufigen abweichen - und sie werden dies mit umso größerer Sicherheit tun, je individueller ich meine Lebensführung gestalte -, desto weniger wird die Gesellschaft in der Lage sein - auch den besten Willen vorausgesetzt -, mein berechtigtes Verlangen nach pünktlicher Rückzahlung zu erfüllen. Gerade der eigenartige Mensch wird also dauernd genötigt sein, auf für ihn wirkliche Lustquanten zu verzichten, um dann in einer Münze bezahlt zu werden, die vielleicht allgemeinen Kurswert hat, für sein eigenes Wohl aber nichts bedeutet. Aber selbst wenn man von solchen Ausnahmefällen absehen wollte, welches Mittel gibt es, um die für BENTHAMs Zweck unumgängliche allgemein anerkannte Tarifierung der Lust- und Unlustwerte festzusetzen? Das heute allgemein beliebte Mittel der Abstimmung müßte auch Frauen und Kinder umfassen, und da die Lust ein allgemeines Lebensprinzip aller Lebewesen ist, so läßt sich schwer einsehen, weshalb die Tiere nicht berücksichtigt werden sollen, wie dann ja auch BENTHAM ernste Untersuchungen über unsere ethische Berechtigung, Tiere zu schlachten, angestellt hat. Schon die Aufstellung dieses Programms zeigt aber seine Unausführbarkeit, und schließlich bleibt doch einem jeden Individuum, das ja eben für sein eigenes Glück sorgen muß, das Recht unbenommen, auch die auf breitester Grundlage hergestellte objektive Skale als für die eigenen Verhältnisse nicht verbindlich abzulehnen.

Die schwersten Bedenken aber richten sich gegen die Forderung, eine jede Handlung müsse, um sittlich zu sein, das größte Glück der größten Anzahl bezwecken. Es können hier offenbar nicht unter dem Wort  Anzahl  diejenigen Menschen gemeint sein, die unmittelbar von einer Handlung betroffen werden. Es muß auch die ganze Reihe der Veränderungen erwogen werden, die durch eine Handlung im Lauf der Zeiten hervorgebracht werden kann. Daß dies BENTHAMs Meinung ist, erhellt sich aus einer gelegentlichen Betrachtung über den Wert der Erfindung der Buchdruckerkunst, die BENTHAM anstellt. Er will nicht leugnen, daß durch diese Erfindung einige Abschreiber in Not geraten sind, aber er verweist auf die vielen Menschen, die heute dieser Erfindung ein sicheres Brot und Auskommen verdanken, auf den Genuß, den heute Millionen von Menschen, die in gleicher Lebenslage früher kaum jemals ein geschriebenes Blatt zur Hand hätten nehmen können, durch das Lesen gedruckter Bücher und Zeitungen in ihrem Leben vorfinden, und er weist mit Recht darauf hin, daß bei einer jeden großen und Epoche machenden Erfindung Ähnliches bemerkt werden kann. Es hindert aber auch nichts, die Betrachtung etwas weiter auszudehnen. Kurfürst FRIEDRICH II. von Hessen-Kassel verkaufte einen Teil seines Heeres gegen hohe Subsidien an England zum Krieg in Amerika - zweifellos ein erhebliches Unlustquantum: die Verkauften gingen ungern, viele Tränen wurden ihnen nachgeweint, sie kamen zum großen Teil im Krieg um und erregten bis dahin bei den Amerikanern starke Unlustgefühle. Damit ist aber auch die Unlustbilanz erschöpft; die Handlung hatte in dieser Beziehung sehr wenig "Fruchtbarkeit". Für einen Teil des erhaltenen Geldes wurden eine erhebliche Menge von Kunstwerken angeschafft, die noch heute die Kasseler Gallerie zu einer der schönsten Europas machen, und daran freuen sich nun Jahr für Jahr Tausende von Menschen, das Quantum von Lust steigt, das von Unlust wird nicht mehr vermehrt. So wäre es dann unmöglich, daß mit dem Eintreten eines bestimmten entzückten Besuchers die große Schuld ausgeglichen wäre, die Handlung von einer schlechten zum Wert einer guten umschlüge, und gegenüber dem Entzücken immer neuer Besucher das Leid der armen toten Soldaten ebensowenig in Betracht käme, wie die Hungerqualen der armen Abschreiber gegenüber dem Genuß des befriedigten modernen Zeitungslesers.

Noch auf einen letzten Punkt muß eingegangen werden, weil er in enger Beziehung steht zum Bestreben BENTHAMs und seiner Schüler, die Moral ganz auf sich selber zu stellen, sie lediglich als Tatsachenwissenschaft zu gestalten und sie von allen Beziehungen zu Theologie und Metaphysik loszulösen. Daß dies durchaus gelungen ist, kann nicht behauptet werden. Schon in der Voraussetzung, daß die Gesellschaft immer in der Lage ist, die Opfer des einzelnen in Lustquanten zu verzinsen und zurückzuzahlen, mußten wir einen erheblichen Optimismus erblicken. Noch stärker tritt aber dieser Optimismus in der Begründung des ganzen Systems hervor. Der Lebenszweck erscheint in die Erreichung von Lust und die Vermeidung von Unlust gelegt, das Leben des Tugendhaften, richtig Rechnenden, ergibt den stärksten Überschuß; aber die Frage wird kaum aufgeworfen, ob denn überhaupt ein derartiger Überschuß für das Lebewesen zu erringen möglich sei. Wie im Altertum HEGESIAS der Lustlehre des ARISTIPP zwar beipflichten konnte, jedoch zugleich zu zeigen versuchte, daß jedes Lebewesen allerdings nach Lust strebt, aber diesem Streben mit derselben Notwendigkeit jede Befriedigung versagt und deshalb der Tod dem Leben vorzuziehen sei, ebenso müßte auch der moderne Utilitarier zunächst in eine Abrechnung über die im Leben wahrscheinlichen Lust- und Unlustquanten sich einlassen, und erst, wenn diese Berechung ein positives Fazit ergäbe, seinen Schülern die Fortsetzung des Lebens anraten. Diese Rechnung muß nun aus naheliegenden Gründen unterbleiben. Wenn es schon unmöglich ist, zwei einzelne Lust- oder Unlustquanten gegeneinander quantitativ abzurechnen, so muß einem ganzen Leben gegenüber, zumal einem solchen, das erst gelebt werden soll, auch dem Beherztesten der Mut sinken.

Ob man mit BENTHAM das Glück für erreichbar oder mit SCHOPENHAUER seine Erreichung für unmöglich erklären will, ist im Grunde Glaubenssache, denn es brauch kaum erwähnt zu werden, daß auch der Pessimist niemals einen zahlenmäßigen Nachweis seiner Behauptungen hat erbringen können. Dann ist aber auch die Verachtung, mit welcher der Utilitarier auf die Metaphysiker aller Arten und Gattungen herabzuschauen pflegt, nicht berechtigt. Die Metaphysik, die seiner Lehre zugrunde liegt, ist die Metaphysik des gesunden Menschenverstandes, aber mit ihr steht und fällt sein eigenes System.
LITERATUR - Paul Hensel, Hauptprobleme der Ethik, Leipzig 1903