ra-1L. Katscher    
 
CARL GRUBE
Hippolyte Taine
(1828-1893)
[ 6/8 ]

"Die alte Logik geht zu weit, wenn sie annimmt, daß wir uns wirklich eine Vorstellung [eines Allgemeinbegriffs] bilden könnten, welche nur die gemeinsamen Merkmale enthält, während die unwesentlichen sich völlig vernichten. Wir haben niemals eine nur aus den wesentlichsten Merkmalen eines Begriffs bestehende Vorstellung in uns, sondern stets stehen den wesentlichen unwesentliche Merkmale zur Seite; denn so allein kommt eine konkrete Vorstellung zustande. Aber allerdings steht es in der Macht unseres Geistes, die wesentlichen Merkmale allein zu betrachten und von den unwesentlichen abzusehen."

"Jeder hat sich den Begriff  Mensch  gebildet, trotzdem können wenige denselben definieren. Haben darum die meisten Leute die wesentlichen Merkmale des Menschen übersehen? Dieser Schluß ist unzulässig. Niemand kann sich einen Menschen  in abstracto  vorstellen, der nur die wesentlichen Merkmale besitzt, sondern jeder stellt sich beim Namen  Mensch  einen einzelnen Menschen vor, in dessen Vorstellung sowohl wesentliche als auch unwesentliche Merkmale enthalten sind. Die wachsende Erfahrung stärkt allerdings die wesentlichen Merkmale in der Vorstellung, aber die stets veränderte Gemütsstimmung der Menschen, insbesondere das oft auf unwesentliche und äußerliche Merkmale gerichtete Interesse wirkt diesem Einfluß hinderlich entgegen. Es liegt also jene Unfähigkeit zu definieren, d. h. die wesentlichen Merkmale anzugeben, nicht begründet in einem Nichtbewußtsein derselben, sondern in einem Schwanken der Wertschätzung der Merkmale innerhalb der sie enthaltenden Vorstellung."

§ 22. TAINE (1) betrachtet zunächst eingehend den Wert und die Funktion der Zeichen überhaupt. Infolge mannigfacher Erfahrungen sind mit vielen unserer Wahrnehmungen gewisse Vorstellungen so eng assoziiert, daß die Wahrnehmung eines Ereignisses, Gegenstandes oder einer Eigenschaft direkt die Vorstellung eines anderen Ereignisses, Gegenstandes oder einer Eigenschaft erweckt; die steigende Festigkeit der Assoziation führt schließlich ein regelmäßiges Erwecken einer gewissen Vorstellung durch eine bestimmte Wahrnehmung herbei.

Wenn man z. B. einen Schrei von gewissem Klang hört, stellt man sich sofort einen schreienden Menschen vor; so ist der Schrei das Zeichen dieser Vorstellung. Auf ähnlichen Verbindungen beruhen die meisten unserer Urteile: wenn wir uns zu irgendeinem Zweck unserer Glieder bedienen, so sehen wir nach einer wahrgenommenen Handlung eine andere voraus, welche wir noch nicht wahrnehmen; so gibt uns eine gegenwärtige Erfahrung die Vorstellung einer möglichen Erfahrung ein. Indem wir das erste Glied des so verbundenen Paares berühren, machen wir uns eine Vorstellung des zweiten Gliedes; so ist das erste Glied ein Zeichen des zweiten.

In dieser großen Familie der Zeichen ist die bemerkenswerteste Gattung diejenige der Namen; denn da ein Name in uns ein Bild oder eine Bilderreihe erweckt, so ist er das Zeichen derselben. Doch besitzen die Namen die Eigentümlichkeit bisweilen z. B. beim schnellen Lesen gar kein Bild zu erwecken und sogar in manchen Fällen gar keines erwecken zu können. Hier kann also das zweite Glied des Paares fehlen und wird völlig durch das erste vertreten. Jedoch ist das übrig gebliebene Wort kein totes, unverständliches Zeichen, vielmehr hat es durch seine langdauernde Verknüpfung mit der sinnlichen Wahrnehmung des Objekts und der Vorstellung desselben auch dieselben Beziehungen wie das Objekt angeknüpft. Daher kann der Name ganz allein die Stelle des Bildes vertreten, welches er erweckte und der Erfahrung, welche er wiederbelebte; er ist also ihr Substitut. Auf diesen Paarungen, in denen das erste Glied sofort das zweite zur Erscheinung bringt, und auf der Fähigkeit dieses ersteren Gliedes das zweite ganz oder teilweise zu ersetzen, beruth der Ursprung der höheren Operationen des menschlichen Verstandes.

Bei den gewöhnlichen Eigennamen findet das Erlöschen des Bildes, welches das zweite Glied des Paares darstellt, allmählich und unwillkürlich statt.

Noch wunderbarer aber steht es mit der zweiten Gruppe aller Namen, den Gattungsnamen, bei denen das zweite Glied überhaupt kein durch Wahrnehmung oder Erfahrung faßliches Objekt ist, sondern nur ein Teil eines solches, ein Fragment, welches gewaltsam von jedem natürlichen Objekt, zu dem es notwendig gehört, losgelöst ist. In der Tat entsteht bei mir bei dem Wort "Baum", besonders wenn ich es langsam und aufmerksam lese, ein unbestimmtes Bild, von dem ich nicht sagen kann, ob es ein Apfelbaum oder eine Tanne ist. Und doch ist der Name ein ganz bestimmtes Extrakt, das man meist sicher definieren kann; es bezeichnet also der Name etwas anderes als das unbestimmte, durch ihn hervorgerufene Bild. Wie kommen die Menschen zu solchen abstrakten Namen, und wie können sie sich derselben bedienen anstelle einer abstrakten Erfahrung, die sie niemals machen können? Das beruth auf einer Eigentümlichkeit der menschlichen Natur. Alle Erfahrungen, die wir machen, und die Bilder, die in uns auftauchen, setzen uns zugleich in Affekt und erregen so in uns einen oder mehrere kleine Triebe,  tendances  [Tendenzen - wp]. Auf diesen Trieben, welche dem entsprechen, was ähnlichen Gegenständen gemeinsame ist, d. h. irgendeiner abstrakten Qualität, und welche von der Wahrnehmung vieler ähnlicher Gegenstände übrig bleiben, beruth das Sprachvermögen des Menschen und besonders die Bildung der Gattungsnamen.

Wenn man sich z. B. im Wald befindet und Bäume aller Arten wahrnimmt, so bemerkt man das Anstreben der Stämme, das Ausbreiten der Äste, die beiden unterscheidenden Merkmale des Baumes; man begreift so den Baum im Allgemeinen und spricht den Namen "Baum" aus. Das bedeutet einfach, daß ein gewisser Trieb, welcher diesen Merkmalen entspricht, sich schließlich in mir entwickelt hat und nun allein herrscht. Fünfzig mal nacheinander ohne einen einzigen widersprechenden Fall hat sich der Trieb beim Anblick von 50 Bäumen allein erhoben, während alle übrigen, welche den Eigentümlichkeiten der einzelnen Bäume entsprachen, durch ihren gegenseitigen Widerspruch verschwunden und vernichtet sind. Das Produkt des übrigbleibenden Triebes ist, wie bei jedem Trieb, ein Ausdruck.

Wir nehmen also nicht die generellen Qualitäten der Dinge wahr, sondern empfinden in ihrer Gegenwart nur irgendeinen unbestimmten Trieb, der in der natürlichen Sprache in einer Gebärde und in unserer künstlichen Sprache in einem Namen gipfelt. Aber ein Trieb ansich ist nichts Bestimmtes; er ist nur der erste Anlauf an eine Sache, Bild oder Namen, der seine Vollendung ist. Betreffs positiver und definitiver Akte sind demnach, wenn wir die abstrakten Qualitäten denken oder erkennen, nur Namen in uns vorhanden, die teils im Begriff sind Ausdruck zu gewinnen, teils denselben schon gewonnen haben.

Folglich ist ein allgemeiner Begriff nur ein Name, zwar nicht als ein einfacher Laut oder Buchstabenkomplex, aber doch insofern als der Name für uns die beiden Eigenschaften besitzt, daß er im Augenblick seines Erscheinens die Bilder einer Reihe von Gegenständen einer Kategorie in uns hervorruft, und daß er andererseits von Bildern der Gegenstände derselben Kategorie hervorgerufen wird.

Darin besteht also die Überlegenheit der menschlichen Intelligenz, daß sehr allgemeine Merkmale bestimmte Triebe erwecken, welche ihrerseits in einem Ausdruck, einem Namen gipfeln.

Ist diese Fähigkeit einmal vorhanden, so vervielfältigen sich durch tägliche Erfahrung Triebe und Namen und bilden unter sich eine Ordnung gleich den generellen Qualitäten, deren Vertreter sie sind. Andererseits gewinnen die Namen mehr Fülle; denn durch die Vermehrung unserer Erfahrungen bemerken und benennen wir späterhin eine größere Zahl genereller Merkmale an demselben Gegenstand, so daß sein Name, der anfangs das einzige zuerst auffallende Merkmal bezeichnete, jetzt mehrere umfaßt, somit kollektiv geworden ist.

Aber noch weiter hilft uns diese Fähigkeit zu benennen und zu substiuieren. Denn es gibt Dinge, von denen wir keine Erfahrung haben können, und von denen wir eben darum, weil nur durch den gemeinsamen Charakter der Erfahrungen in uns ein bestimmter Trieb und Name erzeugt wird, auch keinen Begriff haben könnten, wenn wir nicht eine Komplikation der Namengebung vorzunehmen vermöchten.

So geht es besonders bei den Zahlennamen. Anfangs nehmen wir eine sehr kleine Gruppe, die dem engen Fassungsvermögen unseres Geistes entspricht und imstande ist, in uns einen Trieb und Namen zu wecken; so entstehen etwa die Zahlbegriffe "zwei, drei, vier", deren abstrakte Eigenschaft "zwei, drei, vier" zu sein in uns einen Trieb und somit den betreffenden Namen erweckt.

Mehr als "vier" oder "fünf" können sich die meisten Menschen nicht direkt vorstellen. Um zu höheren Zahlen zu gelangen, verbinden wir die unterste vorstellbare Gruppe und ihren Namen z. B. "vier" mit einem neuen Individuum; dadurch erwacht in uns ein neuer Trieb und Name:  4 + 1 = 5,  also der Name "fünf"; so gehen wir Schritt für Schritt weiter zu höheren Zahlen bis zum Finalnamen, z. B.  36,  welcher dem abstrakten Merkmal  36  zu sein entspricht, das direkt in uns keinen Trieb und Namen hervorrief.

Die Wirkung der Substitution geht noch weiter: wir operieren in der Geometrie mit Objekten, die in der Erfahrung nirgends existieren, z. B. Kreis, Kugel. Die Definition derselben enthält nur eine Reihe abstrakter Worte; dieselben bilden einen Komplex und bezeichnen einen neuen Gegenstand, der für unsere Sinne nicht faßlich, für unsere Erfahrung nirgends zugänglich ist, den unsere Einbildungskraft sich nicht vorstellen kann. Aber wir haben kein Bedürfnis, ihn sinnlich zu fassen, weil wir seine Formel besitzen und sämtliche Eigenschaften und Beziehungen, die wir an diesem Substitut entdecken, auch dem Substituierten beilegen können.

Wir denken also weder die Zahlen außer den vier ersten, sondern ihre Äquivalente, die mit der Einheit verbundenen Namen der vorhergehenden Zahlen, noch die unendlichen, ideellen Objekte oder deren abstrakte Merkmale, sondern die ihnen entsprechenden generellen Namen.

§ 23. TAINE behauptet also ein Eintreten des Namens anstelle derjenigen Vorstellung, welche er bezeichnet, findet in großem Umfang statt, nicht nur z. B. bei einem auf das Lesen folgenden Denken bei Namen, deren Vorstellung wir sehr wohl haben könnten, sondern noch vielmehr beim abstrakten Denken, welches allein auf jener stellvertretenden Kraft der Namen beruth; denn die generellen Begriffe sind nur Namen. Dasselbe führt er dann an den Zahlen und geometrischen Begriffen aus.

TAINE stützt sich bei seiner Untersuchung auf die innere Erfahrung und sucht dieselbe durch die bereits in der Einleitung besprochenen Hilfsmittel zu heben; aber seine Methode bleibt sich nicht gleich.

Bei der Untersuchung der die Eigennamen begleitenden Bedeutungsvorstellungen beobachtet er Sätze und konstatiert, daß im Satzzusammenhang die Bedeutungen wenig oder gar nicht vorgestellt würden, die abstrakten Namen jedoch betrachtet er einzeln für sich und bemerkt so, daß sie nur eine höchst unklare Bedeutungsvorstellung hinter sich haben könnten. Dieses Verfahren ist wenig zu billigen; wenn es sich um eine Prüfung einzelner Wörter auf ihre Bedeutungsvorstellung hin handelte, so konnten diejenigen Namen, welche eine feste Bedeutungsvorstellung hervorrufen können, die Eigennamen, ebensowohl isoliert als im Satzzusammenhang beobachtet werden; aber die abstrakten Namen, denen keine feste Bedeutungsvorstellung unmittelbar entspricht, außerhalb des Satzzusammenhangs auf ihre Bedeutung hin zu prüfen, ist eben darum unzulässig, weil sich erst im Zusammenhang eines oder mehrerer Sätze eine feste Bedeutungsvorstellung bei den Abstrakten einstellt.

Hört man z. B. den Ausdruck: "der Dom zu Köln", so wird die Vorstellung des DOmes genau dieselbe sein, als wenn man den Satz liest: Wir fuhren den Rhein hinab bis Köln und besahen uns dort den Dom." Vernimmt man dagegen plötzlich und unvermittelt das Wort "Tier", so wird man schwerlich irgendeine bestimmte Vorstellung eines Tieres haben, - es sei denn, daß man für irgendeine Art von Tieren eine besondere Vorliebe hegt. Nun betrachte man aber folgende Sätze:
    "Wir durchzogen bei Nacht einen dichten Urwalt, welcher vom Gebrüll wilder Tiere widerhallte; plötzlich vernahmen wir in unserer Nähe ein starkes Geräusch, ein Tier, ein Tiger brach auf uns herein."
Während dieses ganzen Satzgefüges bildet die Vorstellung des dunklen Urwaldes gleichsam den Hintergrund, bei den Worten "vom Gebrüll wilder Tiere" stellte ich mir überhaupt noch kein Tier vor, sondern nur eine besondere Gehörsvorstellung, welche dem Tiergebrüll entspricht; wo das Wort  Tier  zum zweiten Mal erscheint, entsteht eine unsichere Vorstellung, welche sofort durch das Wort  Tiger  gleichsam konkretisiert wird; halte ich jetzt an und denke noch einmal an die Tiere des Urwaldes, so tritt unabweisbar die Vorstellung des Tigers wieder hervor, doch sehe ich in ihr nur auf die wesentlichen Merkmale des Tieres. Daher hat TAINE bei seiner isolierenden Betrachtung der Gattunsnamen eine Methode eingeschlagen, welche nur bei den Eigennamen zulässig war. Ferner betrachtet TAINE alle Namen als Zeichen, indem er von einigen prinzipiellen Erörterungen über die Zeichen ausgeht. Geben wir ihm zu, daß, wenn zwei Dinge stets aufeinanderfolgen, das erste Ding Zeichen des zweiten ist, "so" - sagt TAINE weiter - "sind die Namen Zeichen der Vorstellungen, weil auf die Namen stets die betreffenden Vorstellungen folgen." Dies kann jedoch nur beim Hören oder Lesen von Worten gelten, denn beim direkten Denken vor und während dem Sprechen folgt in der Regel der Name erst auf die Vorstellung; ja der Name gilt beim Hören und Lesen nur darum als Zeichen, weil er bei dem dem Sprechen vorausgehenden Denken auf die Vorstellung folgte. Nur dadurch ist es möglich, daß, wenn ich einen Namen höre und verstehe, ich überzeugt bin, daß mein Nebenmensch, der den Namen aussprach, dieselbe Vorstellung in sich vor dem Aussprechen des Namens hatte, welche ich nach Vernehmen des Namens in mir habe. Folgendes Schema zeigt dies deutlicher:

taine

Hier ist genau genommen der Name  x  für den Menschen  A  ein Zeichen der Vorstellung  a2 für  B  ein Zeichen von  a1 Nun sind freilich  a1  und  a2  im Wesentlichen gleich und darum kann im Allgemeinen der Name  x  ein Zeichen der Vorstellung  a  genannt werden, aber man handelt irrtümlich und in einer unklaren Vorstellung von der Funktion des Namens als Zeichen, wenn man innerhalb des Denkens des einzelnen Menschen den Namen als Zeichen und Stellvertreter der Bedeutungsvorstellung ansehen will und darauf Schlüsse über die Natur des Denkens bauen zu können glaubt, deren Voraussetzung ein nur in Worten vor sich gehendes Denken ist. Gegen dieses Wortdenken haben wir bereits früher (§ 10, 13, 21) die gewichtigsten Bedenken geltend gemacht.

Wir gestehen jedoch gerne zu, daß die Vorstellungsstärke die mannigfachsten Abstufungen durchmacht: neben der subjektiven Eigenart des Denkens beeinflußt auch die subjektive Erfahrung sehr die Anschaulichkeit der Vorstellungen; ferner ist das dem Sprechen vorausgehende Denken jedenfalls eher geneigt klar vorzustellen als das dem Hören oder Lesen folgende Denken, welches leichter zum mechanischen Operieren in Worten wird; schließlich ist beim Hören oder Lesen auch die Stellung der Wörter und ihr Wert im Satz von Einfluß; die Vorstellung des Subjekts, d. h. des sogenannten logischen Subjekts, wird stets besonders hervortreten, - kurz vielerlei Umstände wirken zusammen, um alle Abstufungen vom klarsten bis zum unklarsten Vorstellen möglich zu machen, ja bisweilen, besonders beim schnellen Lesen, mag ein vollkommenes Erlöschen des Bildes stattfinden. Aber ist dieses Erlöschen so wenig nachteilig, daß es vielmehr Regel im Denken und die Hauptursache unserer Intelligenz ist, wie TAINE glaubt? Das scheint uns nicht möglich; denn jenes Erlöschen findet sich auch im gewöhnlichen Leben keineswegs so häufig, wie TAINE annimmt.

Selbst in jenem Beispiel, das TAINE anführt, wo unter vielen anderen Dingen in Paris auch der  Louvre  genannt wird, scheint es nicht glaubhaft, daß sich der Lesende beim Wort "Louvre" gar nichts vorstellt; ein schwacher Schimmer der wesentlichen Merkmale eines Gebäudes wird sich auch hier blitzschnell einstellen. Sogar die fast sprichwörtlich bedeutungslosen Phrasen, deren man im gesellschaftlichen Leben viele macht, sind keine einfachen Worte. Wenn ich z. B. einen Besuch empfange, der mich gerade lästig bei der Arbeit stört, begrüße ich denselben mit den Worten: "Ach, freut mich Sie zu sehen! Wie gehts?" - Dabei bin ich mit meinen Gedanken noch bei meiner Arbeit und ärgere mich über die Störung; ich denke also an ganz andere Dinge, als ich sage. Trotzdem kann man nicht behaupten, ich hätte diese Sätze ohne Bedeutungsbewußtsein hergesagt; ich verwende diese Phrase mit dem Bewußtsein, daß es gewöhnliche Begrüßungsformeln sind; und daß derjenige, der diese Phrasen hört, erst recht mit denselben gewisse Vorstellungen verbindet, geht am besten daraus hervor, daß er sich unangenehm berührt fühlt, wenn man ihn ohne alle Phrasen empfängt.

§ 24. Bestreiten wir also das häufige Vorkommen einer vollständigen Vertretung von Vorstellungen durch Namen im Geiste, so hat TAINE noch einen Einwurf, der uns zugleich auf den zweiten, charakteristischen Teil seiner Lehre führt.
    "Aber, könnte er sagen, es gibt doch Namen, denen gar keine feste Bedeutungsvorstellung entsprechen kann, nämlich die Namen der Gattungsbegriffe, der Zahlen und der geometrischen Ideale."
Um diese Ansicht näher darzulegen, geht er zunächst auf die Entstehung der Gattungsbegriffe und Namen ein; hierbei vermengt er jedoch zwei Entwicklungen, diejenige der Menschheit und diejenige des einzelnen Menschen; beide haben sicherlich gewisse Ähnlichkeiten miteinander, aber gerade auf dem Gebiet der Sprache und des Denkens entwickelt sich der Einzelne am wenigsten selbständig, sondern knüpft stets an die frühere Generation an.

Die Entstehung der Gattungsbegriffe, welche TAINE entwickelt, soll so, wie er sie darlegt, noch heute nicht nur einmal, sondern stets wiederholt bei jeder neuen Wahrnehmung derselben Dinge erfolgen; ein jeder, der einen Wald wahrnimmt, soll jedesmal in sich einen Kampf der Triebe durchmachen, welcher in dem Ausdruck "Baum" gipfelt. Aber in Wirklichkeit bringt doch heutzutage ein jeder, wenn er in den Wald geht, schon die Vorstellung, sicherlich den Namen "Baum" mit und braucht sich den Begriff nicht erst entwickeln zu lassen. Als Kinder lernten wir für gewisse Gegenstände, die man uns wies, gewisse Namen, wir prägten uns die Vorstellungen der Gegenstände mit den Namen zugleich ein, und wenn nun bei wachsender Erfahrung eine weitere Entwicklung in der Begriffsbildung geschah, so war eben der Name hier stets schon neben dem sich bildenden Begriff vorhanden und nicht erst das Resultat desselben.

Aber vielleicht paßt auf die ersten Menschen die von TAINE ausgeführte Entwicklung? Fassen wir TAINEs Lehre so, dann erkennen wir in derselben eine originelle Verknüpfung der Lehre der alten Logik von der Entstehung der Begriffe mit der modernen sogenannten Reflextheorie von der Entstehung der Sprache.

Die alte Logik lehrte bekanntlich, daß ein Gattungsbegriff aus der Wahrnehmung vieler einzelner Dinge derselben Gattung entsteht, indem die jenen Dingen gemeinsamen Merkmale öfter wahrgenommen sich gegenseitig stärken und die unwesentlichen, seltener und in gegenseitigem Widerspruch wahrgenommenen, sich aufheben, so daß der Begriff aus den wesentlichen Merkmalen aller Einzeldinge der Gattung besteht.

Zu dieser Lehre bringt TAINE nun die Auffassung von der Entstehung der Sprache hinzu, als deren Hauptvertreter wir FRIEDRICH MAX MÜLLER zitieren (2): "Es gibt", sagt er, "ein Gesetz, welches sich fast durch die gesamte Natur hindurchzieht, daß jedes Ding, das ist, einen Klang von sich gibt. Jede Substanz hat ihren eigentümlichen Klang (Holz, Metall etc.) Ebenso war es mit dem Menschen, dem vollkommensten Organismus unter den Werken der Natur: er besaß das Vermögen,, vernünftigen Konzeptionen seines Geistes einen besseren, feiner artikulierten Ausdruck zu geben. Dieses Vermögen war ein Instinkt des Geistes."

Dieser Instinkt äußerte sich nach TAINE nun in Trieben, welche den einzelnen Merkmalen der Dinge entsprechen, und der Trieb, welcher dem überwiegenden Merkmal entspricht, führte zum Gattungsnamen.

Betrachten wir kurz die Grundlagen dieser Absicht. Zunächst ist zu bemerken, daß ein solcher Ursprung der Sprache, wie ihn MAX MÜLLER annimmt, durch nichts erwiesen ist; man hat einen solchen schöpferischen Sprachtrieb noch nie bei Kindern wahrgenommen.

Man findet, wie MARTY (3) sagt, beim Menschen, wie wir ihn jetzt beobachten, wohl an psychische Zustände irgendwelche Muskelaktionen und auch Lautäußerungen geknüpft, aber nicht jene reiche Mannigfaltigkeit unterscheidbarer Laute und Gebärden, wie die Sprache aufweist. Somit ist auch die Annahme von aktiven Trieben, welche aus einem Affekt hervorgehend zum sprachlichen Ausdruck führen müssen, eine vage Hypothese TAINEs.

Jene Ansicht der alten Logik aber hat gewiß darin recht, daß die gemeinsamen Merkmale mehrerer ähnlicher Dinge öfter wahrgenommen in der Vorstellung gestärkt werden, während die unwesentlichen sich schwächen; dies drückt TAINE so aus, daß uns die öfter wahrgenommenen Merkmale mehr in einen Affekt setzen. Aber die alte Logik geht zu weit, wenn sie annimmt, daß wir uns wirklich eine Vorstellung bilden könnten, welche nur jene gemeinsamen Merkmale enthält, während die unwesentlichen sich völlig vernichten und TAINE folgt auch hier mit, wenn er von einem endlichen zum Ausdruck führenden Sieg eines Merkmals oder vielmehr eines Triebes, der dem wesentlichsten Merkmal entspricht, redet. Wir haben niemals eine nur aus den wesentlichsten Merkmalen eines Begriffs bestehende Vorstellung in uns, sondern stets stehen den wesentlichen unwesentliche Merkmale zur Seite; denn so allein kommt eine konkrete Vorstellung zustande. Aber allerdings steht es in der Macht unseres Geistes, die wesentlichen Merkmale allein zu betrachten und von den unwesentlichen abzusehen.

§ 25. Eine eigenartige Veränderung der alten Lehre führt TAINE herbei, indem er behauptet, wir nähmen keine generellen Merkmale wahr, sondern wir hätten in uns nur Triebe, welche jenen generellen Merkmalen direkt, doch ohne unser Bewußtsein entsprechen und zum sprachlichen Ausdruck drängen.

Aber woher kennen wir denn generelle Merkmale, wenn wir sie niemals wahrnehmen?

Man könnte hier vielleicht die Beobachtung anführen, daß in uns nach der Wahrnehmung vieler Dinge wirklich die jenen Dingen gemeinsamen Merkmale stärker vorgestellt werden, ohne daß wir wissentlich früher auf dieselben geachtet haben; die meisten Menschen haben sogar, könnte man sagen, Begriffe von allen möglichen Dingen, ohne sich der wesentlichen Merkmale derselben bewußt zu sein. Haben sie also wirklich diese Merkmale nicht bewußt wahrgenommen? Jeder hat doch unzählige Male gesehen, jeder hat sich den Begriff "Mensch" gebildet, trotzdem können wenige denselben definieren. Haben darum die meisten Leute die wesentlichen Merkmale des Menschen übersehen? Dieser Schluß ist unzulässig; die Tatsache aber, welche hier vorliegt, erklärt sich folgendermaßen. Niemand kann sich einen Menschen  in abstracto  vorstellen, der nur die wesentlichen Merkmale besitzt, sondern jeder stellt sich beim Namen "Mensch" einen einzelnen Menschen vor, in dessen Vorstellung sowohl wesentliche als auch unwesentliche Merkmale enthalten sind. Die wachsende Erfahrung stärkt allerdings die wesentlichen Merkmale in der Vorstellung, aber die stets veränderte Gemütsstimmung der Menschen, insbesondere das oft auf unwesentliche und äußerliche Merkmale gerichtete Interesse wirkt diesem Einfluß hinderlich entgegen. Ein ruhigeres und klares Denken, mannigfaches Urteilen und Vergleichen führen erst wirklich zu einem logischen Begriff und zur definitiven Stärkung der wesentlichen Merkmale in der Vorstellung. Einem so geschulten Geist treten dann unwillkürlich die wesentlichen Merkmale vor den unwesentlichen hervor. Es liegt also jene Unfähigkeit zu definieren, d. h. die wesentlichen Merkmale anzugeben, nicht begründet in einem Nichtbewußtsein derselben, sondern in einem Schwanken der Wertschätzung der Merkmale innerhalb der sie enthaltenden Vorstellung.

So können wir also die Entstehung der Gattungsbegriffe oder vielmehr Gattungsnamen, welche TAINE annimmt, keineswegs billigen, der Name folgt nicht so unmittelbar, wie TAINE meint, aus der Wahrnehmung ähnlicher Dinge als das Produkt ihrer gemeinsamen Merkmale, daher kann er weder ihr vollberechtigtes Substitut sein, noch den einzigen bewußten Inhalt der abstrakten Begriffe bilden.

Vielmehr beruth jene Eigenschaft, welche TAINE als das Wesen der Gattungsnamen ansieht, daß sie Bilder mehrerer Dinge derselben Kategorie in uns hervorrufen und von denselben hervorgerufen werden, auf dem den Namen begleitenden Bewußtsein, daß er das gemeinsame Vorhandensein gewisser Merkmale bezeichnet, welche sich in jeder beliebigen Einzelvorstellung der Gattung beisammen finden.

§ 26. Von diesen Gattungsbegriffen schied TAINE - und damit kommen wir zum dritten Teil seiner nominalistischen Theorie - als eine besondere Art die geometrischen Begriffe, eine Unterscheidung, welche wir nicht voll billigen können. Freilich kamm man die geometrischen Begriffe: "Linie, Kreis" nirgends wahrnehmen, aber dasselbe gilt doch auch von den Gattungsbegriffen. Von den geometrischen Idealen, mit denen wir operieren, haben wir ebensowenig eine adäquate Vorstellung wie von den Gattungsbegriffen, aber darum sind diese doch ebensowenig nur Namen wie jene. Allerdings besteht der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Begriffen, daß bei den Gattungsbegriffen jedes einzelne Wesen der Gattung vollständig den Gattungsbegriff in sich enthält und daher auch vertreten kann, z. B. jedes Pferd, Hund, Katze den Begriff "Tier", während die geometrischen Ideale auch in keiner Einzelvorstellung rein enthalten sind; z. B. läßt sich keineswegs in der Vorstellung "Rad" der Begriff "Kreis" rein wahrnehmen, denn jedes Rad wird sich der Kreisform nur mehr oder weniger vollkommen nähern.

Dieser Mangel wird nun aber durch einen neuen Zug des Denkens ausgeglichen, indem wir uns dem geometrischen Ideal als einem Postulat durch eine in gewisser Richtung unbegrenzte Reihenbildung mehr und mehr nähern können. Aber die Grundlage auch dieser Operation ist zunächst eine konkrete Einzelvorstellung. In der Vorstellung eines Rades beachte ich die Rundung besonders und, indem ich sie mir beliebig vervollkommene, nähere ich sie dem Ideal der Kreisfigur.

Größere Anerkennung müssen wir TAINEs Auffassung der Zahlbegriffe zollen. Freilich können wir auch hier eine Benennung infolge eines Triebes, der einem abstrakten Merkmal entspricht, nicht zugeben, aber sicher ist, daß eine adäquate Vorstellung aller größeren Zahlen unmöglich ist, und daß sich der Geist darum besonderer Hilfsmittel bedient, deren hauptsächlichstes eben die Zahlnamen sind.

Hier lassen sich in der Tat Fälle denken, in denen mit dem Zahlnamen gar keine Bedeutungsvorstellung verbunden scheint. Aber sowie ein Operieren mit Zahlen beginnt, ist nach den früheren Erörterungen jedenfalls das Bewußtsein, daß die Zahlen irgendeine Menge bezeichnen, vorhanden. Wie vermag ich zu addieren und substrahieren, ohne mir ferner der Beziehung der Zahlen zueinander bewußt zu sein? ohne zu wissen daß  999  größer als 998, kleiner als 1000 ist? Allerdings kann ich mir die Größe  999  nicht vorstellen, allerdings ist der Name hier von der größten Wichtigkeit, aber er ist es nur, weil doch ein gewisses Bedeutungsbewußtsein eng an ihn geknüpft ist. Dies beruth einmal auf der uns von Kindheit an fest eingeprägten Reihenfolge der Zahlnamen, sodann auf unserer Einteilung aller Größen in gewisse Gruppen, welche wir meist schon durch den Namen bezeichnen: dreizehn = 3 + 10, dreißig = 3 x 10. Letzteren Kunstgriffs bedient sich der menschliche Geist weit häufiger und mit mehr Erfolg, um größere Reihen zu übersehen, als des von TAINE ausgeführten Mittels, sich z. B.  36  als  5  (niedrigste vorstellbare Zahl) + 1 + 1 + 1 usw. bis 35 + 1 vorzustellen. Hierauf beruth das Operieren mit Zahlen anscheinend ohne Vorstellung ihrer Werte, daß man vielmehr sich die Größen in Gruppen zerlegt vorstellt:  36 = 3 x 10 + 6.  Hätte man alle Größen z. B. bis 100 jede mit einem besonderen Namen benannt, so wäre das kein Vorteil, sondern nur ein ungeheurer Nachteil für das Rechnen, welches eben erst dadurch möglich wurde, daß man die Größen in Gruppen zerlegte, innerhalb welcher wieder genau die Reihenfolge der einzelnen Zahlnamen bestimmt war.

LITERATUR - Carl Grube, Über den Nominalismus in der neueren englischen und französischen Philosophie, Halle 1889
    Anmerkungen
    1) HIPPOLYTE TAINE, De l'intelligence, Paris 1883, Seite 26f
    2) FRIEDRICH MAX MÜLLER, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache, Bd. 1, Seite 331-332.
    3) ANTON MARTY, Über subjektlose Sätze und das Verhältnis der Grammatik zu Logik und Psychologie, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 8, Seite 457