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JOHANN GOTTLIEB FICHTE
(1762 - 1814)
Bericht über den
Begriff der Wissenschaftslehre

[1806]

"Sie gehen nie anders, als mit schon zerrissenem Geist an die Sache, und darum kann das Eine nie an sie gelangen, weil sie selbst niemals das Eine sind."

"Das Publikum will - wir fügen uns vorläufig seiner Sprache, bis wir tiefer unten dieselbe zerstören werden - das Publikum will Realität, dasselbe wollen auch wir; und wir sind hierüber auch mit ihm einig. Das Publikum, welches sein geistiges Leben über diese Form nicht hinweg zu versetzen, noch dieselbe von sich abzulösen, und sie frei anzuschauen vermag, hat, eben ohne es selbst zu wissen, seine Realität nur in dieser Form; da es nun aber doch Realität haben muß, so ist es geneigt, jenen von der Wissenschaftslehre geführten Beweis für fehlerhaft zu halten, weil ihm dadurch seine Realität, die es nicht umhin kann, für die einzig mögliche zu halten, vernichtet wird."

Erstes Kapitel
Über den Begriff der Wissenschaftslehre

Falls etwa der Erkenntnis der Wahrheit durch den Menschen dieses Hindernis im Weg stünde, daß im natürlichen und kunstlosen Zustand diese Erkenntnis sich selber, nach eigenen inneren und verborgen bleibenden Gesetzen gestaltete und bildete; diese ihr eigene Gestalt der zu erkennenden Wahrheit, ohne unser Vermerken, mitteilte, und so in der Erkenntnis sich selber in den Weg, und zwischen sich und die reine Wahrheit in dei Mitte träte: so würde es auf diese Weise nie zur Wahrheit, und falls diese Selbstmodifikation der Erkenntnis wandelbar, veränderlich, und in ihrer verschiedenen Gestaltung vom blinden Ungefähr abhängig sein sollte, auch nie zu bleibender Einheit und Gewißheit in der Erkenntnis kommen. Diesem Mangel und den notwendigen Folgen desselben könnte auf keine andere Weise abgeholfen werden, außer dadurch, daß jene inneren Selbstmodifikationen der Erkenntnis aus ihren Gesetzen vollständig erschöpft, und die Produkte derselben von der erkannten Wahrheit abgezogen würden; worauf, nach diesem Abzug, die reine Wahrheit übrigbleiben würde.

So verhält es sich nun in der Tat; und dem zufolge würden, bis auf KANT, alle Denker und Bearbeiter der Wissenschaft ohne Ausnahme durch den verborgenen Strom jener inneren Verwandlungen der Erkenntnis herumgezogen, und mit sich selber und andern in Widerstreit versetzt. KANT war der erste, der diese Quelle aller Irrtümer und Widersprüch glücklich entdeckte, und den Vorsatz faßte, auf die einzig wissenschaftliche Weise, durch die systematisch Erschöpfung jener Modifikationen, und, wie er es nannte, durch Ausmessung des ganzen Gebiets der Vernunft, sie zu verstopfen. Die Ausführung blieb jedoch hinter dem Vorsatz zurück, indem die Vernunft oder das Wissen nicht in seiner absoluten Einheit, sondern schon selbst in verschiedene Zweige gespalten, als theoretische, als praktische, als urteilende Vernunft, der Untersuchung unterworfen; auch die Gesetze dieser einzelnen Zweige mehr empirisch gesammelt, und durch Induktion als Vernunftgesetze erhärtet wurden, als daß eine wahre Deduktion aus der Urquelle sie erschöpft, und als das, was sie sind, sie dargelegt hätte. Bei diesem Stand der Sachen ergriff die Wissenschaftslehre die durch jene Kantische Entdeckung an die Menschheit gestellte Aufgabe; zeigend, was der Wissenschaftsweg in seiner Einheit ist, sehr sicher wissend und darauf rechnend, daß aus dieser Einheit heraus die besonderen Zweige desselben sich von selbst ergeben, und aus ihr würden charakterisiert werden können.

Wir sind nicht gemeint zu leugnen, daß nicht von einigen jene Wissenschaftslehre einigermaßen gefaßt, und ihr Zweck notdürftig historisch ersehen worden sei, indem von mehreren gestanden wurde, daß durch jenes Werk die absolute Nichtigkeit aller Produkte des Grundgesetzes des Wissens, der Reflexion, dargetan sind. Nur machte man aus dieser Entdeckung über das Resultat jener Philosophie den Schluß, daß eben um dieses Resultates willen die Wissenschaftslehre notwendig falsch ist, indem doch eine Realität ist, diese Realität aber, weil nämlich diejenigen, die so dachten, für ihre Person dieselbe nicht anders zu erfassen vermochten, nur innerhalb des Gebiets des Reflexionsgesetzes erfaßt werden kann. Durch dieselbe Voraussetzung machten sie nun die Wissenschaftslehre, dieselbe mit dem in ihrer Gewalt einig befindlichen Organe fassend, wirklich falsch; indem sie, gar nicht zweifelnd, daß ein objektives Sein gesetzt werden muß, und daß von diesem allgemeinen Schicksal der Sterblichkeit auch die Wissenschaftslehre nicht frei sein wird, meinten, der Fehler dieser Philosophie besteht darin, daß sie ein subjektiv-objektives Sein, ein wirkliches und konkret bestehendes Ich, als das Ding ansich, voraussetzt; welchem Fehler sie für ihre Person nun dadurch abzuhelfen vermeinten, daß sie stattdesseb ein objektiv-objektives Sein, welches sie mit dem Namen des Absoluten beehrten, voraussetzten. Zwar hat es in Absicht der der Wissenschaftslehre angemuteten Voraussetzung von Seiten derselben nicht gemangelt, wiederholt und in den verschiedensten Wendungen zu protestieren; jene aber bleiben dabei, wie sie dann auch nicht füglich anders können, daß sie besser wissen müßten, was der Verfasser der Wissenschaftslehre eigentlich will, als dieser selbst. In der Absicht ihrer eigenen Verbesserung ist sonnenklar, und es wird, falls jemals einige Besonnenheit an die Tagesordnung kommen sollte, jedes Kind begreifen, daß dieses ihr Absolute nicht nur objektiv ist, welches das erste Produkt der stehenden Reflexionsform, sondern zugleich auch, als Absolutes, bestimmt ist durch seinen Gegensatz eines Nicht-Absoluten, welche ganze Fünffachheit, noch überdies mit der im Nicht-Absoluten liegenden ganzen Unendlichkeit, in jener Operation mit dem Absoluten und ihrer Einbildungskraft durcheinander verwachsen liegt, und so ihr Absolutes überhaupt gar kein möglicher Gedanke, sondern nur eine finstere Ausgeburt ihrer schwärmenden Phantasie ist, um die Empirie, im Glauben an welche sie fest eingewurzelt sind, zu erklären.

Gegen Erinnerungen, wie die eben gemachte, meinen sie sich auf folgende Weise in Sicherheit bringen zu können. Es hat nämlich die Wissenschaftslehre, freilich nur fürs Erste, und als ein Hausmittel für diejenigen, denen der Zustand der Besonnenheit noch nicht der natürliche geworden ist, sondern in welchen er mit dem der Unbesonnenheit wechselt, vorgeschlagen, daß sie bei dergleichen Produkten der stehenden Reflexionsform sich doch nur besinnen möchten, daß sie das Gedachte ja denken. Jene, wohl wissend, daß, wenn sie auf diesen Vorschlag eingehen, ihnen die geliebte Täuschung verschwindet, und das, was sie gern als das Ansich sähen, sich als ein bloßer Gedanke gar klar manifestiert, versichern, daß man an dieser Stelle sie nie zur Reflexion bringen soll; und berichten, daß gerade durch die konsequente Durchführung jener Maxime die Wissenschaftslehre zu einem leeren Reflektiersystem wird, und dadurch eben, wie es sich dann auch wirklich so verhält, die ganze Reflexionsform in ein absolutes Nichts zerfällt, indem das eben die jenem System verborgen gebliebene Kunst ist, an der rechten Stelle die Augen zuzumachen und die Hand auf, um die Realität zu ergreifen. Es entgeht ihnen hierbei gänzlich, daß, völlig unabhängig von ihrem Reflektieren oder Nichtreflektieren auf ihren Denkakt, derselbe ansich bleibt, wie er ist, und wie er durch die Form der Beschränkung, in der sie ihn vollziehen, notwendig ausfällt; und daß es ein schlechtes Mittel ist gegen die Blindheit, vor der Blindheit selber wiederum die Augen zu verschließen. So bleibt in dem angegebenen Fall ihr Absolutes, von dem sie doch durchaus nicht anders denken können, als daß es ist, immer ein Objektives, aus dem Schauen Hingeworfenes, und demselben in ihm selber Entgegengesetztes, durch sich und in seinem Wesen; ob sie nun den Gegensatz dazu, das Schauen, ausdrücklich hinsetzen oder nicht: und sie haben, wenn sie dann nicht mehr dieses Objektivieren vollzogen haben, nur das Sein überhaupt, keineswegs aber, wie sie vorgeben, das Absolute gedacht; oder wollen sie doch auch dieses Letztere gedacht haben, so haben sie, innerhalb des Seins überhaupt, noch durch einen zweiten Gegensatz mit einem nicht absoluten Sein, eine weitere Bestimmung vollzogen, und ihr Absolutes ist ein besonderes Sein, innerhalb des allgemeinen, und ihr Denken ist auf eine bestimmte Weise analytisch-synthetisch, weil nur durch ein solches Denken der Begriff, den sie zu haben versichern, zustande kommt, sie mögen es nun erkennen oder nicht.

Das alles ist ihnen nun seit dreizehn Jahren oft wiederholt und in den mannigfaltigsten Wendungen gesagt worden, und sie haben es auch recht wohl vernommen. Aber sie wollen es nicht weiter hören, und hoffen, weil wir einige Jahre geschwiegen haben, und sie nach all ihrer Lust ihr Wesen haben treiben lassen, desselben auf immer erledigt, und in den ungestörten Besitz der Weisheit, die ihnen gefällt, eingesetzt zu sein.

Jedoch fehlt gar viel daran, daß dieses ihr Nichtwollen so ganz ein freies ist. Es gründet sich dasselbe vielmehr mit Notwendigkeit auf die Beschaffenheit ihrer geistigen Natur. Sie vermögen nicht zu tun, was wir ihnen anmuten, noch zu sein, wie wir sie haben wollen. Wollen sie bei diesem Stand der Dinge nicht alles Sein aufgeben und in die völlige Vernichtung fallen, so müssen sie sich auf das ihnen einzig mögliche Sein stützen, und dasselbe aus aller Kraft aufrecht zu erhalten suchen.

Jene, oben an einem Beispiel dargestellte analytisch-synthetische Denken ist eine Funktion der Phantasie, und mischt mit den aus ihr erzeugten Schemen die Realität zusammen; wir aber muten ihnen das reine und einfache Denken oder die Anschauung an, durch welches allein die Realität, in ihrer Einheit und Reinheit, an sie gelangen könnte. Sie sind des Letzteren durchaus unfähig, und sind darum allerdings genötigt, falls sie nicht lieber das Denken überhaupt aufgeben wollen, sich der Herrschaft ihrer dunklen und verworrenen Phantasie zu überlassen. Wie sie sich auch mit ihrem Geist hin- und herbewegen mögen, so werden sie nur auf andere Formen der Phantasie getrieben, aus dieser überhaupt nie herauskommend. Die Form der Phantasie ist allemal das Eine zerreißend: sie gehen nie anders, als mit schon zerrissenem Geist an die Sache, und darum kann das Eine nie an sie gelangen, weil sie selbst niemals das Eine sind.

Darum verliert auch an ihnen alle Belehrung ihren Effekt, weil dieselbe, um an sie zu kommen, erst durch ihr Organ hindurchgehen muß; in diesem Durchgang aber ihre eigene Form verliert, und die Form ihres Organs annimt. Wenn man z. B. mit ihnen vom Ich, als der Grundform allen Wissens redet, so vermögen sie dieses Ich gar nicht anders an sich zu bringen, denn als ein objektives, durch ein anderes ihm entgegengesetztes objektives, bestimmtes Sein, weil diese letztere Form eben die Grundform der Einbildungskraft ist; es ist darum notwendig, daß sie die Wissenschaftslehre so verstehen, wie das deutsche Publikum sie verstanden hat; und es ist eben dadurch klar, daß gar keine Wissenschaftslehre an sie zu kommen vermag, sondern statt derselben nur ein höchst verkehrtes System, welches sie durch die entgegengesetzte Verkehrtheit berichtigen wollen.

Das einfache Denken ist das innere Sehen; das Phantasieren dagegen ist ein blindes Tappen, dessen Grund dem Tapper ewig verborgen bleibt. Die Wissenschaftslehre war ein Gemälde, auf Licht und Augen berechnet, und wurde in der Voraussetzung, daß dergleichen vorhanden wären, dem Publikum vorgelegt. Man tappte einige Jahre herum auf dem Gemälde, und es fanden sich einige, welche Höflichkeitshaler versicherten, daß sie die angeblich abgezeichneten Gestalten unter dem Finger fühlten. Andere, die mehr Mut hatten, bekannten, daß sie nichts fühlten; dadurch verminderte sich dann auch die Schüchternheit und die falsche Scham der Ersteren, und sie nahmen ihr Wort zurück. Es fand sich indessen einer, der sich der allgemeinen Not annahm, und aus allerlei altem Abgang einen Teig zusammenknetete, den er ihnen darbot. Seit dieser Zeit befleißigt sich jeder, der Finger hat, des Befühlens, und es ist ein öffentliches Dankfest darüber angesagt, daß das Absolute betastbar geworden ist.

Wo der eigentliche Punkt des Streits, den die Wissenschaftslehre gegen sie führt, wahrhaftig liegt, weiß unter allen vorgeblich philosophierenden deutschen Schriftstellern keiner; ich sage mit Bedacht keiner, und gedenke hierüber diesmal keine Ausnahme zu gestatten. Daß auch dieses System dafür hält, die Betastung sei der einzige innere Sinn, und daß es auch ein bloßes, nur etwas Wunderbares und von dem ihrigen verschiedenes Betasten ist, darüber regt sich nirgends einiger Zweifel. Ferner halten sie dafür, der Streit sei über objektive Wahrheiten, und unser System leugnet bloß einige Sätze, die sie behaupten, und wolle dieses durch andere Sätze verdrängen; da doch dieses System eine Bestreitung ihres gesamten geistigen Seins und Lebens in der Wurzel ist, und ihnen vor allen Dingen Klarheit anmutet, worauf es sich mit der Wahrheit ohne weiteres auch geben werde. Nicht darauf kommt es an, was ihr denkt, würde die Wissenschaftslehre ihnen sagen; denn euer gesamtes Denken ist schon notwendig Irrtum, und es ist sehr gleichgültig, ob ihr auf die eine Weise irrt, oder auf die andere; sondern darauf, was ihr innerlich und geistig seid. Seid das Rechte, so werdet ihr auch das Rechte denken; lebt geistig das Eine, so werdet ihr dasselbe auch anschauen.

Nun aber ist das Erstere nicht ganz leicht, und wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß sich einstmals mehr Geneigtheit und Fähigkeit dazu sich unter den Deutschen vorfinden werde, als ihrer seit dreizehn Jahren, oder wenn wir KANT, von welchem, nur mit etwas größerem Aufwand des eigenen Scharfsinns, dasselbe sich hätte lernen lassen, dazu nehmen, als sich seit 25 Jahren dargelegt hat. Dennoch wollen wir die neuerdings vom Publikum beiseite gesetzte Sache wieder in Anregung bringen; unbekümmert übrigens darum, ob auch diese Anregung in derselben leeren Luft, in welcher seit geraumer Zeit alle Anregungen zum Besseen fruchtlos verhallt sind, gleichfalls ohne Erfolg verhallen werde.

Um vor allen Dingen den Stand der Einstimmigkeit, sowie des Streits der Wissenschaftslehre mit dem Publikum festzustellen, und dadurch unseren eigentlichen diesmaligen Zweck zu bestimmen:

Das Publikum will - wir fügen uns vorläufig seiner Sprache, bis wir tiefer unten dieselbe zerstören werden - das Publikum will Realität, dasselbe wollen auch wir; und wir sind hierüber auch mit ihm einig.

Die Wissenschaftslehre hat den Beweis geführt, daß die, in ihrer absoluten Einheit erfaßt werden könnende, und von ihr so erfaßte Reflexionsform keine Realität hat, sondern lediglich ein leeres Schema ist; bildend aus sich selber heraus, durch ihre gleichfalls vollständig, und aus  einem  Prinzip zu erfassenden Zerspaltungen in sich selbst, ein System von anderen ebenso leeren Schemen und Schatten; und sie ist gesonnen, auf dieser Behauptung fest und unwandelbar zu bestehen.

Das Publikum, welches sein geistiges Leben über diese Form nicht hinweg zu versetzen, noch dieselbe von sich abzulösen, und sie frei anzuschauen vermag, hat, eben ohne es selbst zu wissen, seine Realität nur in dieser Form; da es nun aber doch Realität haben muß, so ist es geneigt, jenen von der Wissenschaftslehre geführten Beweis für fehlerhaft zu halten, weil ihm dadurch seine Realität, die es nicht umhin kann, für die einzig mögliche zu halten, vernichtet wird.

Wenn wir nun bei diesem Stand der Sachen einen Augenblick annehmen wollen, daß diesem Publikum geholfen ist, und daß es uns zu verstehen vermag; so könnte das Erstere nur dadurch geschehen, daß man mit ihm gemeinschaftlich und vor seinen Augen die Form, in der es befangen bleibt, ablöst und ausscheidet und neu zeigt, daß zwar seine Realität, keineswegs aber alle Realität vernichtet ist, sondern daß im Hintergrund der Form, und nach ihrer Zerstörung erst die wahrhafte Realität zum Vorschein kommt. Dieses Letztere ist nun diejenige Aufgabe, welche wir zu seiner Zeit durch eine neue und möglichst freie Vollziehung der Wissenschaftslehre, in ihren ersten und tiefsten Grundzügen zu lösen gedenken.

Wenn jemand will, so mag er eine solche Arbeit auch für die Erfüllung des lange vorher gegebenen Versprechens einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre nehmen; welcher Erfüllung ich mich übrigens, weil mir immer deutlicher wurde, daß die alte Darstellung der Wissenschaftslehre gut und vorerst ausreichend sei, schon längst entbunden hatte, und sie jetzt weiter hinausschiebe. Wie es mir aus den öffentlichen Äußerungen dieser Erwartung wahrscheinlich geworden ist, hoffte man besonders, daß durch die neue Darstellung das Studium dieser Wissenschaft bequemer werden sollte; welcher Hoffnung zu entsprechen ich weder ehemals noch jetzt große Fähigkeit oder Geneigtheit in mir verspüre.

Da ich soeben die ehemalige Darstellung der Wissenschaftslehre für gut und richtig erklärt habe, so versteht es sich, daß niemals ine andere Lehre von mir zu erwarten ist, als die ehemals an das Publikum gebrachte. Das Wesen der ehemals dargelegten Wissenschaftslehre bestand in der Behauptung, daß die Ichform oder die absolute Reflexionsform der Grund und die Wurzel allen Wissen ist, und daß lediglich aus ihr heraus alles, was jemals im Wissen vorkommen kann, sowie es in demselben vorkommt, erfolgt; und in der analytisch-synthetischen Erschöpfung dieser Form aus dem Mittelpunkt einer Wechselwirkung der absoluten Substantialität mit der absolten Kausalität; und diesen Charakter wird der Leser in allen unseren jetzigen und künftigen Erklärungen über Wissenschaftslehre unverändert wiederfinden.



Zur vorläufigen Erwägung

Wenn es nun etwa jemand zu der Einsicht gebracht hätte, daß das Sein - ich muß, um die Rede anknüpfen zu können, von diesem Begriff, den ich demnächst zu zerstören gedenke, ausgehen - daß das Sein schlechthin nur Eins, durchaus nicht Zwei, und ein in sich selber Geschlossenes und Vollendetes, eine Identität, keineswegs aber eine Mancherleiheit sein könnte: so würde von einem solchen billigerweise zu fordern sein, daß er nach dieser Einsicht nun auch wirklich verfährt, nicht aber zur Stunde wiederum gegen sie handelt, daß er demnach, falls er etwa noch überdies ein solches Sein nicht problematisch an seinen Ort gestellt sein lassen, sondern positiv und bejahend dasselbe annehmen wollte, dasselbe, treu seinem Grundsatz, eben nur ins positive Sein selber oder ins Leben setzen, und annehmen muß, daß es eben nur unmittelbar lebend, und im unmittelbaren Erleben und durchaus auf keine andere Weise sich bewahrheiten kann. Wollte er nun etwa dieses Leben wiederum absolut nennen, wie ihm, wenn er nur dadurch keinen Gegensatz, der ja gegen die angenommene Einheit des Seins streiten würde, aufstellen, sondern nur soviel sagen wollte, daß dies das Eine in sich vollendete Sein ist, ohne welches gar nichts anderes sein kann: so würde er annehmen müssen, daß das Absolute nur in diesem einzig möglichen inneren Leben von sich, aus sich, durch sich ist, und durchaus auf keine andere Weise sein kann, daß nur im unmittelbaren Leben das Absolute ist, und es außer dem unmittelbaren Leben gar kein anderes Sein gibt, und alles Sein nur gelebt, nicht aber auf andere Weise vollzogen werden kann. Könnte nun ein solcher auch wohl freilich sich nicht ableugnen, daß er in dieser Operation das Leben doch nur denkt, und objektiv vor sich hinstellt, so müßte sich derselbe nur recht verstehen, um sogleich einzusehen, daß er dennoch nicht diesen  Gedanken  seines Lebens und das  Produkt  seines Denkens meint, indem er ja das Leben aus sich und von sich selbst nicht aber aus seinen Gedanken heraus gedacht zu haben vermeint, da an diesem Gedanken sein Denken ausdrücklich zerstört, und durch den Inhalt dieses einzig möglichen wahren Gedankens das Denken, als etas für sich bedeuten wollend, völlig vernichtet würde. Geradezu aber würde gegen die vorausgesetzte Einsicht gehandelt werden, wenn jemand das Sein und das Sein durchaus das Absolute ist, das Absolute, in ein nicht Einfaches, sondern Mannigfaltiges, und in ein sichtbares Erzeugnis und Produkt eines Anderen außer ihm setzen wollte. Dergleichen ist nun eben der Begriff des Seins, von welchem wir die Rede anhoben. Er ist nicht von sich, sondern aus dem Denken, und dieses Sein ist in sich selbst tot, wie das auch nicht anders sein kann, da sein Schöpfer, das Denken, in sich selbst tot ist, und an dem einzigen wahren Gedanken, dem des Lebens, sich also bewährt. Auch bewährt sich dieses Sein wirklich als tot im Gebrauch, indem es für sich selbst nicht aus der Stelle rückt, und durch mündliche Wiederholbarkeit doch ein Etwas aus ihm herauskommt, sondern erst durch einen zweiten Ansatz des Denkens ihm Leben und Bewegung als ein zufälliges Prädikat erteilt wird. Alle diese, dem Sein hinterher noch beigelegten Prädikate sind nun notwendig willkürliche Erdichtungen, indem, falls das Denken auf eine glaubhafte Weise Bericht vom Leben abstatten sollte, das letztere selber darin eintreten und unmittelbar von sich zeugen müßte; jenes Denken eines Seins aber gleich ursprünglich das Leben von sich ausgeschieden, und außer aller unmittelbaren Berührung mit ihm sich gesetzt hat, und darum nicht berichten, sondern nur erdichten kann; am letzteren freilich ist noch die Möglichkeit besonders zu erklären.

Würde nun etwa dennoch in einem gewissen Sinne, der noch näher zu bestimmen sein würde, angenommen, daß wir, oder was dasselbe bedeutet, daß ein Bewußtsein ist: so wäre dieses, innerhalb der vorausgesetzten Grundeinsicht, nur so zu begreifen, daß das  eine  absolute Leben eben das unsrige, und das unsrige das absolute Leben ist, indem es nicht zwei Leben, sondern nur  ein  Leben zu geben vermag, und daß das Absolute auch in uns eben nur unmittelbar lebend, und im Leben, und auf keine andere Weise dazusein vermag, indem es überhaupt auf keine andere Weise dazusein vermag; und wiederum, daß nur in uns das Absolute lebt, nachdem es überhaupt in uns lebt, es aber nicht zweimal zu leben vermag. Inwiefern aber nun ferner angenommen wird, daß wir nicht bloß das  eine  Leben, sondern zugleich auch Wir oder Bewußtsein sind, so würde insofern das  eine  Leben in die Form des Ich eintreten. Sollte sich, wie wir aus guten Gründen vorläufig vermuten, diese Ichform klar durchdringen lassen, so würden wir einsehen, was an uns und unserem Bewußtsein lediglich aus jener Form erfolgt, und was somit nicht reines, sondern formiertes Leben ist; und vermöchten wir nun dieses von unserem gesamten Leben abzuziehen, so würde sich erhellen, was an uns als reines und absolutes Leben, was man gewöhnlich das  Reale  nennt, übrig bleibt. Es würde eine Wissenschaftslehre, welche zugleich die einzig mögliche  Lebenslehre  ist, entstehen.

Was insbesondere das erste aufgestellte tote Sein betrifft, so würde sich erhellen, daß dieses durchaus nicht das Absolute, sondern daß es nur das letzte Produkt des in uns in der Form des Ich eingetretenen wahrhaft absoluten Lebens ist; das letzte, sage ich, also dasjenige, in welchem in dieser Form das Leben abgeschlossen, erloschen und ausgestorben ist, somit in ihm schlechthin gar keine Realität übriggeblieben ist. Es würde einleuchten, daß eine wahrhaft lebendige Philosophie vom Leben fortgehen muß zum Sein, und daß der Weg vom Sein zum Leben völlig verkehrt ist und ein in allen seinen Teilen irriges System erzeugen muß, und daß diejenigen, welche das Absolute als ein Sein absetzen, dasselbe rein aus sich ausgetilgt haben. Auch in der Wissenschaft kann man das Absolute nicht  außer  sich anschauen, welches ein reines Hirngespinst gibt, sondern man muß in eigener Person das Absolute  sein  und leben.

Ich füge nur noch folgende zwei Bemerkungen hinzu. Zuerst, daß durch diesen Satz alle Philosophie ohne Ausnahme, außer der Kantischen und der der Wissenschaftslehre, für völlig verkehrt und ungereimt erklärt wird; und wir sprechen dies bestimmt aus, indem wir niemals irgendeine Ausnahme, welchen Namen sie auch haben mag, zu gestatten denken. Sodann, so klar und so handgreiflich einleuchtend die gemachte Bemerkung auch jedem ist, der sie eben versteht, so möchte es doch Leser geben, die sich gar nicht leicht in dieselbe finden. Der Grund ist der: weil es einiger Anstrengung bedarf, um sich zur Vollziehung der angemuteten Konsequenz zu bringen, und dieselbe in seine frei und besonnene Gewalt zu bekommen, dem natürlichen Hang im Menschen zuwider, zum objektivierenden Denken, als dem leichtesten, und jedem ohne alle Mühe und Besonnenheit sich anwerfenden zurückzukehren. Dennoch kann die Vollziehung dieser Einsicht nicht erlassen werden, indem es außerdem beim blinden Tappen bleibt und kein Sehen erfolgt, und der ganze Unterricht, aus Mangel an einem tauglichen Organ der Aufnahme, seinen Zweck verfehlt.

Endlich, daß beim Leben angehoben werden muß, und von diesem erst zum Sein fortgegangen werden kann, hat nur vorläufig verständlich gemacht werden sollen, um dann den vorhandenen Grund allen Irrtums bei Zeiten aus dem Weg zu bringen. Keineswegs aber haben wir uns dadurch die Möglichkeit abschneiden wollen, falls es notwendig werden sollte, sogar über das Leben hinauszugehen, und auch dieses als nichts Einfaches und Erstes, sondern als Produkt einer klar nachzuweisenden Synthesis, nur ja nicht aus dem Sein, darzustellen. Einer der nächsten Aufsätze dieser Zeitschrift wird sich mit dieser Aufgabe beschäftigen.
LITERATUR - Johann Gottlieb Fichte, Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben [1806], Sämtliche Werke, Bd. VIIII, herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1846