p-4Ernst MeumannJoseph ChurchClara u. William Stern    
 
LEW SEMJONOWITSCH WYGOTSKI
Die kindliche Begriffsentwicklung
[ 7/10 ]

Forschungsprobleme und -methoden
Ursprung des Denkens
Experimente zur Begriffsentwicklung
Gedanke und Wort
Die innere Sprache
"So entwickelt sich der Prozeß der Begriffsbildung fast gleichzeitig von zwei Seiten her, von der Seite des Allgemeinen und von der Seite des Besonderen."

Von diesem Standpunkt erfolgt die Begriffsbildung in gleicher Weise, wie aus einer Typenphotographie von GALTON ein Familienporträt aus verschiedenen Personen ein und derselben Familie entsteht. Bekanntlich entsteht diese Photographie dadurch, daß die Bilder der einzelnen Mitglieder der betreffenden Familie übereinanderkopiert werden, so daß die ähnlichen und sich oft wiederholenden Züge, die vielen dieser Familienmitglieder gemeinsam sind, mit reliefartiger Prägnanz hervorgehoben werden, während die zufälligen, individuell verschiedenen Züge durch das Übereinanderkopieren verwischt oder ausgelöscht werden.

Auf diese Art und Weise werden die ähnlichen Züge herausgehoben, und die Gesamtheit dieser herausgelösten gemeinsamen Merkmale einer Reihe ähnlicher Dinge und Züge ist vom traditionellen Standpunkt aus ein Begriff im eigentlichen Sinne des Wortes. Man kann sich den wirklichen Verlauf der Begriffsentwicklung nicht falscher vorstellen als in diesem logisierten Bild.

Bereits vor langem wurde festgestellt und unsere Experimente haben es klar und deutlich gezeigt, daß  die Begriffsbildung des Jugendlichen niemals den logischen Verlauf nimmt,  den die traditionelle Psychologie von der Begriffsbildung zeichnet.

VOGELs Untersuchungen haben ergeben, daß das Kind
"offensichtlich nicht in das Gebiet der abstrakten Begriffe eintritt, indem es von speziellen Arten ausgeht und immer höher steigt. Im Gegenteil, am Anfang benutzt es allgemeine Begriffe. Zu den Reihen, die eine Mittelstellung einnehmen, kommt es nicht durch die Abstraktion von unten nach oben, sondern durch die Bestimmung beim Übergang vom Höheren zum Niederen. Die Entwicklung der Vorstellung geht beim Kinde vom Undifferenzierten zum Differenzierten, und nicht umgekehrt. Das Denken entwickelt sich durch das Übergehen von der Gattung zur Art und Unterart, und nicht umgekehrt".
Das Denken bewegt sich nach einem bildhaften Ausdruck VOGELs fast immer in der Begriffspyramide nach oben und nach unten und selten in horizontaler Richtung. Diese Annahme bedeutete seinerzeit eine echte Umwälzung in der traditionellen Psychologie der Begriffsbildung. An die Stelle der Vorstellung, nach der ein Begriff durch eine einfache Herauslösung der ähnlichen Merkmale aus einer Reihe konkreter Dinge entstanden sei, begann sich die Begriffsbildung den Untersuchern in ihrer Kompliziertheit als  verwickelter Prozeß der Bewegung des Denkens in der Denkpyramide  darzustellen, der ständig vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Besonderen zum Allgemeinen übergeht.

In letzter Zeit hat BÜHLER eine Theorie der Entstehung der Begriffe dargestellt, nach der er genau wie VOGEL die traditionelle Annahme über die Begriffsentwicklung durch die Herauslösung ähnlicher Merkmale ablehnt. Er unterscheidet zwei genetische Wurzeln der Begriffsbildung. Die erste ist die Vereinigung der Vorstellungen des Kindes zu herausgelösten Gruppen, die Verschmelzung dieser Gruppen untereinander zu komplizierten assoziativen Verbindungen, die sich zwischen den einzelnen Gruppen dieser Vorstellungen und zwischen den einzelnen zu jeder Gruppe gehörenden Elementen bilden.

Die zweite genetische Wurzel der Begriffe liegt nach BÜHLER in der Funktion des Urteils. Im Ergebnis des Denkens, eines bereits geformten Urteils, kommt das Kind zur Bildung von Begriffen. Einen triftigen Beweis sieht BÜHLER darin, daß die die Begriffe bezeichnenden Wörter beim Kinde sehr selten ein fertiges Urteil über diese Begriffe reproduzieren, wie das besonders oft im assoziativen Experiment beim Kind zu beobachten ist.

Offensichtlich ist das Urteil etwas ganz einfaches, und die natürliche logische Stellung des Begriffs liegt, wie BÜHLER sagt, beim Urteil. Vorstellung und Urteil wirken beim Prozeß der Begriffsbildung zusammen.

Also entwickelt sich der Prozeß der Begriffsbildung fast gleichzeitig von zwei Seiten her, von der Seite des Allgemeinen und von der Seite des Besonderen.

Eine wichtige Bestätigung dafür ist der Umstand, daß das erste vom Kind verwendete Wort wirklich eine allgemeine Bezeichnung ist, und daß erst relativ später spezielle und konkrete Bezeichnungen beim Kinde auftauchen. Das Kind erwirbt das Wort "Blume" früher als die Bezeichnung der einzelnen Blumen, und selbst wenn es auf Grund seiner sprachlichen Entwicklung eine spezielle Bezeichnung früher beherrschen lernt und das Wort "Rose" früher kennenlernt als die Bezeichnung "Blume", dann gebraucht es dieses Wort und wendet es nicht nur auf eine Rose an, sondern auch auf jede andere Blume, d.h., es gebraucht diese spezielle Bezeichnung als allgemeine.

In diesem Sinne hat BÜHLER vollkommen recht, wenn er sagt, daß der Prozeß der Begriffsbildung nicht in einem Ersteigen der Begriffspyramide von unten nach oben besteht, sondern daß der Prozeß des Aufbaus der Begriffe von zwei Seiten her erfolgt wie beim Tunnelbau. Allerdings steht damit eine für die Psychologie wichtige und recht schwierige Frage im Zusammenhang. Mit der Anerkennung, daß das Kind die allgemeinen und abstraktesten Begriffe eher kennenlernt als die konkreten, sind nämlich viele Psychologen zu einer Revision der traditionellen Anschauungen gekommen, nach denen sich das abstrakte Denken relativ spät, d.h. in der Pubertät entwickelt.

Von richtigen Beobachtungen ausgehend, kommen diese Autoren zu der falschen Folgerung, daß gleichzeitig mit dem Auftreten allgemeiner Bezeichnungen in der Sprache des Kindes, d.h. außerordentlich früh, auch schon abstrakte Begriffe entstehen.

Beispielsweise ist BÜHLERs Theorie so beschaffen und wir haben gesehen, daß nach dieser Theorie das Denken in der Übergangsperiode keine besonderen Wandlungen erfährt und keine bedeutsamen Neuerwerbungen erzielt.

Wir werden im nächsten Kapitel auf diese Frage näher eingehen, und möchten hier lediglich bemerken, daß der Gebrauch allgemeiner Wörter noch keineswegs eine ebenso frühe Beherrschung abstrakter Begriffe voraussetzt, denn wie wir gezeigt haben, gebraucht das Kind die gleichen Wörter wie der Erwachsene und bezieht sie dabei auch auf den gleichen Kreis von Dingen wie der Erwachsene, denkt sich die Dinge jedoch völlig anders, stellt sie sich auf andere Art vor wie der erwachsene Mensch.

Daher bedeuten die vom Kind schon früh verwendeten Wörter, die in der Sprache des Erwachsenen das abstrakte Denken in seinen abstrakten Formen vertreten, im Denken des Kindes durchaus nicht dasselbe.

Wir erinnern daran, daß die Wörter der kindlichen Sprache in ihrem gegenständlichen Bezug, nicht aber in ihrer Bedeutung mit den Wörtern der Erwachsenen zusammenfallen. Wir haben deshalb keinen Grund, einem Kind, das abstrakte Begriffe gebraucht, auch abstraktes Denken zuzuschreiben. Wie wir im folgenden zeigen werden, denkt sich ein Kind, das abstrakte Wörter gebraucht, das entsprechende Ding dabei äußerst konkret. Eines steht jedenfalls völlig außer Zweifel: die frühere Vorstellung von der Begriffsbildung, die analog der Herstellung einer Typenphotographie erfolgen soll, entspricht nicht den realen psychologischen Beobachtungen und den Ergebnissen der experimentellen Analyse.

Außer Zweifel steht auch die zweite Schlußfolgerung von BÜHLER, die in den experimentellen Ergebnissen volle Bestätigung findet. Die Begriffe haben ihren natürlichen Platz bei den Urteilen und Schlüssen, da sie als deren Bestandteile fungieren. Ein Kind, das auf das Wort "Haus" mit der Antwort "ist groß" reagiert oder auf das Wort "Baum" mit der Antwort "da hängen Äpfel dran", beweist, daß  der Begriff immer nur innerhalb der allgemeinen Struktur des Urteils  als ein untrennbarer Teil davon, existiert.

Ebenso ist das Wort nur innerhalb eines ganzen Satzes existiert und der Satz in psychologischer Beziehung beim Kind vor den einzelnen isolierten Wörtern entsteht, so entsteht auch das Urteil beim Kind vor den einzelnen daraus herausgelösten Begriffen. Daher kann der Begriff, wie BÜHLER sagt, kein reines Produkt der Assoziation sein. Das Assoziieren zwischen einzelnen Elementen ist eine notwendige, zugleich aber auch ungenügende Voraussetzung für die Begriffsbildung. Diese zweifache Wurzel der Begriffe in den Prozessen des Vorstellens und in denen des Urteilens ist nach BÜHLER der genetische Schlüssel zum richtigen Verständnis der Begriffsbildung.

Wir hatten in den Experimenten mehrfach Gelegenheit, die beiden von BÜHLER festgestellten Momente zu beobachten. Seine Schlußfolgerung, zu der er hinsichtlich der zweifachen Wurzel der Begriffe kommt, erscheint uns aber als falsch. Bereits LINDNER hat darauf hingewiesen, daß das Kind die allgemeineren Begriff relativ früh erwirbt. Es kann auch nicht bezweifelt werden, daß das Kind schon sehr früh lernt, diese allgemeinsten Bezeichnungen richtig anzuwenden.

Richtig ist auch, daß die Entwicklung seiner Begriffe nicht in Form einer regelrechten Ersteigung der Pyramide erfolgt. Wir haben im Experiment mehrfach beobachtet, wie ein Kind zu einer gegebenen Vorlage eine ganze Reihe Figuren der gleichen Bezeichnung zusammensucht und dabei die angenommene Wortbedeutung ausdehnt, wobei sie von ihm als allgemeinste, und keineswegs konkrete, differenzierte Bezeichnung verwendet wird.

Wir haben auch gesehen, wie der Begriff als Ergebnis des Denkens entsteht und seinen natürlichen Platz beim Urteil findet. In dieser Hinsicht hat das Experiment die theoretische These bestätigt, nach der die Begriffe nicht mechanisch entstehen wie eine Typenphotographie konkreter Dinge; das Gehirn arbeitet in diesem Fall nicht wie ein Photoapparat bei der Herstellung von Typenaufnahmen, und das Denken besteht nicht im einfachen Kombinieren dieser Photographien; im Gegenteil, das anschaulich und das praktische Denken entsteht lange vor der Begriffsbildung, und die Begriffe selbst sind das Produkt eines langen und komplizierten Entwicklungsprozesses des kindlichen Denkens.

Wie bereits gesagt, entsteht der Begriff im Prozeß einer intellektuellen Operation; nicht das Spiel der Assoziationen führt zum Aufbau eines Begriffs: an seiner Bildung sind alle elementaren intellektuellen Funktionen in einer bestimmten Verbindung beteiligt; dabei ist  das zentrale Moment dieser ganzen Operation  der funktionelle Gebrauch des Wortes als Mittel zur willkürlichen Lenkung der Aufmerksamkeit, der Abstraktionen, der Herauslösung der einzelnen Merkmale, ihrer Synthese und Symbolisierung mit Hilfe eines Zeichens.

Die Begriffsbildung erfolgt jeweils im Prozeß der Lösung einer Aufgabe, vor die der Jugendliche gestellt ist. Erst im Ergebnis der Lösung dieser Aufgabe entsteht der Begriff. Also ist das Problem der zweifachen Wurzel in der Begriffsbildung nach den Ergebnissen unserer experimentellen Analyse bei BÜHLER in nicht ganz exakter Form dargestellt.

Wir haben uns bemüht zu zeigen, wie die Komplexbildung oder die Verbindung einer Reihe einzelner Dinge mit Hilfe eines für eine ganze Gruppe von Dingen gemeinsamen Familiennamens in der Entwicklung die Grundform des komplexen Denkens des Kindes bildet, und wie parallel dazu die potentiellen Begriffe, denen  die Herauslösung einiger Merkmale  zu Grunde liegt, den zweiten Weg in der Entwicklung der Begriffe bilden.

Diese beiden Formen sind die wirklichen Wurzeln in der Begriffsbildung. Die von BÜHLER angegebenen Wurzeln snd nur aus folgenden Gründen scheinbare. Tatsächlich ist die Vorbereitung der Begriffe in Form assoziativer Gruppen, die Vorbereitung der Begriffe im Gedächtnis ein natürlicher, mit dem Wort nicht verbundener Prozeß und bezieht sich auf das komplexe Denken. In unseren Träumen oder im Denken der Tiere werden wir ins einzelne gehende Analogien zu diesen assoziativen Komlexen einzelner Vorstellungen finden, aber den Begriffen liegen nicht diese Vereinigungen zu Grunde, sondern Komplexe, die auf der Basis der Verwendung des Wortes geschaffen werden.

Der Fehler von BÜHLER besteht darin, daß er die Rolle des Wortes in den komplexen Vereinigungen außer acht läßt, die den Begriffen vorausgehen, und versucht, den Begriff aus der natürlichen Bearbeitung von Eindrücken abzuleiten, daß er nicht den Unterschied sehen will zwischen den im Gedächtnis entstehenden, in den anschaulichen Begriffen von JAENSCH repräsentierten Komplexen und den Komplexen, die auf Grund des hoch entwickelten verbalen Denkens entstehen.

Den gleichen Fehler macht BÜHLER auch bei der Darstellung der zweiten Wurzel der Begriffe, dem Urteil und dem Denken.

Diese Ansicht von BÜHLER führt uns einerseits zum logisierenden Standpunkt zurück, demzufolge der Begriff durch eine Überlegung entsteht und das Produkt einer logischen Erwägung ist. Wir haben aber gesehen, in welchem Maße sowohl die Entwicklung der Begriffe unserer gewöhnlichen Sprache als auch die der Begriffe des Kindes von dem durch die Logik vorgeschriebenen Weg abweicht.

Andererseits läßt BÜHLER, wenn er vom Denken als der Wurzel der Begriffe spricht, wiederum den Unterschied zwischen den verschiedenen Formen des Denkens außer acht, insbesondere den zwischen den biologischen und den historischen, den naturhaft gegebenen und den kulturbedingten Elementen, den averbalen und den verbalen Denkformen.

Wenn der Begriff aus einer Überlegung entsteht, d.h. aus einem Denkakt, dann fragt man sich, was den Begriff von den Produkten des praktischen Denkhandelns unterscheidet. Wieder vergißt BÜHLER das für die Begriffsbildung wesentliche Wort, und es wird unverständlich, wie zwei so verschiedene Prozesse wie das Urteilen und die Komplexbildung von Vorstellungen zur Begriffsbildung führen.

Aus diesen falschen Voraussetzungen zieht BÜHLER unvermeidlich auch den falschen Schluß, der darin besteht, daß das begriffliche Denken bereits dem dreijährigen eigen ist und im Jugendalter kein prinzipiell neuer Schritt getan wird.


Alltagsbegriffe eines Kindes im Schulalter

Um die zwischen der Entwicklung der wissenschaftlichen und der Alltagsbegriffe bestehenden Beziehungen zu untersuchen, muß man sich kritisch über den Maßstab klar werden, mit dessen Hilfe wir unseren Vergleich anzustellen gedenken. Wir müssen klären, wodurch die Alltagsbegriffe eines Kindes im Schulalter gekennzeichnet sind.

PIAGET hat gezeigt daß das Charakteristischste für die Begriffe überhaupt für das Denken in diesem Alter die  Unfähigkeit  des Kindes ist, bewußt die Beziehungen zu erkennen, die es aber spontan und automatisch völlig richtig anzuwenden vermag, wenn von ihm keine spezielle bewußte Einsicht gefordert wird.

Das, was jeder bewußten Einsicht in das eigene Denken im Wege steht, sei der kindliche Egozentrismus. Wie sich dieser auf die Entwicklung der kindlichen Begriffe auswirkt, ist aus einem einfachen Beispiel PIAGETs zu ersehen, der 7- bis 8jährige Kinder fragte, was das Wort "weil" in einem Satz bedeute wie: "Ich werde morgen nicht in die Schule gehen, weil ich krank bin." Die meisten antworteten: "Das bedeutet, daß er krank ist." Andere behaupteten: "Das bedeutet, daß er nicht in die Schule gehen wird." Kurz, die Kinder sind sich der Definition des Wortes "weil" absolut nicht bewußt, obwohl sie spontan damit zu operieren vermögen.

Diese Unfähigkeit zur bewußten Einsicht in das eigene Denken und die sich daraus ergebende Unfähigkeit des Kindes zur bewußten Herstellung logischer Verbindungen dauert bis zum Alter von 11 bis 12 Jahren, d.h. bis zur Beendigung des ersten Schulalters. Das Kind läßt die Unfähigkeit zur Logik der Beziehungen erkennen und ersetzt sie durch die egozentrische Logik. Die Wurzeln dieser Logik und die Ursachen der Schwierigkeit liegen in der Egozentrizität des Denkens beim 7- bis 8jährigen Kinde und in der Unbewußtheit, aus der diese Egozentrizität entsteht.

In funktioneller Hinsicht zeigt sich diese Unbewußtheit des eigenen Denkens in einer grundlegenden, die Logik des Kindes kennzeichnenden Tatsache: Das Kind läßt die Fähigkeit zu einer ganzen Reihe logischer Operationen erkennen, wenn sie im spontanen Ablauf seines Denkens entstehen, aber es ist nicht imstande, völlig analoge Operationen dann vorzunehmen, wenn nicht ihre spontane, sondern willkürliche und absichtliche Ausführung gefordert wird.

Beschränken wir uns auf nur eine Illustration, um die andere Seite der Unbewußtheit des Denkens zu beleuchten. Kinder werden gefragt, wie der folgende Satz zu vervollständigen ist: "Dieser Mann ist vom Fahrrad gefallen, weil..." Dieser Satz gelingt Kindern mit 7 Jahren noch nicht. Kinder dieses Alters ergänzen ihn oft folgendermaßen: "Er ist von seinem Fahrrad gefallen, weil er gefallen ist, und dann hat er sich wehgetan", oder "Der Mann ist von seinem Fahrrad gefallen, weil er krank war, darum hat man ihn auch auf der Straße aufgehoben"; oder "Weil er sich den Arm gebrochen hat, weil er sich das Bein gebrochen hat".

Wir sehen also, daß ein Kind dieses Alters unfähig ist, absichtlich und willkürlich eine kausale Beziehung herzustellen, während es in der spontanen, unwillkürlichen Sprache das Wort "weil" völlig richtig, sinnvoll und passend verwendet, ebenso wie es nicht imstande ist zu erkennen, daß der oben zitierte Satz den Grund für den nicht erfolgenden Schulbesuch angibt, und nicht die Tatsache des nicht erfolgenden Schulbesuchs oder die Krankheit, jedes für sich genommen, obwohl das Kind natürlich begreift, was dieser Satz besagt.

Das Kind versteht die einfachsten Gründe und Beziehungen, ist sich aber dieses Verstehens nicht bewußt. Es gebraucht das Wort "weil" spontan richtig, versteht aber nicht, es absichtlich und willkürlich anzuwenden. Also wird rein empirisch die innere Abhängigkeit dieser zwei Phänomene des kindlichen Denkens festgestellt, seiner Unbewußtheit und Unwillkürlichkeit und der spontanen Anwendung.

Diese beiden Besonderheiten stehen einerseits in engstem Zusammenhang mit der Egozentrizität des kindlichen Denkens und führen andererseits selbst zu einer ganzen Reihe von Besonderheiten der kindlichen Logik, die sich in der Unfähigkeit des Kindes zur Logik der Beziehungen äußern. Beide Phänomene herrschen bis zum Ende des Schulalters, und die in der Sozialisierung des Denkens bestehende Entwicklung führt zum langsamen Verschwinden dieser Erscheinungen, zur Befreiung des kindlichen Denkens aus den Fesseln der Egozentrizität.

Der Sinn von PIAGETs langen Erörterungen zu diesem Thema besteht kurz gesagt in folgendem, von ihm gezeichneten Verlauf der Begriffsentwicklung im Alter von 7 bis 12 Jahren. In dieser Periode sieht sich das Kind in seinen Denkoperationen ununterbrochen der Tatsache gegenüber, daß sein Denken dem der Erwachsenen nicht angepaßt ist, es scheitert dauernd und erleidet Niederlagen, die die Unhaltbarkeit seiner Logik evident machen; es stößt immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand, und die Beulen, die es sich dabei schlägt, sind, nach einem weisen Ausspruchs ROUSSEAUs, seine besten Lehrer, denn sie lassen ununterbrochen das Bedürfnis nach Einsicht entstehen, das dem Kind magisch das Sesam bewußt erfaßter und willkürlicher Begriffe öffnet.

Entsteht die höchste Stufe der Begriffsentwicklung, die mit der bewußten Erfassung der Begriffe verbunden ist, wirklich nur aus Mißerfolgen und Niederlagen? Sind das ununterbrochene  Mit dem Kopf gegen die Wand Schlagen  und die Beulen tatsächlich die einzigen Lehrer des Kindes auf diesem Wege? Ist die Tatsache, daß die automatischen spontanen Denkakte nicht angepaßt und unhaltbar sind, wirklich die  Quelle  der höchsten Formen der Verallgemeinerungen, die wir Begriffe nennen?

Man braucht diese Fragen nur zu formulieren, um zu erkennen, daß sie nicht anders als negativ beantwortet werden können. Ebenso wie es unmöglich ist, die Entstehung des Bewußtwerdens aus dem Bedürfnis danach zu erklären, ebenso unmöglich ist es auch, die Triebkräfte der geistigen Entwicklung des Kindes mit dem Scheitern seines Denkens zu erklären.

Warum sind die Begriffe des Schulkindes nicht bewußt? Diese Frage ist mit dem Problem verknüpft, wie das Bewußtsein erfolgt. Richtiger gesagt, sind es nicht einmal zwei einzelne Fragen, sondern  zwei Seiten  ein und desselben Problems:  Wie  vollzieht sich der Übergang von den nichtbewußten zu den bewußten Begriffen während des Schulalters

PIAGET leitet die Nichtbewußtheit der Begriffe im Schulalter aus der Vergangenheit ab. In der Vergangenheit herrsche die Nichtbewußtheit in viel stärkerem Maße im Denken des Kindes. Je weiter wir auf der Stufenleiter der Entwicklung herabsteigen, umso umfassender ist das nichtbewußte Gebiet. Ganz und gar nichtbewußt ist die Welt des Säuglings, dessen Bewußtheit PIAGET als reinen Solipsismus (1) charakterisiert.

In dem Maße, wie sich das Kind entwickelt, macht der Solipsismus ohne Kampf und Widerstand dem bewußtgewordenen sozialisierten Denken Platz, indem er unter dem Druck des ihn verdrängenden mächtigeren und stärkeren Denkens der Erwachsenen zurückweicht. Er wird durch den Egozentrismus des kindlichen Denkens ersetzt, der einen auf der gegebenen Entwicklungsstufe geschlossenen Kompromiß zwischen dem eigenen Denken des Kindes und dem von ihm übernommenen Denken der Erwachsenen zum Ausdruck bringt.

Die geistige Entwicklung des Kindes lehrt uns, daß dem ersten Stadium der Bewußtseinsentwicklung im Säuglingsalter, das durch Undifferenziertheit der einzelnen Funktionen gekennzeichnet ist, zwei andere folgen - die frühe Kindheit und das Vorschulalter -, von denen sich im ersteren  die Wahrnehmung  differenziert und den Weg der Entwicklung bahnt.

Diese Funktion dominiert im System der interfunktionellen Beziehungen in diesem Alter und bestimmt als beherrschende Funktion Tätigkeit und Entwicklung des gesamten übrigen Bewußtseins, während im zweiten Stadium das in diesem Alter in den Vordergrund rückende  Gedächtnis  eine solche dominierende zentrale Funktion darstellt. Also ist eine beträchtliche Reife der Wahrnehmung und des Gedächtnisses bereits an der Schwelle des Schulalters vorhanden und gehört zu den Voraussetzungen der gesamten psychischen Entwicklung dieser Altersstufe.

Zieht man in Betracht, daß die Aufmerksamkeit eine Funktion der Strukturierung des Wahrgenommenen und vom Gedächtnis Vorgestellten ist, dann wird leicht verständlich, daß das Kind bereits an der Schwelle des Schulalters über eine relativ reife Aufmerksamkeit und ein relativ reifes Gedächtnis verfügt. Es besitzt also bereits das, wessen es sich bewußt werden und das, was es beherrschen soll. Es wird also verständlich, warum die bewußten und willkürlichen Funktionen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit in diesem Alter in den Mittelpunkt rücken.

Ebenso wird auch verständlich, warum die Begriffe des Schulkindes nichtbewußt und willkürlich bleiben. Um sich irgendeiner Sache bewußt zu werden und sie zu beherrschen, muß man sie vorher besitzen. Aber der Begriff, oder richtiger der Vorbegriff, wie wir diese unbewußten und noch nicht zur höchsten Stufe ihrer Entwicklung gelangten Begriffe des Schulkindes lieber exakter nennen möchten, entsteht und reift gerade erst im Schulalter. Bis dahin denkt das Kind in allgemeinen Vorstellungen oder Komplexen.

Wenn aber diese Vorbegriffe erst im Schulalter entstehen, wäre es ein Wunder, wenn das Kind sich ihrer bewußt werden und sie beherrschen könnte, denn das würde bedeuten, daß das Bewußtsein nicht nur imstande ist, sich seiner Funktion bewußt zu werden und sie zu beherrschen, sondern auch, sie aus dem Nichts, lange bevor sie sich entwickelt haben, neu zu schaffen.

Das sind die theoretischen Argumente, die uns veranlassen, die von PIAGET vorgebrachten Erklärungen für die Nichtbewußtheit der Begriffe zurückzuweisen. Wir müssen uns aber den Ergebnissen der Untersuchung zuwenden und ergründen, was der Prozeß des Bewußtwerdens seiner psychologischen Natur nach selbst ist, um zu erklären, wie das Bewußtwerden der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses erfolgt, worin die Nichtbewußtheit der Begriffe ihre Ursache hat, auf welchem Wege das Kind sich ihrer bewußt wird und warum das Bewußtwerden und die Beherrschung zwei Seiten ein und derselben Sache sind.

Die Untersuchung zeigt, daß das Bewußtwerden ein Prozeß besonderer Art ist, den wir jetzt in den allgemeinsten Zügen darstellen wollen. Zunächst muß die Frage gestellt werden: Was heißt "sich bewußt werden"? Dieses Wort hat zwei Bedeutungen; und eben daraus, daß es zwei Bedeutungen hat und CLAPARÈDE und PIAGET die Terminologie FREUDs und der allgemeinen Physiologie verwechseln, entsteht die Verwirrung.

Wenn PIAGET von der Unterbewußtheit des kindlichen Denkens spricht, meint er nicht, daß sich das Kind nicht dessen bewußt ist, was in seinem Bewußtsein vor sich geht, daß das Denken des Kindes also unbewußt ist. Er meint vielmehr, daß das Bewußtsein am Denken des Kindes zwar beteiligt ist, aber nicht vollkommen. Am Anfang steht das unbewußte Denken - der Solipsismus des Säuglings, am Ende das bewußte sozialisierte Denken und in der Mitte eine Reihe von Etappen die PIAGET als allmählichen Rückgang des Egozentrismus und Zunahme der sozialen Formen des Denkens bezeichnet.

Jede Mitteletappe stellt einen Kompromiß zwischen dem nichtbewußten autistischen Denken des Säuglings und dem sozialen bewußten Denken des Erwachsenen dar. Was bedeutet es, daß das Denken des Schulkindes nicht bewußt ist? Es heißt, daß der Egozentrismus des Kindes mit einer gewissen Unbewußtheit einher geht und das Denken Elemente des Bewußten und des Unbewußten enthält.
LITERATUR - Lew S. Wygotski, Denken und Sprechen, Berlin 1906
    Anmerkungen
  1. Philosophische Lehre, nach der Welt für den Menschen nur in seinen Vorstellung besteht.