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WILHELM TOBIAS
Grenzen der Philosophie
[konstatiert gegen Riemann und Helmholtz,
verteidigt gegen von Hartmann und Lasker.]

[1/7]

"Liest doch nur jeder
Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde.
Ganz vergebens strebst du daher durch Schriften des Menschen
Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden;
Aber bestärken kannst du ihn wohl in seiner Gesinnung,
Oder, wär' er noch neu, in dieses ihn tauchen und jenes."


Einleitendes Vorwort

Belesene Leute muß man bereits zu belästigen fürchten, wenn man jetzt mit der Bemerkung beginnt, daß philosophische Besprechungen sich neuerdings wieder mit dem Zwang innerer Notwendigkeit geltend gemacht haben. In der Tat, seit etwa zehn Jahren ist man ganz außer Gefahr, Kaste zu verlieren, wenn man sich mit der Philosophie nicht bloß aus kulturhistorischem Interesse beschäftigt, sondern auch um ihrer selbst willen. Man braucht heute nur zu versichern, daß man weder Hegelianer ist, noch für einen Geistesverwandten gelten will, und man hat selbst als eingeständlicher Philosoph "von keiner Schule" das Existenzrecht für sich. Der "Narr auf eigene Hand" von ehedem hat jetzt Chancen, auch als Denker auf eigene Hand zu passieren. Zeuge hierfür ist nicht nur die sechste Auflage des für fachmäßig geltenden Buches "Philosophie des Unbewußten" von EDUARD von HARTMANN, nicht nur die erstaunlich weite Verbreitung von KIRCHMANNs "Philosophischer Bibliothek", sondern klassischere Zeugen sind jedenfalls die geschworenen Feinde aller unfruchtbaren Reflexion: exakte Naturforscher der physikalisch-mathematischen Schule wie HELMHOLTZ nebst zahlreichen Fachgenossen und noch mehr vielleicht ein solider Real-Politiker wie LASKER, als Verfasser der Abhandlung: "Über Welt- Und Staatsweisheit", anerkannte Vertreter also des erfolgreichen Wirkens, dessen Wert und Bedeutung gerade im Gegenteil philosophischer Spekulation wurzelt, in der Bewährung durch Empirie und durch Resultate für das praktische Leben.

Von dieser sicherlich nicht parteiisch gestimmten Seite haben sich Kundgebungen zugunsten der Philosophie im Laufe der letzten Jahre merkwürdig zahlreich eingefunden. Und da nun endlich auch in Deutschland die Weltweisheit von Profession gelernt hat, ihre Knittelbrückensprache zu renovieren; seitdem sie weiteren und weitesten Kreisen durch SCHOPENHAUER, KUNO FISCHER, F. A. LANGE, ZELLER, FORTLAGE und viele andere zugänglich geworden ist, so darf man sich wohl zu der heiteren Prophezeiung aufgelegt fühlen, daß die Zeit nicht mehr fern ist, in der man geneigt sein wird, etwa dem transzendentalen Idealismus und der nicht-euklidischen Geometrie dasselbe Bürgerrecht allgemein interessanter Gesprächsstoffe einzuräumen, und von denen man folglich "etwas wissen muß", wie es zu anderen Zeiten für die Spektralanalyse der Fall ist oder für die Belagerungskunst oder den Darwinismus und für dessen von DARWIN mehr als von Anderen anerkannte Pflege-Mutter, die soziale Frage (1).

Was bedeutet nun diese Wiedererweckung der Philosophie? Ist es die Wiedereinkehr des deutschen Geistes in seine eigenste Heimat? Oder bereitet sich der wiedergeborene Phönik für den Aufflug zu einer neuen Sonne vor? -
    "Je ernsthafter", so schreibt Michael Bernays in seiner Arbeit "Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare", "Je ernsthafter wir uns um das historische Verständnis jenes unergründlichen Vierteljahrhunderts von 1780 bis 1805 bemühen, je tiefer wir uns in die Fülle der Erscheinungen versenken, die sich uns dort entgegendrängt, umso mehr wird die Überzeugung bekräftigt, daß jede fruchtbare Tat, die damals unternommen wurde, nur zur Verwirklichung der großen Ideen dienen mußte, die sich aus der Berührung von Philosophie und Kunst erzeugt hatten. Was aber damals gedacht oder vollbracht wurde, ist zu einem Schatz gediehen, den zu hüten und tätig zu mehren uns Nachgeborenen eine der heiligsten Pflichten sein muß."
Nach den vorerwähnten Symptomen kann es scheinen, daß diese beredten Worte aus einem nicht zeitgemäß erweiterten Gesichtskreis stammen. Nicht die Poesie ist es heute vorzugsweise, welche Berührungen mit der Philosophie sucht, sondern dies geschieht gerade von den Antipoden des Phantasie-Reiches: von physikalischen und biologischen Disziplinen der Naturforschung, ja, wenn LASKER Recht hat, demnächst auch von den Staatswissenschaften. Wird also neben dem Schatz, auf welchen BERNAYS hinweist, ein zweiter fundiert werden, mit dessen Hütung und Mehrung wir eine neue heilige Pflicht auf unsere Nachgeborenen übertragen?

Das unumwundene Nein, welches mir als die richtige Antwort auf diese Frage gilt, will ich in möglichst übersichtlicher Ausführung zu motivieren suchen, vorher aber sagen, was mich zu der Äußerung meines Pessimismus bewegt.

Als nach dem Krieg 1866 aus der bis dahin ungeteilten Fortschrittspartei in Preußen der Nationalliberalismus geboren wurde, und als es Manchem so vorkam, als wäre eine ansehnliche Anzahl Menschen von einer epidemischen Gesinnungsmauser befallen worden, da gab es unter den nicht mitfortgeschrittenen Demokraten des so plötzlich veralteten Schlages nur wenige, die nicht gleich mir in den für Philosophen ganz unwürdigen Zustand des alleräußersten Erstaunens geraten waren. Wir wurden natürlich sehr bald "erkannt" als schablonenhafte Doktrinäre und Schematiker, als träumende oder konstruierende Idealpolitiker vom grünen Tisch, als kritiklose und erfahrungsarme und folglich nicht zu belehrende Prinzipienreiter und politische Dilettanten, mitunter auch "entlarvt" als verbissene Umstürzler und Fanatiker von mehr diabolischem Kaliber für's Vaterland. Unter diesen meinen Parteigenossen von damals blieben, wie gesagt, nur wenige unverwundert, nämlich vorzugsweise die grundsätzlichen Propheten, wie sie in allen möglichen Urteilsregionen vorkommen, dieselben, welche noch zu siebzig Jahren altklug sind, vielleicht weil sie, nach einem Ausdruck JEAN PAULs, "schon als Kinder kindisch" waren. Den Anderen aber wollte das nil admirari [nichts anstaunen - wp] namentlich bei einzelnen Personen auf keine Weise gelingen, mochten sie sich über "die Million" auch noch so bald orientiert fühlen.

Sehr nachträglich erst ging es mir auf, wie wenig ich den Sinn des Spruches von KEMPIS erfaßt gehabt hatte: occasiones hominem fragilem non faciunt, sed qualis sit, ostendut: tentatio aperit, quid sumus. (2) Und mit wenig schmeichelhaften Empfindungen, aber mit desto größerer Bewunderung fremder Überlegenheit las ich dann die hier anzuführenden Worte in der Schrift von HEINE über BÖRNE, welche bekanntlich wegen ihrer boshaften und niedrig persönlichen Tendenz nicht gerade geeignet ist, Sympathie für den Autor zu erregen, die aber durch diese Stelle von seiner illusionsfreien Menschenkenntnis ein rühmliches Zeugnis abgibt.

Nachdem er vom Gegensatz zwischen einem "beschränkten Teutomanismus" auf dem Wartburgfest und dem freieren Geist, der das Hambacher Fest beherrscht hat, gesprochen hat, wendet er sich gegen das Vorurteil, daß "die dunklen Narren, die sogenannten Deutschtümler ganz vom Schauplatz verschwunden" sind und fährt dann fort:
    "Die Wissenden unter den Liberalen verhehlten einander nicht, daß ihre Partei, welche den Grundsätzen der französischen Freiheitslehre huldigte, zwar an Zahl die stärkere, aber an Glaubenseifer und Hilfsmitteln die schwächere ist. In der Tat, jene regenerierten Deutschtümler bildeten zwar die Minorität, aber ihr Fanatismus, welcher mehr religiöser Art war, überflügelte leicht einen Fanatismus, den nur die Vernunft ausgebrütet hat; ferner stehen ihnen jene mächtigen Formeln zu Gebote, womit man den rohen Pöbel beschwört; die Worte Vaterland, Deutschland, Glauben der Väter usw. elektrisieren die unklaren Volksmassen noch immer weit sicherer als die Worte: Menschheit, Weltbürgertum, Vernunft der Söhne, Wahrheit ...! Ich will hiermit andeuten, daß jene Repräsentanten der Nationalität im deutschen Boden weit tiefer wurzeln als die Repräsentanten des Kosmopolitismus, und daß letztere im Kampf mit jenen wahrscheinlich den Kürzeren ziehen, wenn sie ihnen nicht schleunigst zuvorkommen ... durch die welsche Falle."
Im letzten "wenn nicht" verrät sich nun freilich wieder die unverbesserliche Schwärmerei, die gemütliche Anwandlung von dem hold-verhängnisvollen Glauben an die Möglichkeit einer sogar akuten Weltverbesserung, nämlich einer mehr als scheinbaren, einer innerlichen Umänderung von Majoritäten durch heroisches Beginnen, aber trotzdem konnte ich die probate Stelle nicht ohne Neid lesen. Wieviel bittere Enttäuschungen müssen einem Mann erspart geblieben sein, dessen klarer und weitreichender Blick nicht zu blenden war durch das brillante Licht der mit einmütigem Pathos überall zur Schau getragenen Partei-Farbe! Ach, wer doch auch so rechtzeitig zu den "Wissenden" unter den Liberalen" gehört hätte, oder wer doch wenigstens jetzt mit Sicherheit dazu gehört! - Und wie wird man wohl ein Wissender? -

Der wohlwollende Leser billigt es, daß ich dieser Frage nicht lange nachhänge, aber als Menschenkenner ist er schon darauf gefaßt, den Aufwerfer von derlei Fragen bald um andere unergiebige Probleme bemüht zu finden. - O, wie wahr! -

Aber von jetzt an hört er auf, der Menschenkenner nämlich, die Höhe der Situation zu behaupten, sobald er etwa auch den Beleg gelten läßt, den ich für meine Akklamation [Zustimmung - wp] anführe. Denn das Problem, welches ich unergiebig nenne, und das mich vor und nach 1866 beschäftigt hat, ist gerade die Quelle, aus welcher jenes Lob herfließt, dem die Philosophie ihr neu erstandenes Ansehen verdankt: es ist das Problem, in der Philosophie exakt zu sein, oder auch - was nur dem Lehrgang nach davon verschieden ist, für das Resultat aber identisch damit - das exakte Wissen zur Philosophie zu steigern.

Würde mich vor vielen Jahren jemand von der Unergiebigkeit dieses Problems überzeugt haben, so wäre mir manche Arbeit erspart geblieben, deren spezifisch exakte Natur mit sehr widerstrebte und die ich nur mit starkem Selbstzwang überwinden konnte. Denn nicht aus Freude an der Mannigfaltigkeit der Untersuchungen selbst, nicht aus Interesse für den Sinnreichtum der angewendeten Experimente, sondern aus unrichtiger Schätzung ihres Wertes für die psychologische und ästhetische Aufklärung hatte ich die Bekanntschaft mit den Arbeiten gesucht, welche in neuer Zeit ein Grenzgebiet anbauen zwischen Physik und Physiologie auf einer Seite und Philosophie auf der anderen, wie z. B. die Psychophysik von FECHNER, HELMHOLTZ' Lehre von den Tonempfindungen, einzelne Teile der Optik desselben Autors, mehrere Arbeiten von CLASSEN, WUNDT und anderen Forschern der beobachtenden und rechnenden Schule.

Zu derselben Zeit also, in welcher mir fast unisono mit dem Donner des Krieges und nicht weniger gewaltig eindringend sehr praktische Lehren der empirischen Psychologie zuteil wurden, zu eben derselben Zeit war ich in der theoretischen Psychologie noch von starken Jllusionen befangen, und von diesen wurde ich nicht durch eine schnell erlösende Krisis frei, wie sie sich nach der aufklärungsreichen Siegeswoche von 1866 einstellte, sondern vielmehr durch eine Lysis, durch einen nur allmählich zustand kommenden Übergang aus einem Zustand in den andern.

Es unterscheiden sich aber diese beiden Wandlungen nicht bloß quantitativ wie in der Pathologie. Die Anschauung vom Gesinnungsgehalt bestimmter mitlebender Menschen ist schlechterdings nur durch eine selbsterlebte Erfahrung zu erwerben; denn leider oder oftmals auch glücklicherweise gibt es ja im Gebiet der Menschenkenntnis selbst für die konstantesten und deutlichsten Allgemeinerscheinungen kein ebenso konstantes und deutliches Ankündigungsmerkmal im besonderen Fall. Daß eine Unternehmung, für deren Motive im Anfang das allgemeinste Verdammungsurteil festgestanden hat, nachträglich eine nicht viel weniger allgemeine Sanktion durch das Faktum des Gelungenseins erhält, - um das zu wissen, bedarf es weder der Geschichtsforschung, noch auch einer mehr als fast unvermeidlichen Menschenkenntnis: LOUIS NAPOLEONs Staatsstreich war wohl mindestens für sämtliche Nichtfranzosen von unbestreitbarer Belehrungskraft. Aber in welchem Grad spezielle Individuen in einer speziellen Beziehung zur Menge gehören oder nicht, das wird doch immer nur durch ein arbiträres [willkürliches - wp] Gutachten ohne klare Kriterien vorher zu bestimmen sein. Daß z. B. außer den regierungsgewaltigen Personen, deren Menschenkenntnis eines HEINE nicht bedurfte, um den Ausbreitungsbezirk der Menge richtig abzuschätzen, daß außer diesen Wenigen, ja vielleicht außer Einem, auch im Publikum noch viele Hellsehr in der Lage gewesen wären, um auch die inneren Ergebnisse des deutschen Krieges zu divinieren, das wird man solange bezweifeln dürfen, bis objektive Beweisstücke dafür vorliegen werden. Und ob selbst von den Regierungsgewaltigen der Hebelarm so richtig wie von HEINE in der angeführten Stelle unterschieden und taxiert war, jener Nationalitätshebel, an welchem dieses Mal der Erfolg so wirken konnte, daß gleichmäßig die offiziellen Spitzen der Kultur und viele der engagiertesten Träger der herrschend gewesenen "Gesinnung" ergriffen wurden, auch das dürfte wohl nachträglich schwer zu ermitteln sein. Die Prophezeiung HEINEs würde aber sicherlich, auch wenn sie noch so verbreitet gewesen wäre, niemanden eine Enttäuschung erspart, noch weniger am Lauf der Ereignisse Etwas geändert haben.

Anders nun als mit der Kenntnis von Menschen verhält es sich mit der Beurteilung von Problemen. Während ein chronisch gewordener Fehler der Menschenkenntnis nur durch Erfahrung aufzudecken ist, kann ein lediglich in der Begriffsbildung wurzelnder Irrtum, wie er doch in jedem wissenschaftlich unrichtigen Problem vorliegt, durch rein intellektuelle Mittel allerdings bei Einzelnen radikal beseitigt werden. So wurde nach HELMHOLTZ durch eine bloße Korrektur der Fragestellung der große Schritt getan, der zur Entdeckung des Gesetzes von der Äquivalenz der Kräfte geführt hat, und es war somit die Unrichtigkeit des Problems von einem perpetuum mobile gewesen, wodurch die wichtige Reform in der exakten Naturforschung Jahrhunderte lang unmöglich geblieben war. Es besteht eben zwischen den beiden angegebenen Sphären derselbe Gegensatz wie zwischen Praxis und Theorie; jene verlangt Kenntnis, diese Erkenntnis, jene ein Verstehen im Sinne von Können und Tun, diese ein Wissen im Sinne von Verständnis und Einsicht.

Nun ist zwar die richtige Theorie nichts Anderes als die zum Bewußtsein gebrachte Wirklichkeit. Es kann aber wegen unabhänderlich gegebener Bedingungen von der allermeisten Praxis immer nur ein sehr kleiner Teil dem Bewußtsein zugänglich werden, und daher gibt es nur für sehr weniges menschliche Tun eine dem Handelnden gegenwärtige Theorie. Überall, wo von Übung die Rede sein kann, da ist das bei weitem Meiste in unserem praktischen Verhalten der Herrschaft des klaren Bewußtseins entzogen. Daß man aber ohne Übung in der Menschenbeurteilung fehlt gehen muß, darf wohl als zugestanden gelten. Ich habe den Begriff der Übung durch erworbene Reflextätigkeit definiert und meine daher, daß auch bei der Bewährung von Menschenkenntnis in jedem speziellen Fall sehr viel zu den von LOTZE so genannten "vorgearbeiteten Effekten" gehört, deren Verlauf nicht vom Bewußtsein beaufsichtigt wird.

Für Kenner von HARTMANNs "Philosophie des Unbewußten" kann hier die Vermutung nahe liegen, daß ich, bewußt oder unbewußt, im Begriff bin, der, mit Erlaubnis, neuen Lehre Vorschub zu leisten. Nun halte ich aber aus später anzugebenden Gründen das Neue an dieser Lehre für das Produkt eines so groben Unfugs, wie er nur jemals von der betriebsamen Munterheit eines JULIAN SCHMIDT oder ADOLF STAHR oder LUDWIG BÜCHNER mit Wissenschaft und Logik verübt wurde; und so sehr ich auch in manchen für den Pessimismus eintretenden Partien von HARTMANNs Buch der Gesinnungsgenosse des Autors bin, und so sehr ich namentlich auch dem Satz zustimme: "Die Konstitution als Mittelding von Monarchie und Republik ist nichts als eine ungeheure offene Lüge" (zweite Auflage, Seite 310, fünfte Auflage, Seite 338), so muß ich doch von diesem Werk im Ganzen überzeugt sein, daß es sehr dazu geeignet ist, um unklare Köpfe noch unklarer zu machen, ganz abgesehen selbst von dem ausgezeichneten Unsinn, welchen der Autor über naturwissenschaftliche Dinge Preis gegeben hat, und der an einzelnen Stellen den Eindruck erweckt, daß der Philosoph das Opfer einer burschikosen Mystifikation geworden ist - denn aus welcher ernst gehaltenen Publikation neuerer Zeit oder von welchem nüchtern redenden Sachverständigen kann er Nachrichten her haben wie die in der später nachfolgenden Besprechung zitierte, welche den Ersatz der Nierentätigkeit betrifft, und welche Nachricht daselbst nur als ein Beispiel unter vielen ähnlichen ausgewählt ist!
    "Daß doch" - so schreibt Goethe am 14. Mai 1795 an Schiller - "daß doch der Genius, der dem Philosophen vor aller Erfahrung beiwohnt, ihn nicht auch zupft und warnt, wenn er sich bei unvollständiger Erfahrung zu prostituieren Anstalt macht."
Nun, für den Anhänger eines derartigen Genius wissenschaftlicher Orgien wünsche ich auch nicht vorübergehend gehalten zu werden, und deshalb nehme ich an dieser Stelle Gelegenheit zu zeigen, daß das Unbewußte, von dem ich oben gesprochen habe, durchaus unabhängig ist von Herrn von HARTMANNs Doktrin und keineswegs eine besonders zugerichtete Bedeutung beansprucht. Zu diesem Zweck zitiere ich hier den auch ohne diese Veranlassung hergehörigen Schluß eines Aufsatzes, welchen ich sieben Jahre vor der ersten Auflage von HARTMANNs Buch veröffentlicht habe; er ist betitelt: "Über den Wohnsitz der Seele" und steht im zweiten Band der "Deutschen Jahrbücher für Politik und Literatur" (Berlin 1862). Dort heißt es:
    "Durchmustern wir unsere gewöhnlichen Tätigkeiten und all die mannigfaltigen Situationen, in welche uns der stete Wechsel des täglichen Lebens bringt, so werden wir kaum eine unter allen auffinden, welche uns die konstatierte, arge Beschränktheit des Bewußtseins zur Anschauung brächte. Wir gehen einen gewundenen Weg durch belebte Straßen und kommen nicht minder sicher an einen bestimmten Ort, wenn unterdessen eine vielfach wechselnde Gedankenreihe uns beschäftigt hat; gleichzeitig lenkte unser Wille jeden Schritt, und unsere Aufmerksamkeit hat tausend Dinge mit Auge und Ohr wahrgenommen, um Gefahren und Kollisionen zu vermeiden, ja die Erinnerung an Gesehenes und Gehörtes bezeugt außerdem, daß nebenher noch vielfach andere Eindrücke zu unserem Bewußtsein gelangt sind. Nach einer Oper zeigt uns der vielseitige Rezensent, daß es ihm möglich gewesen ist, nicht nur den Inhalt, sondern auch die Ausführung der oft nicht wenig komplizierten Musik, mitunter wohl auch die gesungenen Worte zu beachten und zu verstehen, während zugleich eine prüfende Teilnahme an der dramatischen Entwicklung vorhanden war und außerdem mit kritischen Sinnen Mimik, Gestalt, Maske, Nuancen des Vortrags bei den einzelnen Personen und der ganze Apparat der Aufführung in das Bewußtsein aufgenommen wurden. Das macht die Übung, hört man wohl bei gelegentlicher Erwähnung solcher Wunder erklärend angeben. Befragt man dagegen den Zeichner, den Mikroskopiker, den Schützen oder den Klavierstimmer, den Kapellmeister, so erfährt man, daß sie alle schließlich darin übereinstimmen, es sei ihnen Nichts schwerer, als unter einer Mehrzahl von Sinneseindrücken eine einzelne, spezielle Erregung recht scharf mit dem Bewußtsein auszusondern und für die Erinnerung festzuhalten. Die Übung also wirkt umso weniger erleichternd, je konzentrierter die Bewußtseinstätigkeit erforderlich ist, doch kommt es glücklicherweise eben nur bei ganz speziellen Tätigkeiten dazu, daß eine so strenge Forderung an das Bewußtsein ergeht; vielmehr ist es meistens gerade ein sehr ausgebreitetes Feld von Kombinationen, welchem sich das Bewußtsein zuzuwenden hat, und jene Fähigkeit, die Anregung der verschiedenen Nerven rasch aufeinander folgen zu lassen, erscheint für die Ausübung leichter, als die Konzentration der Erregung auf einen bestimmten Punkt. Unter dem Begriff Übung können wir nun nicht wohl etwas Anderes verstehen als erworbene Reflextätigkeit. Wenn wir in stets erneuter Wiederholung immer dieselbe Reihenfolge von Nervenerregungen in uns entstehen lassen, so werden die gesetzmäßigen Bahnen, innerhalb deren diese Erregungen verlaufen, wegsamer, leichter zugänglich, und während im Anfang das Bewußtsein den ganzen Verlauf einer Erregung beaufsichtigt hat, wird, proportional der Häufigkeit des Vorgangs, ein solcher Verlauf zu einem jener vorgearbeiteten Effekte", von denen Lotze spricht. Nur daraus ist es ja z. B. erklärbar, wie wir bei ganzer Vertiefung in den Inhalt dessen, was wir schreiben, so ohne Mühe, so von selbst die sehr minutiösen Muskeltätigkeiten beherrschen, welche zu der richten Führung der Feder erforderlich sind. Der Einzelne hat zwar die Mühe vergessen, welche das Erlerner von Sprechen und Gehen ihm verursacht hat, aber die Beobachtung kann jeden davon überzeugen, daß gerade beim Beginn dieser Tätigkeiten die Bewußtseinsentwicklung merklich beteiligt ist. Wir stellen gewöhnlich an uns und Andere die Forderung, nur dasjenige zum Gegenstand der Verantwortlichkeit zu machen, was wir dem Bewußtsein zuschreiben dürfen. Und mit Recht wird diese Forderung als eine der wesentlichsten Grundlagen sozialer Existenz stets aufrecht erhalten, nur sollten wir uns mehr darüber klar werden, in wie weit wir die Vergangenheit eines Menschen oder seine Gegenwart zur Rechenschaft ziehen. Bedenken wir aber, wie unter allen Äußerungen des "fertigen" Menschen der bei Weitem größte Anteil jenen erworbenen Reflexvorgängen zukommt, von denen zwar das Bewußtsein nicht immer ausgeschlossen ist, an denen es sich aber meistens mit sur sehr geringer Intensität beteiligt, so gelangen wir auch physiologisch zu dem Schluß, daß in der Tat in überwiegendem Maße der Mensch das Produkt der Verhältnisse ist.

    Fassen wir alles Gesagte zusammen, so ergibt sich daraus die Erkenntnis, daß sowohl die Organe unseres Bewußtseins im ganzen Organismus als auch die Betätigungen dieser Fundamentalkraft unseres geistigen Wesens innerhalb der Gesamtheit aller Lebensvorgänge einen überaus winzigen Bruchteil darstellen, und umso mehr werden wir von Bewunderung erfüllt, wenn wir erwägen, wie weit reichend und mächtig die Wirkungen sind, welche die Natur durch die engumgrenzte und gesetzmäßige Tätigkeit eines mikroskopischen Apparates zu entfalten weiß.

    Ist das Zugeständnis dieser Tatsachen in manchen Augen ein demütigendes für die Krone der Schöpfung, so kann es doch durch seine Folgerungen auch dazu beitragen, sowohl unsere Stimmung gegen widerstrebende Menschennaturen zu mildern, als auch vor Täuschungen zu bewahren, welche uns bereitet werden, wenn wir durch Mittel, die das reine Bewußtsein zum Angriffspunkt nehmen, auf das Verhalten entwickelter Menschen einzuwirken versuchen."
Daß ich im Lauf der zwölf ereignisreichen Jahre, welche zwischen diesen und meinen heutigen Worten liegen, vom "Verhalten entwickelter Menschen" wesentlich anders zu denken gelernt habe, das wird man mir nach allem Vorangestellten nicht zutrauen. Ich werde mich daher in keiner Weise enttäuscht fühlen, wenn ich von der Opposition, mit der ich hier hervortrete, nicht den geringsten Erfolg werde wahrzunehmen haben. Denn eine mathematische Evidenz ist freilich durch die Natur des Gegenstandes ausgeschlossen, und da es nicht einmal jenen erfolgreichen Entdeckern des Äquivalenzgesetzes gelungen ist, im Laufe von nunmehr dreißig Jahren und darüber das Suchen nach dem perpetuum mobile zum Verschwinden zu bringen, so habe ich hinreichenden Grund, mich vor Jllusionen über die Tragweite meiner Darlegung sicher zu fühlen. Überdies ist mir die Macht der Mode auch in rein geistigen Bestrebungen nicht unbekannt, und es ist eben zur Zeit Mode, die Philosophie in einem Sinn "anzuerkennen" und hoch zu stellen, durch welchen sie nach meiner Auffassung erniedrigt und entseelt wird. Die überwundenen Hegeleien trägt man ihr nicht mehr nach, sondern aufgrund unverdächtiger Empfehlungen rühmt man auch ihr Früchte des Erkenntnisbaumes an, deren Genius nicht mehr illegitim ist, deren Geschmack vielmehr dem Zeitgeist entspricht, da der Besitz dieses - beiläufig "spezifisch deutschen" - Produkts erst recht konkurrenzfähig macht auf dem Markt des Lebens; denn hier gerade hat der echte Erkenntnisbaum seine alleinigen Wurzeln, und so hat auch die Praxis wieder das erste Anrecht auf seine Nutznießung. Ich spiegle mir also, wie gesagt, nicht vor, den Anpreisern der Philosophie in diesem Sinne den Boden ihrer Wirksamkeit streitig machen zu können.

Vielmehr wende ich mich an eine überall verschwindend kleine und zu allen Zeiten zur Machtlosigkeit während ihres Lebens prädestinierte Menschengattung, zu deren vielen negativen Merkmalen auch dies gehört, daß man sich über den ihr gebührenden Namen niemals geeinigt hat. Denn mit aller Art von organisiertem oder auch nur organisierungsfähigem Parteiwesen religiöser oder politischer Gattung sowie mit irgendeiner Berufs- oder Gesellschaftsklasse haben die hier Gemeinten schlechterdings Nichts zu schaffen; vielmehr finden sie sich ohne allen äußeren Verband in den unvereinbarsten Partei- und Sozietätsstellungen zerstreut vor, und durch Statistik kann leider niemals ihre Verhältnisziffer zur Gesamtbevölkerung ermittelt werden; denn die Manifestationen ihres Daseins sind ungefähr so unberechenbar wie die von irgendwie abalienierten [an den Rand gedrängten - wp] Personen und mit diesen Kranken werden sie daher auch wirklich zuweilen verwechselt, - eine Erfahrung, für welche aus neuer Zeit eine besonders instruktive Probe zur Kenntnisnahme von Jedermann vorliegt in dem "zur Abwehr" überschriebenen Anhang zur zweiten Auflage von ZÖLLNERs Buch "Über die Natur der Kometen" (Leipzig 1872). Doch geschieht freilich eine solche Verwechslung der Uniformlosen nicht leicht von ihres Gleichen, sondern meist von einer Gattung von Beurteilern, welche in einem gewissen spezifisch weltmännischen Sinn als "die Gesunden" bezeichnet werden. Aber "problematische Naturen", an welche man bei einer solchen Gelegenheit leicht erinnert wird, sind jene Ersten dennoch nicht; denn für sie gehört ja als eine Erfordernis nach GOETHE "der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt", während den Hierhergehörigen gerade im Gegenteil die Kraft zur inneren Realisierung des dauerhaftesten, nur mit dem Bewußtsein zugleich verlierbaren Glücks vindiziert wird.

Ist aber Etwas durch sein direktes Widerspiel zu charakterisieren, so könnte es hier durch den Hinweis auf das unsterbliche und großmächtige Geschlecht der Snobs geschehen, von welchen einige Haupttypen durch die Meisterhand THACKERAYs in seinem "Book of Snobs" so lebenswahr porträtiert sind. Zum allgemeinen Signalelement des Snob reicht die Bestimmung aus, daß es jeder ist, "who meanly admires mean things" [der gezielt üble Dinge bewundert - wp]: der in niedriger Weise hochschätzt, was niedrig ist. Nun ist allerdings niedrig ein sehr relativer Begriff, und es wird immer dem besonderen Fall vorbehalten bleiben, die Diagnose auf Snobismus zu stellen. Gewissenhaft kann folglich Jeder auch nur von Snobs in seinem Sinne sprechen, - aber wer wäre Stoiker genug, um nicht ganze Scharen von Snobs aus der Welt zu wünschen!

Nun, wenn es wahr ist, daß es in großen Dingen schon genügt, gewollt zu haben, so werden die Manen [gute Geister eines Toten - wp] THACKERAYs die Zeichen meiner Andacht, welche ich frommen Sinnes ihrem Altar darbringe, huldvoll genehmigen. Denn gewollt habe ich nichts Geringeres, als der übergewaltigen, der nimmer besiegbaren Streitmacht der Snobs so viele unsichere Heerespflichtige abspenstig machen, als von meiner schwachen Stimme irgendwie erreicht werden; - nur an die raten Vögel kann ich ja denken, welche nicht aus innerem Beruf, sondern aus jugendlich unbedachter Unterwerfung unter die Tradition im Begriff sind, sich ihrem Snobhäuptling zuzuwenden. Im Übrigen lehrt mich DON VINCENCO de LASTANOSA: "Dem Gerechten keine Gesetze, und dem Weisen keine Ratschläge" und GOETHE:
    "Liest doch nur jeder
    Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
    In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde.
    Ganz vergebens strebst du daher durch Schriften des Menschen
    Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden;
    Aber bestärken kannst du ihn wohl in seiner Gesinnung,
    Oder, wär' er noch neu, in dieses ihn tauchen und jenes."

LITERATUR - Wilhelm Tobias, Grenzen der Philosophie, Berlin 1875
    Anmerkungen
    1) In Betreff der nicht-euklidischen Geometrie dürfte Vielen die Prophezeiung am Meisten gewagt erscheinen; zur Rechtfertigung führe ich hier eine Stelle aus einem populären Artikel an, welcher mir einige Monate, nachdem ich die obigen Worte geschrieben habe, zu Gesicht kommt. Das in London erscheinende Wochenblatt "Public Opinion" enthält in der Nr. 642 von 10. Januar 1874 einen Aufsatz aus "Saturday Review", überschrieben: "Modern fairy tales"; daselbst lautet die betreffende Stelle: "Wenn die kühne Einbildungskraft der Geometer der engen drei Dimensionen des wahrnehmbaren Raumes spottet, oder wenn sie eine Welt konstruiert, in welcher Parallellinien aufeinandertreffen und das Mögliche und das Unmögliche der gewöhnlichen Mathematik ihre Stellen miteinander vertauschen, so ist Poesie in solcher Verwegenheit und Mr. Sylvester hat ein- oder zweimal mit unwiderstehlicher Beredtsamkeit auf den poetischen Charakter der höheren Geometrie hingewiesen."
    2) "Durch äußere Veranlassungen wird die Schwäche des Menschen nicht bewirkt, sondern in ihrer Beschaffenheit an den Tag gelegt: die Versuchung macht nur offenkundig, was wir sind."