tb-2ra-2 Die Wissenschaft und die TatZur Psychologie der logischen Grundtatsachen    
 
HEINRICH GOMPERZ
Über den Begriff
des sittlichen Ideals

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"Wie leicht glauben wir einzusehen, daß das Streben nach Selbstbehauptung im Wesen des Menschen als eines auf Kampf und Macht angewiesenen Lebewesens begründet ist und daß deshalb jedes Sichaufgeben eine Abweichung vom natürlichen Typus in sich schließt? Wie leicht aber glauben wir andererseits, daß das Individuum in seiner Vereinzelung nichts bedeutet, daß es somit nur in seiner Hingabe für Familie, Volk, Menschheit seine natürliche Bestimmung erfüllt, daß also jedesmal, wenn sich ein Mensch als Selbstzweck und nicht als dienendes Glied eines größeren oder kleineren Kreises betrachtet, eine Abweichung von seiner normalen Bestimmung stattfindet?"

Hochansehnliche Versammlung!

Ich habe Sie eingeladen, mit mir einige Betrachtungen über den Begriff des sittlichen Ideals anzustellen. Allein diese Kennzeichnung des Gegenstandes dürfte in Ihnen eine Erwartung erweckt haben, die ich gleich von Anfang an enttäuschen muß. Ich bin nicht hierher gekommen, um Ihnen zu sagen, was das sittliche Ideal ist, oder was es sein soll: ob es in die größtmögliche Liebe zu unseren Nebenmenschen, oder in die größtmögliche Herrschaft der Vernunft über die Begierden, oder in die größtmögliche Entfaltung über die Begierden, oder in die größtmögliche Entfaltung unserer Anlagen und Kräfte, oder in was es sonst zu setzen sei? Ich habe nicht die Absicht, Sie zum Nachdenken über diese Fragen anzuregen - und ich kann diese Absicht nicht haben. Aus einem sehr einfachen Grund. Die Vorträge, zu denen der heutige gehört, sind dazu bestimmt, Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung einem weiteren Kreis zu vermitteln. Aber die eben erwähnte Frage kann durch wissenschaftliche Forschung nicht gelöst werden. Die Wissenschaft kann nichts anderes tun als Tatsachen feststellen: einzelne Tatsachen sowohl als auch Zusammenhänge zwischen Tatsachen. Wissenschaftliche Fragen sind also Fragen nach dem, was  ist Aber die Frage nach dem Inhalt des sittlichen Ideals ist eine Frage, nicht nach dem, was ist, sondern nach dem, was sein  soll.  Und eine solche Frage kann die Wissenschaft nicht beantworten. Sie kann feststellen, wie die Menschen zu handeln pflegen, sie kann auch das Gefühl des Sollens als Tatsache konstatieren und analysieren, aber sie kann in keiner Weise einem Menschen, der anders handeln will, der andere Folgen in den Kauf zu nehmen entschlossen ist, der auf sein Gefühl keine Rücksicht nimmt, beweisen, daß er nicht so handeln dürfe, daß er jene Folgen nicht bewirken solle, daß er diese Rücksicht nehmen müsse. Dieses negative Ergebnis ist so klar und an so vielen älteren und neueren philosophischen Versuchen bewährt, daß ich Sie ruhig auffordern kann, jede Versicheerung - sie möge nun mit den ältesten oder den modernsten Begriffen, mit Gott oder mit Entwicklung, mit Pflicht oder mit Glück operieren - es sei endlich gelungen, die Sittenlehre auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, das sittliche  Sollen  zu  beweisen,  von vornherein als falsch und trügerisch zu betrachten. Die Wertschätzung dessen, was getan werden und überhaupt dessen, was sein sollte, d. h. des sittlichen Ideals, wird allezeit abhängig bleiben von angeborenen und anerzogenen Gefühlsweisen, von unseren Erlebnissen, von den Deutungen, die wir diesen zuteil werden lassen, vom Verhlaten, das wir ihnen entgegensetzen, kurz von jener Lebensstimmung, die entweder in einer bloßen "Weltanschauung" oder in einer ausgestalteten "Religion" ihren Ausdruck findet - und sie wird sich eben deshalb zu allen Zeiten einer für alle Menschen in gleicher Weise gültigen, wissenschaftlichen Demonstration entziehen.

Sie werden nun fragen, geehrte Anwesende, was uns denn nun als Gegenstand unserer heutigen Betrachtungen übrig bleiben könne, wenn der Inhalt des sittlichen Ideals von ihnen ausgeschlossen werden soll? Ich erwidere: es bleibt uns dann noch die Form des sittlichen Ideals übrig, d. h. die Tatsache, daß Menschen, die über das,  was  sein soll, der verschiedensten Meinung sind, doch darin übereinstimmen,  daß  etwas sein soll, und daß sie insbesondere diese ihre Meinungen darüber, wie der Mensch eigentlich beschaffen sein sollte, in jener eigentümlichen Weise verkörpern, die wir ein sittliches Ideal zu nennen pflegen. Wenn Ihnen vielleicht diese Weise auf den ersten Blick gar nicht so eigentümlich, sondern ziemlich selbstverständlich vorkommt, so liegt das wohl nur daran, daß Sie eben an die bestehenden Tatsachen gewöhnt sind; aber wenige Bemerkungen werden genügen, um Sie davon zu überzeugen, daß der Begriff des sittlichen Ideals in der Tat - auch abgesehen von seinem Inhalt - höchst merkwürdig, und einer näheren Betrachtung in hohem Maße würdig ist. Drei Umstände sind es vor allem, auf die ich, um Ihnen dies zum Bewußtsein zu bringen, Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte: drei Umstände, deren Paradoxie vielleicht am besten hervortritt, wenn wir sie zunächst in kurzen Sätzen ausdrücken. Zunächst also: jedes der vielen, nebeneinander bestehenden und voneinander sehr verschiedenen sittlichen Ideale erhebt den Anspruch auf allgemeine und alleinige Geltung. Sodann: der ideale Mensch wird gedacht als der normale Mensch, obwohl er von jenem Normaltypus, den uns die Erfahrung zeigt, weit entfernt ist. Und endlich: wir verwenden das sittliche Ideal als Maßstab für den sittlichen Wert der wirklichen Menschen, ohne Rücksicht darauf, ob es jemals verwirklicht worden ist, oder auch nur verwirklicht werden kann. Gestatten Sie mir nun, diese drei Punkte etwas näher auszuführen: die beiden ersten, mit allgemeineren Fragen zusammenhängenden, nur kurz berührend, beim dritten, für das sittliche Ideal insbesondere charakteristischen, etwas länger verweilend.

Ich sagte also zunächst: jedes der vielen und verschiedenen sittlichen Ideale erhebt den Anspruch auf alleinige und allgemeine Geltung. Die Erfahrung zeigt uns, sowohl als Welterkenntnis in der Gegenwart, wie auch als Geschichte in der Vergangenheit, daß es Menschen gibt und gegeben hat, für die das sittliche Ideal in der Beherrschung, Überwindung und Abtötung der Leidenschaften und Begierden besteht - man spricht dann von asketischen Idealen; und daneben andere, denen als Ideal die volle Entfaltung aller Kräfte, das "Ausleben" aller Anlagen vorschwebt. Sie lehrt uns ein Ideal der demütigen Selbsthingabe, und daneben ein solches der stolzen Selbstbehauptung kennen. Es scheint also, als könnten diese Ideale nur darauf beruhen, daß bald mit der Vorstellung des einen, bald mit der des anderen Typus gewisse Gefühle der Befriedigung, Bewunderung, Begeisterung verknüpft sind - daß, mit anderen Worten, alle diese Ideale lediglich subjektive Bedeutung haben. Allein das ist jedenfalls nicht der Gesichtspunkt, von dem aus sich diese Ideale für diejenigen darstellen, die an sie glauben. Wer die Entfaltung aller Anlagen, oder auch die demütige Hingabe für das sittliche Ideal verklärt, will damit nicht sagen, daß er bei der Vorstellung dieser Typen gewisse Gefühle empfinde, sondern vielmehr, daß sie ansich die einzig richtigen seien, daß ihnen diese Richtigkeit als Eigenschaft einwohne, ohne Rücksicht darauf, wer und ob überhaupt jemand dieselbe anerkenne, daß also das Ideal einen objektiven Wert habe. Ich brauche dieses letztere Wort, weil es uns darauf hinweist, daß sich die Erscheinung, von der wir sprechen, keineswegs auf das sittliche Ideal, oder auch nur auf Ideale überhaupt beschränkt. Sie findet sich vielmehr überall, wo wir von einem  Wert  sprechen, gleichgültig, ob von einem ethischen oder von einem ästhetischen oder von einem ökonomischen Wert. Der Wert des Goldes z. B. kann ja wohl auch nur darauf beruhen, daß es den Menschen Freude macht, daß sie nach seinem Besitz streben usw. Wer aber das Gold für wertvoll erklärt, meint damit zunächst nicht, Gold erregen in den Menschen diese Zustände des Fühlens und Begehrens, sondern er redet so, als wäre der Wert eine Eigenschaft, die dem Gold ansich zukäme, auch wenn sie etwa von Einzelnen oder Vielen nicht erkannt würde. Auch hier also stellt sich die subjektive Wertschätzung als objektiver Wert dar; man könnte sagen: die Gefühle, die der Gegenstand in uns erregt, kristallisieren sich zu einer Eigenschaft an ihm selbst. Es ist nicht möglich, diese Erscheinung hier bis in ihre tiefsten Wurzeln zu verfolgen, insbesondere auch nicht, die Frage zu beantworten: wie wir uns diese Eigenschaft, diesen objektiven Wert eigentlich denken, was in uns vorgeht, wenn wir von einem leblosen Ding etwas aussagen, was nur als bewußtes Gefühle einen Sinn haben zu können scheint. Nur auf ein Moment will ich noch hinweisen: darauf nämlich, daß wir offenbar von einem objektiven Wert nur da sprechen, wo sich die entsprechende subjektive Wertschätzung auf einen verhältnismäßig großen Kreis von Menschen erstreckt. Ein Haus hat ökonomischen Wert, - aber sehr viele Menschen stimmen in seiner Wertschätzung überein. Eine Madonna von RAFAEL ist schön - d. h. sie hat ästhetischen Wert - aber sehr viele Menschen finden an ihr Gefallen. Eine Lebensrettung ist gut - d. h. sie hat ethischen Wert - aber sehr viele Menschen billigen sie. Natürlich kann auch ein Einzelner neue Werte schaffen: er kann als Erster mit einem Gegenstand oder einer Handlung ökonomische Wertschätzung, ästhetisches Gefallen, ethische Billigung verbinden; allein er würde diese seine subjektiven Gefühle nicht als objektiven Wert aussprechen, er würde nicht sagen: das ist wertvoll, schön oder gut, sondern: das möchte ich haben, das gefällt mir, das billige ich - wenn er nicht darauf rechnete, daß seine Wertschätzung früher oder später von anderen geteilt werden würde. Soviel also können wir feststellen: die Wertschätzung, die sich für uns zum objektiven Wert verdichtet, muß eine sozial verbreitete sein; wir denken als objektiv wertvoll, was von einem größeren oder kleineren Kreis von Menschen subjektiv wertgeschätzt wird. Und dies gilt nun auch von unserem eigentlichen Gegenstand, dem sittlichen Ideal: sein Anspruch auf alleinige und allgemeine Geltung beruht darauf, daß es als ein objektiver Wert gedacht wird, und es wird so gedacht, weil es ein Gegenstand gemeinsamer Wertschätzung für einen größeren oder kleineren Kreis von Menschen ist. Auch hier zwar kann ein Einzelner ein neues sittliches Ideal erschauen, wie das alle großen sittlichen Reformatoren getan haben. Allein dann ist es seiner ganzen Form nach von vornherein darauf angelegt, einen Kreis von Anhängern um sich zu sammeln. Oder, wie wir auch sagen können: ein jedes sittliches Ideal hat - auch abgesehen von seinem besonderen Inhalt - schon durch seine Form werbende Kraft.

Ich sagte aber weiter, geehrte Anwesende: der ideale Mensch werde auch als der normale Mensch gedacht, obwohl er von einem erfahrungsmäßigen Normaltypus weit entfernt sei. Und in der Tat, es ist kaum ein überraschenderer Eindruck denkbar, als der, den man erhält, wenn man sich in das Studium der verschiedenen sittlichen Ideale versenkt. Sie alle werden für den einzig wahren, menschenwürdigen, natürlichen, vernünftigen Menschentypus ausgegeben - und bei ihnen allen gelingt es auch unschwer, sich in diese Betrachtungsweise einzuleben.

Was erscheint einleuchtender, als daß es dem Menschen natürlich ist, alle seine Kräfte, die sogenannten niederen wie die sogenannten höheren, zu entwickeln und auszuwirken, und daß jede Unterdrückung einer derselben eine unnatürliche Abweichung von der Norm darstellt? Was ist aber auch andererseits klarer, als daß dem Menschen im Gegensatz zu den Tieren das Hervortreten der Vernunft und das Zurücktreten der Begierden eigentümlich und daß infolgedessen die Unterdrückung der letzteren für den typischen Menschen charakteristisch ist, ihre ungehinderte Entfaltung eine Mittelstufe zwischen Mensch und Tier bezeichnet? Wie leicht glauben wir einzusehen, daß das Streben nach Selbstbehauptung im Wesen des Menschen als eines auf Kampf und Macht angewiesenen Lebewesens begründet ist und daß deshalb jedes Sichaufgeben eine Abweichung vom natürlichen Typus in sich schließt? Wie leicht aber glauben wir andererseits, daß das Individuum in seiner Vereinzelung nichts bedeutet, daß es somit nur in seiner Hingabe für Familie, Volk, Menschheit seine natürliche Bestimmung erfüllt, daß also jedesmal, wenn sich ein Mensch als Selbstzweck und nicht als dienendes Glied eines größeren oder kleineren Kreises betrachtet, eine Abweichung von seiner normalen Bestimmung stattfindet? Allein soweit diese und viele andere sittliche Ideale voneinander abweichen - in einem Punkt stimmen sie alle überein: nämlich darain, daß sie alle etwas ganz anderes für normal und typisch ausgeben, als was uns die Erfahrung als normal und typisch zeigt. Die Menschen, die wir kennen, sind ihrer übergroßen Mehrzahlt nach weder harmonisch entwickelte Vollnaturen noch vollkommene Asketen, weder rücksichtslose Herrenmenschen noch selbstentäußerte Opferlämmer. Und nicht nur die Einzelnen sind es nicht: auch der Durchschnitt der uns erfahrungsmäßig bekannten Charaktere wäre keinem der sittlichen Ideale ähnlich - man möchte nun diesen Durchschnitt als arithmetisches Mittel oder als die Mitte zwischen den Extremen aufzufassen versuchen. Er würde ohne Zweifel sehr viel mehr Selbstverleugneung zeigen als das Ideal der Vollnatur, und sehr viel mehr gutmütige Rücksicht auf andere als das des Herrenmenschen; aber auch unendlich viel weniger Selbstüberwindung als das Ideal des Asketen, und unendlich viel weniger Opferwilligkeit als das der Menschenliebe. Das Normal-Typische des sittlichen Ideals ist also vom Normal-Typischen der Erfahrung weit verschieden. Aber auch diese Erscheinung ist nicht auf das sittliche Ideal beschränkt: sie ist zwar nicht wie die früher besprochene dem ganzen Bereich der Werte, aber doch dem ganzen, wenn auch engeren Gebiet der  Ideale  eigen, ja sie ist eigentlich dasjenige, was den Idealbegriff charakterisiert. Auch wer sich eine ideale menschliche Intelligenz denkt, denkt sie als die dem Wesen des Menschen eigentlich entsprechende, als jene normal-typische Intelligenz, die übrig bliebe, wenn man bei einem beliebigen Individuum alle geistigen Schwächen beseitigen könnte. Und dennoch würde so eine ideale Intelligenz nicht nur vom Normalen im Sinne des Gewöhnlichen abweichen, sondern auch vom Typischen im Sinne des Durchschnittlichen: sie würde z. B. sicherlich nicht zwischen dem größten Scharfsinn und dem größten Stumpfsinn genau die Mitte halten. Und ganz dasselbe gilt von der idealen Schönheit. Wie immer sich ein Mensch und insbesondere ein bildender Künstler, einen ideal-schönen Menschen vorstellen mag, gewiß wird er diesen Idealtypus als den eigentlich menschlichen empfinden, d. h. als denjenigen, an dem das, was ihm als der menschlichen Gestalt eigentümlich erscheint, am reinsten hervortritt. Aber ebenso gewiß ist es auch, daß dieser Idealtypus weder mit der Mehrzahl der Individuen noch auch mit ihrem Durchschnitt übereinstimmen wird: er wird z. b. in den meisten Fällen nicht genau die menschliche Durchschnittsgröße haben, auch nicht zwischen den Größen des Riesen und des Zwerges genau die Mitte halten, sondern erheblich größer sein als diese beiden Maße. Und der beste Beweis dafür, daß es so steht, liegt in der Tatsache, daß verschiedenen Menschen und Künstlern (auch innerhalb eines Volkes und einer Zeit) sehr verschiedene Idealtypen vorschweben, während jene Durchschnittsbildungen bei gleicher Umgebung identisch sein müßten. Das Wesen des Ideals besteht also darin, daß der Einzelne einen ihm besonders wohlgefälligen Typus als den entsprechendsten Ausdruck des Wesens der Gattung denkt. Leider muß ich mich auch hier wieder auf diese bloße Feststellung beschränken, und kann den Versuch nicht unternehmen, diese merkwürdige Erscheinung zu erklären: einen Versuch übrigens, der vielleicht trotz der notwendigen Heranziehung scheinbar weitabliegender Gebiete doch nicht zu einem gesicherten Ergebnis führen würde.

Ich sagte aber endlich, geehrte Anwesende: das sittliche Ideal diene als Maß für den sittlichen Wert der wirklichen Menschen ohne Rücksicht darauf, ob es selbst je verwirklicht werden könne. Und bei diesem dritten Punkt, bei der Frage nach der Verwirklichung des sittlichen Ideals wollen wir etwas ausführlicher verweilen: sie soll den hauptsächlichen Gegenstand unserer heutigen Betrachtungen bilden.

Von vornherein sind in dieser Beziehung verschiedene Auffassungen möglich. Man kann erwarten, es werde in der Zukunft verwirklicht werden; man kann auch annehmen, eine volle Verwirklichung desselben sei überhaupt nicht möglich, vielmehr nur eine größere oder geringere Annäherung. Statt aber diese Standpunkte in abstracto durchzusprechen, wollen wir lieber kurz ihr tatsächlich-geschichtliches Auftreten ins Auge fassen. Dabei trifft es sich glücklich, daß - im großen und ganzen - die zeitliche Abfolge vom Früheren zum Späteren auch mit einem sachlichen Fortschreiten vom Einfacheren zum Komplizierteren zusammenfällt.

Jedenfalls weisen beide Gesichtspunkte gleichmäßig der  indischen  Lebensanschauung die erste Stelle an; wir finden hier, wie die älteste, so auch die primitivste Auffassung des sittlichen Ideals. Und zwar gilt das so ziemlich in gleicher Weise von jenen beiden großen Verkörperungen indischen Fühlens und Denkens, die Ihnen ja unter den Namen Brahmanismus und Buddhismus bekannt sind. Das sittlich-religiöse Ideal des alten  Brahmanismus,  wie es uns im System der Vedânta entgegentritt, ist ein mystisches, dessen tiefsinnigen Grundgedanken zu würdigen hier nicht der Ort ist. Er besteht in der Behauptung, daß das innerste Wesen des Menschen, sein Selbst oder Atman identisch sei mit dem innersten Wesen der Welt, dem Brahman. Und jenes Ideal besteht in der theoretischen Erkenntnis und gefühlsmäßigen Erfassung dieses Gedankens, darin also, daß der Mensch gänzlich durchdrungen sei vom Bewußtsein seiner Einheit mit dem All: so sehr, daß er nichts mehr, was immer da sei oder geschehe, als fremd oder feindlich empfinde, vielmehr sich auf ewig geborgen fühle in der Erkenntnis seiner Zusammengehörigkeit mit allen Dingen, zu deren jedem er sprechen kann: Ta tvam asi, Das bist Du! Dieses Ideal nun - und das ist es, was uns hier interessiert - stellen sich die alten Lehrer des Veda als ein in diesem Leben durchaus erreichbares vor. Sie schildern uns, wie der Mensch, durch verschiedene Phasen des beschaulichen und tätigen Lebens hindurchgehend, der erlösenden Erkenntnis immer näher kommt, um endlich im Alter, als  Sannyâsa,  ihrer teilhaft zu werden, worauf er dann in dürftigster Ausrüstung Familie, Haus und Welt verläßt, um sich in der Einsamkeit des Waldes auch praktisch von allen irdischen Interessen abzuscheiden. Es besteht kein Grund zur Annahme, daß diese Schilderungen nur einem Phantasiegebilde entsprächen. Sie sind vielmehr ohne Zweifel auf wirkliche Vorgänge zu beziehen: Tausende von Indern werden, im Bewußtsein, das Ideal realisiert zu haben, auf solche Weise freiwillig der Welt abgestorben sein. Ganz ebenso zweifellos aber ist es, daß auch das  buddhistische  Ideal als ein in diesem Leben erreichbares gedacht wurde. Auch hier galt als Ideal eine Erkenntnis, und zwar eine erlösende Erkenntnis. Aber die Erlösung wird jetzt nicht mehr in einer unbegrenzten Erweiterung des Ich erblickt, das schlechthin alles, und so auch alles Fremde, Feindliche und Schmerzliche in sich fassen soll und so von jeder Furcht vor ihm befreit wird; sondern gerade umgekehrt in einer extremen Verengung des Ich, das alle Güter, die bedroht werden, alle Lust, die getrübt werden könnte, als nicht zu sich gehörig erkennt, und auf diesem Weg jeder Furcht und Sorge entrückt wird. Aufhebung des Leidens durch Aufhebung aller Begierden, alles "Haftens" am Vergänglichen, ist hier die ideale Losung. Aber auch diese soll einen Zustand bezeichnen, der nicht nur erreicht werden kann, sondern wirklich erreicht wird. Unter einem mächtigen Baum sitzend soll der erhabene BUDDHA nach tagelanger Meditation die erlösende Erkenntnis gefunden haben und eben hierdurch in den seligen Zustand der Begierdelosigkeit, in das Nirvana eingegangen und zum "Vollendeten" geworden sein. Und auch  nach  ihm sollen, durch seine Lehre geleitet und unterstützt, zahllose Menschen das Ideal erreicht und sich vollendet haben. Sowie einst BUDDHA ziehen sie nun als Bettler umher, der Welt und dem Leben abgestorben. Gleich dem Sannyâsa hat auch der  Bhikshu  das Ziel erreicht; in seliger Untätigkeit harrt er dem Tod entgegen; keine Aufgabe ist ihm geblieben. Aber mit den letzten Worten, hochansehnliche Versammlung, habe ich auch das schwere Bedenken angedeutet, das sich gegen diese ganze Auffassung erhebt - erhebt, nicht vom Standpunkt irgendeines abweichenden sittlichen Ideals aus, sondern im Hinblick auf den Begriff des sittlichen Ideals überhaupt. Der ideale Mensch soll ein Vorbild sein für den nach dem Ideal strebenden Menschen: sein Wert wird ja an jenem gemessen. Aber der nach dem Ideal strebende Mensch ist eben ein strebender, kämpfender, ringender Mensch, dem eine Aufgabe gesetzt, ein Ziel vorgesteckt ist. Der indische Idealmensch aber, der das Ideal verwirklicht, die Aufgabe gelöst, das Ziel erreicht hat, ist kein strebender, sondern ein ruhender Mensch. Kann aber der Ruhende für den Strebenden das Vorbild sein? Wir alle kennen an den Götter- und BUDDHA-Bildern der Inder jenen Zug, der nicht nur einem feierlichen Thronen, sondern darüber hinaus einer eisigen Starrheit entspricht. Er ist keineswegs ausschließlich im Inhalt des indische Ideals, in seiner Weltabgewandtheit und Strenge begründet. Ein griechischer Stoiker oder ein christlicher Asket geben ihm in dieser Hinsicht nichts nach; aber welch anderes Leben spricht aus seinen Zügen! Und der Grund: sie sind keine "Vollendeten", sie kämpfen und streben, sie glauben nicht, die Verwirklichung eines Ideals darzustellen. Und ebensowenig ist es zufällig, daß der Bhikshu wie der Sannyâsa die Welt verlassen; es hängt das auch nicht bloß mit dem Inhalt des angeblich realisierten Ideals zusammen. Besonders beim letzteren ist das deutlich. Denn wenn pessimistische Verneinung des Lebens auch sonst einsame Abgeschiedenheit bedingt, so wird man schwerlich einen anderen Fall aufweisen können, wo ein Übermaß von Seligkeit dauernde Vereinsamung nach sich zöge. Aber hier spricht sich das richtige Gefühl aus, daß derjenige, dem nichts mehr zu erringen übrig ist, auch in der menschlichen Gesellschaft keinen Platz mehr hat. Denn diese Gesellschaft ist eine Gemeinschaft tätig handelnder Wesen. Ihr Bestand setzt voraus, daß ihre Mitglieder Zwecke verfolgen: Zwecke, die sein Tun bestimmen, ihn auf andere Rücksicht, andere auf ihn Einfluß nehmen lassen. Wer aber das sittliche Ideal verwirklicht, der hat den Zweck aller Zwecke erreicht: sein Handeln kennt keine Richtschnur mehr; er hängt von niemand mehr ab; keiner kann mehr auf ihn zählen; - seine Rolle in der Gesellschaft ist ausgespielt. Wer "fertig" in diesem einen Sinn ist - nämlich vollendet, der ist auch "fertig" im anderen - nämlich abgetan. Es bleibt ihm nur übrig, als Sannyâsa in den Wald zu gehen. Und ein ähnliches Schicksal würde auch außerhalb Indiens einen jeden treffen, der für die Verwirklichung des sittlichen Ideals gölte. Aber dieser Begriff kommt - wenigstens in so plumper Gestalt - außerhalb Indiens bei keinem anderen Kulturvolk vor.

Aber freilich, geehrte Anwesende, wenn wir unseren Blick von Indien nach Griechenland wenden, so stoßen wir, trotz eines sehr verschiedenen Ausgangspunktes, doch auf ein nicht allzu verschiedenes Ergebnis. Die griechische Sittenlehre beginnt, von Anläufen und Andeutungen abgesehen, mit SOKRATES. Auch er setzt, ganz wie Vedânta und Buddhismus, das sittliche Ideal in eine Erkenntnis - diese Überschätzung des Intellekts ist primitiven Stufen des Denkens eigen. Nur wird diese Erkenntnis hier gedacht, nicht als Wissen um etwas bestimmte, sondern als das Wissen um das sittlich Gute im allgemeinen. So wie in allen anderen Künsten, so beruth nach SOKRATES auch in der Lebenskunst das Tun auf dem Verstehen, das Können auf dem Kennen. Wer da wüßte, was gut und schlecht ist, der wäre sittlich vollkommen. Ich sage: wer da wüßte - denn dies ist nun ein fundamentaler Unterschied des griechischen und indischen, speziell des sokratischen und buddhistischen Denkens: BUDDHA weiß die erlösende Wahrheit und er weiß, daß er sie weiß; SOKRATES weiß sie nicht, und er weiß, daß er sie nicht weiß. BUDDHA besitzt die Vollkommenheit, und kann sie lehren; SOKRATES sucht sie und kann nur nach ihr fragen. Dem Gedanken des verwirklichten Ideals, als dem Ausdruck des Genügens an der eigenen Vollkommenheit, steht der Gedanke des zu verwirklichenden Ideals gegenüber, als der Ausdruck des Hinausstrebens über die eigene Unvollkommenheit - vielleicht kein schlechtes Symbol für den Gegensatz von Abendland und Morgenland. Aber wenn es klar ist, daß SOKRATES sich nicht als die Verwirklichung des sittlichen Ideals betrachtete, so wäre es doch vergebliche Mühe, die Frage beantworten zu wollen, wie er denn über die Möglichkeit dieser Verwirklichung überhaupt dachte? Zwar, daß er diese nicht für grundsätzlich unmöglich hielt, steht außer Zweifel. Dazu klingt seine Rede von der Tugend als Wissen viel zu unbefangen. Aber ob es unter den Mitlebenden einen Tugendhaften in diesem Sinne gebe, ob es in der Vorzeit einen solchen gegeben habe, ob es erst in der Zukunft einen solchen geben werde, - diese Fragen hat er keinesfalls beantwortet, allem Anschein nach nicht einmal aufgeworfen. Die Suche nach dem Ideal beherrschte wohl auch so sehr sein Leben, daß ihm weder Zeit noch Interesse dazu übrig blieb, die Chancen dieser Suche zum Gegenstand theoretischer Erwägungen zu machen. Jedenfalls aber ist das gesamt griechische Denken über diese unsichere Stellung gegenüber dem Problem der Ideal-Verwirklichung nicht wesentlich hinausgekommen. Und doch beherrscht der Begriff des idealen Menschen unter verschiedenen Namen die griechische Sittenlehre. Er heißt bei den Einen der Gerechte, bei den Andern der Verständige, vielfach der Tüchtige, schließlich immer mehr und allgemeiner der Weise. In der Beschreibung dieses Weisen, seiner Handlungen und Gesinnungen, seines Fühlens und Denkens, geht die griechische Ethik auf - mögen ihn nun die einzelnen Schulen bald so sehr anders zu bestimmen suchen. Aber die Frage, die uns in diesem Zusammenhang die nächstliegende scheint: was nämlich zu tun sei, um ein Weiser zu werden - diese Frage steht keineswegs im Vordergrund. Von einigen Schulen wird sie wenigstens stillschweigend im Sinne der Inder beantwortet: um nur Namen zu nennen, die Ihnen geläufig sind, so haben wohl weder DIOGENES in seinem Fass, noch EPIKUR in seinem Garten, denen sich in neuerer Zeit SPINOZA anschließt, daran gezweifelt, daß sie Weise seien - im prägnanten Sinn des Wortes, Verwirklichungen des sittlichen Ideals. Die ausgebildetste ethische Doktrin des Altertums aber, die  stoische  Sittenlehre, war von solchem Glauben weit entfernt. Sie war sich voll der Gefahr bewußt, die kaum vermeidlich ist, wenn die Verwirklichung des Ideals als ein dem Einzelnen erreichbares Ziel gedacht wird, daß nämlich das Ideal Schaden leidet, daß es Kompromisse eingeht, daß die entferntere oder nähere Annäherung für die Vollendung eine halbe oder Viertel-Realisierung für die Verwirklichung genommen wird. Dieser Gefahr gegenüber stellt die Stoa den Satz auf, daß es zwischen Gut und Schlecht kein Mittelding gebe, ebensowenig wie zwischen Gerade und Krumm, daß jeder Mensch entweder ein Weiser oder ein Tor sei. Aber umso dringender wird die Frage: wo sind denn nun die vollkommenen Weisen? Und umso mehr litt die stoische Philosophie unter der Unfähigkeit, auf diese Frage eine befriedigende Antwort zu geben. Das Ideal für in diesem oder jenem Fall für verwirklicht erklären - das hieße: die Höhe der sittlichen Forderung gefährden; das Ideal für nie realisiert ausgeben - das hieße: es zu einer bloßen utopischen Fiktion erniedrigen. Und so kam eine unselige Halbheit zustande: bald gilt ein Mann der Vorzeit, wie SOKRATES, als Weiser, bald ein Mann der Gegenwart, wie CATO. Wir hören, zwei oder drei Weise habe es gegeben; alle paar hundert Jahre komme einer vor; er sei so selten wie der Vogel Phönix. Es leuchtet ein, daß so die beiden Gefahren nicht vermieden, sondern vereinigt werden: das Ideal wird auf diese oder jene Karte gesetzt, und bleibt doch ein luftiges Scheinbild, das die allermeisten nichts angeht; denn so sehr sie über andere hervorragen mögen - sie bleiben Toren. Dem zu steuern, wird nun der Begriff des sittlichen Fortschritts eingeführt. Allein, was ist das für ein Fortschritt, der dem Ziel nicht näher bringt - so wenig näher, daß er selbst (der sittliche Fortschritt) zu den sittlich gleichgültigen Dingen gerechnet werden konnte? Er besteht eben nicht in einer Annäherung an das Ziel, sondern nur in einer Steigerung der Chance, die unüberbrückbare Kluft, welche die Weisheit von der Torheit trennt, vielleicht einmal zu überspringen; aber diese Chance bleibt trotz allen Fortschreitens so klein, das Ziel so fern, daß praktisch nichts damit geleistet ist. Und zusammenfassend muß gesagt werden: die griechische Fassung des Idealbegriffs hat vor der indischen das voraus, daß die doppelte Gefahr der Erstarrung und der Komprommittierung des Ideals vermieden wird. Allein, was er so gewinnt, verliert er an Bestimmtheit, Faßlichkeit, Fruchtbarkeit. Das von so und so vielen verwirklichte Ideal war wenigstens ein klarer Begriff, imstande dem sittlichen Leben und Streben Inhalt und Richtung zu geben. Das an und für sich der Verwirklichung fähige, aber nie und nirgends ohne Bedenken als verwirklicht anzuerkennende Ideal ist ein unbestimmtes Phantom, fähig, den Ernst der sittlichen Forderung aufrecht zu halten, aber unfähig, sie als wirksamen Faktor ins praktische Leben einzuführen. Die stoische, und überhaupt die griechische Sittenlehre schwebt immerfort in Gefahr, den Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren, in hohle Deklamation auszuarten. Sie zeigt ein Ziel, aber keinen Weg zu diesem Ziel. Sie kreist um einen Wert, an dem kein wirklicher Mensch gemessen werden kann. Und nur der überragende Inhalt ihrer Werte und Ideale macht ihre Bedeutung aus. Wir alle fühlen freilich, daß mit dem stoischen Begriff des sittlichen Fortschritts ein Ausweg aus diesem Labyrinth angedeutet wird. Aber dieser Keim hat seine Entfaltung nicht auf griechischem Boden gefunden.

Hochansehnliche Versammlung! Unser flüchtiger Überblick muß sich nunmehr dem großen Gebiet  christlicher  Lebensauffassung zuwenden - einem Gebiet, dessen umfassendem Reichtum gegenüber er notwendig noch flüchtiger verfahren und erscheinen muß. Was in der Geschichte christlich heißt, ist ein so wunderbares Produkt vielfältigst gekreuzter Einflüsse und verschmolzener Richtungen, daß es der Betrachtung fast in Bezug auf alle Fragen gegeneinander laufende Strömungen zeigt. So auch in Bezug auf das Ideal, sowohl was seine Bedeutung überhaupt, als auch was speziell die Frage seiner Verwirklichung betrifft. Ich versuche, einige Gesichtspunkte anzudeuten. Das Ideal ist ein Maximum sittlichen Wertes: ein Grad der Vollkommenheit, höher als welcher kein anderer gedacht werden kann, richtiger vielleicht: die Vollkommenheit selbst. In der christlichen Dogmatik aber gibt es einen Begriff, der der Anerkennung eines solchen Maximums als des sittlichen Hauptbegriffes entgegenwirkt: es ist der Begriff des  Gerichtes.  Das Gericht zieht eine scharfe Grenze zwischen Guten und Schlechten, Seligen und Verdammten. Wollte irgendeine christliche Lehre diese Grenze mit dem Ideal zusammenfallen, alle Unvollkommenen verdammt, nur die absolut Vollkommenen gerettet werden lassen, so würden sich unhaltbare Konsequenzen ergeben. Die stoische Schwierigkeit würde in ungleich verstärkter Form wiederkehren: es müßte entweder der Begrif der Vollkommenheit aufs tiefste erniedrigt, oder aber zugestanden werden, fast alle Menschen seien - nicht nur Toren, sondern - der ewigen Verdammnis verfallen. Eine solche Lehre ist unmöglich, und der sich ihr allein annähernde Rigorismus der kantischen Pflichtmoral ist auch wirklich nur unter weitgehender gleichzeitiger Abschwächung des Jenseitsbegriffs denkbar. Und so mß notgedrungen schon ein minderer Grad der Vollkommenheit als hinreichend zur Rechtfertigung angesehen, und damit neben dem Begriff eines Maximus der eines Minimums sittlichen Wertes zugelassen und eingeführt werden. Dieses Minimum ist geboten, zu ihm ist der Mensch verpflichtet; was darüber hinausgeht, ist ihm nur geraten, er macht sich dadurch verdient. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß für diese Betrachtungsweise der Begrif des idealen Maximums hinter den des gebotenen Minimums zurücktritt; und ebenso, daß bei dem Versuch, haarscharf die Grenze zwischen dem Erlaubten und Verbotenen abzustecken, Nachgiebigkeit gegen die eigenen Wünsche und Rücksicht auf die fremde Gewissensnot ein stetiges, wenn auch langsames Herabsinken dieser Grenze zur Folge haben. Die sogenannte Kasuistik der katholischen Moraltheologie erweist sich so als eine logische Folge einer gerichtlichen Auffassung des Sittlichen - diesen Zusammenhang einsehen, scheint mir ersprießlicher als, wie neuestens beliebt wird, unverständige Angriffe gegen den sittlichen Ernst der katholischen Moralisten zu richten. Im übrigen liegen die Verhältnisse für die protestantische Auffassung der Sittlichkeit gar nicht wesentlich anders. Wenn nicht ein gewisses Verhalten - die "guten Werke" -, sondern eine gewisse Gesinnung - der "Glaube" als Bedingung der Rechtfertigung angesehen wird, so liegt hier allerdings ein weitgehender Unterschied in Bezug auf den Inhalt des Ideals vor, der ideale Mensch wird anders gedacht, aber die formale Auffassung des Idealbegriffs wird dadurch nicht wesentlich geändert. Auch das Maß von Glauben, das als ausreichend zur Rechtfertigung gedacht wird, muß entweder das denkbar größte und doch zugleich vielen erreichbar sein - und dann wird das Ideal selbst erniedrigt; oder es ist das denkbar größte und wird von niemandem erreicht - dann wird auch niemand gerechtfertigt; oder es genügt schon ein geringeres als das ideale Maß von Glauben zur Rechtfertigung - dann tritt auch hier dem sittlichen Maximum ein sittliches Minimum an die Seite. Das also, hochansehnliche Versammlung, sind einige Momente, welche die Bedeutung des Idealbegriffs auf dem Boden des Christentums einschränken. Trotzdem behauptet er sich auch hier, und findet sogar neue Erscheinungsformen. Es liegt außerordentlich nahe, eine Vorstellung, die wir besitzen, und zu der uns die Gegenwart keine entsprechende Wirklichkeit zeigt, als entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft verwirklicht zu denken. Schon im Judentum finden wir beide Auffassungsweisen auf das Ideal - wenn auch nicht speziell und ausschließlich auf das sittliche Ideal - angewandt: das Alte Testament kennt seine paradiesische und seine messianische Verwirklichung. Es scheint aber, daß von diesen beiden Möglichkeiten die erstere durch einige Umstände besonders begünstigt wird. Das Vergangene, das schon da war, erlebt wurde, scheint gewissermaßen mehr Wirklichkeit zu besitzen als das Künftige, das noch gar nicht da war, noch gar nicht erlebt wurde. Die bekannte Gewohnheit alter Leute, die gute alte Zeit zu preisen, scheint der Ansetzung einer idealen Vorzeit eine Art greifbarer Unterlage zu geben. Und jede einmal als vollkommen geschätzte Gegenwart wandelt sich durch den bloßen Ablauf der Zeit zur idealen Vergangenheit. So ist es denn die ideale Vorzeit eine weit verbreitete Annahme: ich erinnere Sie nur an das goldene Zeitalter des HESIOD und an ROUSSEAUs Naturzustand. Auch das Christentum versetzt das Ideal vorwiegend in die Vergangenheit: es verehrt in seinem Stifter die Verwirklichung des sittlichen Ideals. Aber die christliche Dogmatik bot auch eine Handhabe, diese Auffassung in besonders glücklicher Weise durchzuführen. Wir haben eben bei der Besprechung der indischen Standpunkte gesehen haben, welche Schwierigkeit im Begriff eines wirklichen, idealen Menschen liegt. Er soll als vollendeter, und demnach ruhender Mensch ein Vorbild sein für unvollkommene und darum strebende Menschen. Diese Schwierigkeit fiele natürlich fort, wenn die absolute Vollkommenheit des idealen Menschen durch irgendeinen Umstand auf seine Person beschränkt würde, so daß er zwar jedem Einzelnen als die leibhaftige Verkörperung seines Strebeziels vor Augen stünde, ohne doch - da dieses Ziel für jeden andern unerreichbar wäre - die Frage auch nur zuzulassen: und was werde ich zu tun haben, wenn auch ich das Ideal verwirklicht haben werde? Dieser Bedingung nun genügt nach der christlichen Dogmatik der Stifter des Christentums: der Gottmensch verwirklicht als Mensch ein menschliches Ideal; aber er ist als Gott die Gewähr dafür, daß diese Verwirklichung ein ewiger Ausnahmefall bleibt, dem nachgeeifert, der aber nie wiederholt werden kann; und gleichzeitig ist ihm ein besonderes Werk - das der Erlösung - zugeteilt, so daß er auch für seine Person der Tätigkeit nicht entbehrt. Es folgt aus dem Gesagten, wie kurzsichtig es ist, zu glauben, die Rolle, die der Heiland innerhalb der christlichen Orthodoxie als sittliches Vorbild spielt, werde durch Wandlungen seiner dogmatischen Stellung nicht berührt: ein einzelner, geschichtlicher Mensch kann ein Vorbild sein in jenem Sinn eines selbst unvollkommenen, vorkämpfenden Heros, den die katholische Kirche so schön und glücklich in ihrer Auffassung der Heiligen niedergelegt hat, aber nicht im Sinne eines absolut vollkommenen Ideals - wenigstens solange nicht, als man nicht zu den besprochenen Bedenklichkeiten der indischen Auffassung zurückkehren will.

Und eben hierin, geehrte Zuhörer, liegt der Grund und die innere Rechtfertigung dafür, daß die neuere Zeit, sofern sie aus dem Rahmen der christlichen Dogmatik herausgetreten ist, auch hinsichtlich der Verwirklichung des sittlichen Ideals anderen Vorstellungsweisen zuneigt. Schon im Christentum lag ein Ansatz zur Auffassung, das Ideal sei weder jetzt noch früher verwirklicht worden, sondern gehe seiner Realisierung in der Zukunft entgegen. Denn an den messianischen Gedankenkreis hat sich frühzeitig die Idee einer Heilsgeschichte angeschlossen, d. h. die Vorstellung, daß alles Geschehen eine einheitliche, von Gott zweckvoll geleitete Entwicklung darstelle, die einem bestimmten Ziel zustrebe. Dieser Gedanke, daß das Geschehen einen Fortschritt zum Besseren bedeute, und daß das Beste in der Zukunft liege, findet seinen religiösen Ausdruck im Begriff des "Reiches Gottes", dessen Herstellung dem Menschen aufgegeben sei, und wir sehen in der Tat, daß dieser Begriff innerhalb des modernen Christentums in dem Maß in den Vordergrund tritt, als der alte Dogmenglaube schwindet, und auch außerhalb desselben unter anderen Namen, z. B. als "größtes Glück der größten Zahl", als "Zukunftsstaat" usw. sich einer weiten Verbreitung erfreut. Aus diesem Begriff der Heilsgeschichte ist dann der des geschichtlichen Fortschritts, aus diesem wiederum der der natürlichen Entwicklung entstanden, welcher die neueste Naturbetrachtung beherrscht. Und dementsprechend steht heute eine große Zahl bedeutender Denker auf dem Standpunkt, das sittliche Ideal bedeute nichts anderes als die geistige Vorwegnahme einer nächsten Entwicklungsetappe. So wie wir uns vorstellen, daß sich die höheren Tierarten aus den niederen entwickelt haben, aus ihnen schließlich Wesen, die zwischen Affe und Mensch in der Mitte standen, aus diesen tiefstehende Urmenschen, aus ihnen wiederum die heutigen Menschen, so werde sich auch aus dem heutigen, unvollkommenen der künftige vollkommene oder ideale Mensch entwickeln. Denkt man dann den Unterschied zwischen diesem und uns so groß, daß er einen förmlichen Artunterschied begründet, so wird man ihn natürlich nicht mehr als Menschen bezeichnen, sondern einen neuen Namen für ihn brauchen müssen. Und in diesem Sinne hat FRIEDRICH NIETZSCHE den Begriff des Übermenschen konzipiert - einen Begriff, von dem ich aufrichtig gestanden nicht weiß, was an ihm so Schreckliches sein soll. Über den Inhalt, mit dem NIETZSCHE diesen Begriff erfüllt, kann man gewiß verschiedener Meinung sein. Aber der Begriff ansich ist rein formal und er bedeutet garnichts anderes als was man bisher den idealen Menschen genannt hat, nur mit der näheren Bestimmung, daß die Verwirklichung dieses Ideals in der Zukunft, und zwar auf dem Weg der natürlichen Entwicklung erwartet wird. Und auch die Vorstellung, daß der ideale Mensch mehr sein müsse als ein bloßer Mensch, sollte uns doch vom Begriff des Gottmenschen her vertraut genug sein, der Übermensch aber ist garnichts anderes als der in die Zukunft versetzte und seiner übernatürlichen Entstehung entkleidete Gottmensch. Allein ganz andere Bedenken erheben sich gegen diese Auffassung des sittlichen Ideals, geltend gemacht habe.

Wenn es nämlich im Begriff des Ideals überhaupt liegt, den vollkommenen und normalen Typus des betreffenden Gegenstandes darzustellen, also ein Vor- und Musterbild für die Hervorbringung anderer Gegenstände derselben Art; und wennn andererseits der Begriff der Sittlichkeit eine notwendige Beziehung auf menschliches Streben und Handeln in sich schließt, dann leidet der Gedanke eines verwirklichten sittlichen Ideals stets an einem inneren Widerspruch. Denn dieser Gedanke bedeutet dann einen vollkommenen Menschen, dessen Wollen in sittlicher Beziehung nicht mehr bestimmt ist; einen Menschen, der, soweit sittliche Forderungen in Betracht kommen, nichts mehr zu tun hat. Und doch soll dieser selbe Mensch den Normaltypus des Menschen überhaupt darstellen, also den eines Wesens, dessen ganzes Streben und Wollen durch sittliche Forderungen bestimmt sein soll, eines Wesens, das letztlich nur in sittlicher Hinsicht etwas zu tun hat. Dieser Widerspruch bleibt bestehen, solange die Verwirklichung des Ideals als möglich gedacht wird - man setze sie nun in die Gegenwart, in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Und er kann nur vermieden werden bei jener Auffassung, die zuerst IMMANUEL KANT angedeutet hat, wenn er die volle "Heiligkeit" für den Menschen unerreichbar sein läßt, und ihn dafür auf einen "unendlichen Progressus" zu diesem Ziel verweist; und die dann der tiefsinnigste und zugleich modernste deutsche Denker, JOHANN GOTTLIEB FICHTE, in seiner "Sittenlehre" entwickelt hat. Nach FICHTE besteht die Aufgabe des sittlichen Lebens in der stetigen Annäherung an einen bestimmten, nie völlig zu realisierenden Zustand - ein Standpunkt, dem freilich FICHTE selbst in der "Anweisung zum seligen Leben" wieder untreu geworden ist. Vielleicht ermessen Sie, hochansehnliche Versammlung, nicht auf den ersten Blick die Tragweite dieser Begriffsbestimmung. Gestatten Sie mir deshalb, dieselbe noch zum Schluß mit wenigen Sätzen zu erläutern. Es wird nämlich durch sie der Begriff des sittlichen Ideals unter jene Begriffe eingereiht, die wir in der Mathematik Grenzbegriffe oder Grenzwerte zu nennen pflegen. Ein solcher ist z. B. unter gewissen Voraussetzungen der Begriff Null. Wenn ich irgendeine zusammenhängende Größe teile, so ist der Teil kleiner als das Ganze. Wenn ich den Teil wieder teile, so erhalte ich einen noch kleineren Teil. Ich kann nun diese Teilung beliebig lange fortsetzen. Dann werden die Teile sehr klein, außerordentlich klein, ungeheuer klein werden. Aber sie werden immer noch eine gewisse Größe besitzen. Es wird ein Punkt kommen, wo ich notgedrungen werde aufhören müssen zu teilen. Aber diese praktische Grenze hindert mich nicht, mir die Teilung immer weitergehend zu denken. Trotzdem weiß ich sehr gut, daß diese immer kleiner werdenden Teile zwar niemals aufhören würden, eine gewisse Größe zu besitzen, dennoch aber dem Begriff des absolut kleinen, des größenlosen oder der Null sich immer mehr annähern würden. Ich bezeichne also die Null als den Grenzwert, dem ich durch fortgesetztes Teilen immer näher komme, ohne ihn je erreichen zu können. In demselben Sinn nun ist nach FICHTE das sittliche Ideal als Grenzwert zu verstehen. Es bezeichnet die Richtung, in der sich jeder sittliche Fortschritt bewegen muß, indem es das Ziel bezeichnet, dem er immer näher kommen soll, ohne es je verwirklichen zu können. Damit ist jener Widerspruch vermieden. Denn nach dieser Auffassung ist der ideale Mensch ein bloß gedachtes Wesen, das, da es nie existieren kann, auch nicht als untätig und aufgabslos in sittlicher Beziehung gedacht zu werden braucht. Jeder wirkliche Mensch aber, er möge nun noch so vollkommen sein, wird immer noch ganz in der Aufgabe aufgehen können, seine Vollkommenheit noch zu steigern, sich dem idealen Ziel noch um einen Schritt anzunähern. Diese Auffassung macht uns auch unabhängig von allen paradiesischen und messianischen, ROUSSEAUschen und SPENCERschen Hypothesen; denn die Annäherung braucht nicht gedacht zu werden als ein zeitlich verlaufender Prozeß, sondern nach ihr ist das Ideal nichts anderes, als ein rein begrifflicher Wertmesser, der an die Menschen aller Zeiten angelegt wird, und dem sie, ohne Rücksicht auf ihr Zeitalter, mehr oder weniger genügen. Vermieden ist auch ebensowohl die Gefahr des Buddhismus, der uns das Ideal zu nahe rückt: so nahe, daß es lebendig unter uns wandelt und seine begriffliche Fehlerfreiheit nur schwer behaupten kann; als auch die Gefahr des Stoizismus, der uns das Ideal in allzugroße Ferne entrückt: so fern, daß es fast für keinen auch nur annäherungsweise erreichbar ist. Beseitigt sind aber auch die Bedenklichkeiten jenes gerichtlichen Christentums, das, um nur ja recht sicher die Schafe von den Böcken sondern zu können, den Begriff der idealen Vollkommenheit hinter den einer hinreichenden Mittelmäßigkeit zurücktreten läßt; und an die Stelle dieser Auffassung tritt eine andere, welche alle mit einem idealen Maßstab mißt, sie alle unvollkommen findet, aber in verscheidenem Grad und in verschiedener Richtung. Damit wird aber im Grunde nur die andere, oben angedeutet Tendenz der christlichen Lebensanschauung zu Ehren gebracht: auch sie kennt ja ein ideales, keinem Menschen voll erreichbares, absolutes Musterbild, und daneben andere, diesem sich mehr oder weniger annähernde, relative Vorbilder. An die Stelle dieser letzteren, der Heiligen, hätten dann die sittlichen Größen aller Zeiten zu treten, und an die Stelle des Gottmenschen das unerreichbare, sittliche Ideal!
LITERATUR: Heinrich Gomperz, Über den Begriff des sittlichen Ideals, Bern 1902