p-4Shizuteru Ueda    
 
GEORGE STEINER
Der Rückzug aus dem Wort
[ 1 / 2 ]

"In bestimmten östlichen Lehren der Metaphysik, wie dem Buddhismus und Taoismus, stellt man sich die Seele als ein Etwas vor, das sich über die groben Belastungen durch die Materie erhebt, dann durch Bereiche der Einsicht zieht, die in erhabene und präzise sprachliche Form verwandelt werden können, bis es in Richtung auf ein tiefer und tiefer werdendes Schweigen aufsteigt."

Wir leben innerhalb des sprachlichen Aktes. Aber wir sollten nicht so sicher annehmen, daß eine verbale Matrix die einzig mögliche Form wäre, in der Artikulationen und Haltung von Geist und Seele denkbar sind. Es gibt Bedingungen geistiger und sinnlicher Realität, die nicht auf Sprache, sondern auf anderen Mitteilungskräften beruhen, wie zum Beispiel das Ikon oder die musikalische Note. Und es gibt geistige Handlungen, die in tiefem Schweigen wurzeln. Von ihnen zu  sprechen,  ist schwierig, denn wie sollte gerade die Rede Gestalt und Leben des Schweigens mitteilen? Doch ich kann Beispiele anführen für das, was ich meine.

In bestimmten östlichen Lehren der Metaphysik, wie dem Buddhismus und Taoismus, stellt man sich die Seele als ein Etwas vor, das sich über die groben Belastungen durch die Materie erhebt, dann durch Bereiche der Einsicht zieht, die in erhabene und präzise sprachliche Form verwandelt werden können, bis es in Richtung auf ein tiefer und tiefer werdendes Schweigen aufsteigt.

Die höchste und reinste Stufe des kontemplativen Aktes wird dann erreicht, wenn man gelernt hat, die Sprache ganz hinter sich zu lassen. Das Unaussprechliche liegt jenseits der Wortgrenze. Nur indem die Mauern der Sprache durchbrochen werden, kann die visionäre Wahrnehmung in das Reich unmittelbaren und totalen Verstehens eintreten. Wo solches Verstehen erreicht ist, braucht die Wahrheit jene Verunreinigungen und Halbheiten nicht mehr zu erdulden, die Worte notwendigerweise nach sich ziehen. Die Wahrheit braucht sich nicht mehr der naiven Logik und dem linearen Zeitbegriff anzupassen, die in der Syntax einbegriffen sind. Die tiefste, letzte Wahrheit schließt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig in sich ein. Es ist die temporale Struktur der Sprache, die sie künstlich getrennt hält. Und hier liegt der entscheidende Punkt.

Der Heilige, der geweihte Mensch, entzieht sich nicht nur den Verführungen des weltlichen Handelns, er zieht sich auch von der Sprache zurück. Sein Sich-Zurückziehen in die Berghöhle oder Klosterzelle ist die äußere Geste seines Schweigens. Selbst den Novizen auf dieser steinigen Straße wird gelehrt, den Verschleierungen der Sprache zu mißtrauen, durch sie hindurch zu stoßen zum Wahreren, Echteren, Wirklicheren. Das  koan  im Zen-Buddhismus - wir kennen den Klang zweier aneinander schlagender Hände, doch was ist der Klang von einer? - ist eine Anfänger-Übung auf dem Rückzug aus dem Worte.

Auch die westliche Überlieferung kennt Übergänge vom Sprechen zum Schweigen. Das Trappisten-Ideal des Aufgebens der Rede geht zurück bis in die alten Zeiten der Styliten und Wüstenväter. Die strenge, asketische Verzückung der sinnenden Seele hat sich von den Ankerplätzen allgemeiner mündlicher Verständigung losgelöst.

Doch für den westlichen Standpunkt birgt diese Erlebnisordnung einen unvermeidlichen Geruch von Mystizismus. Und ungeachtet unserer Lippenbekenntnisse (ein Terminus, der für sich selbst spricht) zur Heiligkeit der mystischen Berufung, entspricht die herrschende westliche Einstellung doch mehr jener scherzhaften Bemerkung des Kardinals NEWMANN, wonach Mystizismus im Dunst beginnt und in der Kirchenspaltung endet.

Von den bedeutenden Dichtern des Westens hat kaum einer - vielleicht nur DANTE - die menschliche Vorstellung von der Kraft transrationaler Erlebnisse und Erfahrungen überzeugen können. In der strahlenden Schlußszene des  Paradiso  akzeptieren wir zwar das Blindsein von Auge und Verstand vor der Totalität der Vision, doch kommt PASCAL dem klassischen Empfinden des Westens näher, wenn er feststellt, daß das Schweigen im kosmischen Raum Entsetzen einflößt. Selbiges Schweigen bedeutet für den Taoisten innere Ruhe und die Nähe Gottes.

Das Primat des Wortes, des gesprochenen und in Rede und Gegenrede mitgeteilten Wortes, ist ein Charakteristikum der griechisch -judäischen Geisteshaltung und hat sich auf das Christentum übertragen. Sowohl das klassische wie das christliche Weltgefühl ringen um eine Ordnung der Wirklichkeit unter dem Regulativ der Sprache. Literatur, Philosophie, Theologie, Jurisprudenz, sämtliche überlieferten Künste, sind Bemühungen innerhalb der Grenzen rationaler Mitteilbarkeit, die Summe menschlicher Erfahrung in ihrer aufgezeichneten Vergangenheit, ihrem gegenwärtigen Zustand und künftigen Aussichten festzuhalten.

Der  Codex Justinianus,  die  Summa  des THOMAS von AQUIN, die Weltchroniken und Kompendien des mittelalterlichen Schrifttums, die  Divina Commedia,  sie alle sind Versuche totaler Umschließung. Sie legen freilich Zeugnis ab für den Glauben, daß alles Wahre und Erfaßbare - bis auf eine kleine wunderliche Spanne am äußersten Ende - in den Mauern der Sprache unter Dach und Fach gebracht werden kann.

Dieser Glaube ist nicht länger universal. Das Vertrauen in ihn verringert sich nach der Epoche von MILTON. Ursache und geschichtlicher Ablauf dieser Verringerung werfen ein deutliches Licht auf die Gegebenheiten der neuzeitlichen Literatur und Sprache.

Es geschah im Verlauf des siebzehnten Jahrhunderts, daß bedeutsame Bereiche der Wahrheit, der Wirklichkeit und des Handelns aus der Sphäre verbaler Feststellung entschwanden. Im Ganzen gesehen läßt sich sagen, daß bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein Inhalt und Tendenz der Naturwissenschaften einen überwiegend beschreibenden Charakter trugen:

Die Mathematik hatte ihre weit zurückgehende Geschichte symbolischer Zeichensetzung; doch selbst die Mathematik war nur eine Kurzschrift für verbale Lehrsätze, die erst anwendbar und bedeutungsvoll im Rahmen sprachlicher Beschreibung wurden. Mathematisches Denken war, von gewissen bedeutsamen Ausnahmen abgesehen, an die materiellen Bedingungen der Erfahrung geknüpft. Diese wiederum wurden geordnet und festgelegt mit Hilfe der Sprache. Während des siebzehnten Jahrhunderts hörte das auf, eine Revolution setzte ein, die das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit für immer umformen und seine Denkmuster radikal verändern sollte.

Mit der Formulierung der analytischen Geometrie und der Theorie algebraischer Funktionen, mit der Entwicklung des Kalküls durch NEWTON und LEIBNIZ, hörte Mathematik auf, eine wissenschaftliche Notation in der Schwebe, ein Instrument der Empirik zu sein. Aus ihr wird eine unwahrscheinlich reiche, komplexe und dynamische Sprache.  Und der Werdegang dieser Sprache ist der einer fortschreitenden Un-Übersetzbarkeit. 

Noch ist es möglich, die Vorgänge aus der klassischen Geometrie und der klassisch funktionellen Analytik in Wortäquivalente oder zumindest in enge Annäherungen zu übersetzen. Sobald jedoch die Mathematik in die Moderne einbiegt und anfängt, ihre ungeheuren Kräfte autonomer Begrifflichkeit sehen zu lassen, wir eine derartige Übersetzung weniger und weniger möglich.

Die großartigen Gebilde aus Form und Bedeutung, die von GAUSS, CAUCHY, ABEL, CANTOR und WEIERSTRASS ersonnen wurden, ziehen sich mit zunehmender Geschwindigkeit aus der Sprache zurück, beziehungsweise sie erfordern und entwickeln eigene Ausdrucksweisen, die ebenso artikuliert und hochentwickelt sind wie diejenigen der verbalen Rede. Und die Brücken zwischen diesen neuen Ausdrucksweisen und der allgemein gebräuchlichen Sprache, zwischen dem mathematischen Symbol und dem Wort, werden dünner uns spärlicher, bis sie letzten Endes ganz abgebrochen werden.

Zwischen den Verbalsprachen, und mögen sie im Zuschnitt und Gebrauch ihrer Syntax noch so entlegen sein, besteht immer die Möglichkeit, ein Äquivalent als Ersatz einzusetzen, selbst wenn die eigentliche Übersetzung nur zu rohen Ungefähr-Resultaten führt. Das chinesische Ideogramm kann mit Hilfe von Umschreiben oder lexikalischen Erklärungen transponiert werden. Doch gibt es keinerlei Wörterbücher, die Vokabular und Grammatik der höheren Mathematik mit denen der verbalen Sprache in Beziehung setzen.

Wir haben es hier mit einem Faktum von ungeheurer Bedeutsamkeit zu tun, wodurchd as Erfahren und Wahrnehmen der Wirklichkeit in zwei gesonderte Bereiche aufgeteilt wurden. Die einschneidenste Veränderung im Tenor des westlichen intellektuellen Lebens seit dem siebzehnten Jahrhundert liegt also in der sukzessiven Unterwerfung weiter Wissensgebiete unter die Prinzipien und Methoden der mathematischen Wissenschaften.

Wie man häufig beobachten konnte, entwickelt sich ein Forschungszweig aus dem vorwissenschaftlichen Stadium zur vollen Wissenschaft, sobald er nach mathematischen Disziplinen gegliedert werden kann. Es ist die aus sich selbst wirkende Entwicklung von formelhaften und statistischen Werten, die einer Wissenschaft ihre eigenen dynamischen Möglichkeiten verleiht. So sind durch das Handwerkszeug der mathematischen Analyse die Chemie und Physik aus der Alchemie in die vorausschauenden Voll-Wissenschaften umgeformt worden, die sie heute darstellen.

Vermöge der Mathematik räumen die Sterne das Feld der Mythologie und ziehen an den Tabellentisch der Astronomen. Und sobald die Mathematik sich gewissermaßen im Knochenmark einer Wissenschaft festsetzt, werden die Begriffe dieser Wissenschaft, ihre Erfindungs- und Verständnisweise beständig weniger reduzierbar auf diejenigen der Umgangssprache.

Es ist anmaßend, wenn nicht gar verantwortungslos, Grundbegriffe in unserem gegenwärtigen Muster vom Weltall anzuführen wie Quantentheorie, Relativitätstheorie, Indeterminationsprinzip, oder den Paritätsmangel bei sogenannten schwachen Wechselwirkungen atomarer Partikel, sofern man es nicht in der für diese Begriffe angebrachten Sprache tut, das heißt in mathematischen Wendungen.

Ohnedies bleiben solche Begriffe Phantasmen, hinter denen Philosophen und Journalisten ihre falschen Vorstellungen und Prätentionen verbergen. Da die Physik diese Begriffe aus der Gemeinsprache entlehnen mußte, hat es den Anschein, als hätten einige dieser Wörter eine allgemeine Bedeutung beibehalten; sie nehmen sich aus wie Metaphern. Das aber ist eine Täuschung.

Vor einer solchen Täuschung müssen wir uns bewahren. Die Chemie benutzt zahlreiche Redewendungen, die aus ihrer deskriptiven Anfangsstufe herrühren; aber die Formeln der modernen Molekularchemie sind in Wirklichkeit eine Kurzschrift, deren Fachsprache nicht die der verbalen Rede, sondern die der Mathematik ist. Eine chemische Formel ist keine Abkürzung einer linguistischen Feststellung - sie kodifiziert eine numerische Entwicklung. In einer interessanten Übergangsposition steht die Biologie. Ursprünglich war auch sie eine deskriptive Wissenschaft, angewiesen auf eine ebenso präzise wie zum Verstehen anregende Sprachverwendung.

Heute stehen weite Gebiete der Biologie, wie die Genetik, vorwiegend unter mathematischer Disziplin. Überall dort, wo die Biologie sich auf die Chemie zubewegt - und gegenwärtig ist Biochemie das non plus ultra - läuft das auf ein Verlassen des beschreibenden zugunsten des aufzählenden Elements hinaus. Das Wort wird zugunsten der Zahl aufgegeben.

Diese Ausweitung der mathematischen Wissenschaften in bedeutende Bereiche des Denkens und Handelns hat das westliche Bewußtsein in das zerissen, was C.P. SNOW "die zwei Kulturen" nennt. Bis in die Zeit von GOETHE und HUMBOLDT war es für einen Menschen von ausnehmender Begabung und Aufnahmefähigkeit möglich, sich in beiden Kulturen, der humanistischen und der mathematischen, heimisch zu fühlen. Noch LEIBNIZ brachte es fertig, in beiden Richtungen bedeutende Beiträge zu liefern. Heutzutage ist so etwas nicht mehr möglich.

Die Kluft zwischen der Sprache aus Worten und der aus mathematischen Zeichen wird beständig tiefer, und an beiden Rändern dieser Kluft stehen Männer, die in bezug aufeinander Analphabeten sind. Denn letzten Endes liegt genau so viel Unbildung darin, wenn jemand die Grundbegriffe der Differentialrechnung oder der sphärischen Geometrie nicht kennt, wie wenn er nicht mit den Regeln der Grammatik vertraut ist.

Aber außer in Momenten von bedrückender Klarsicht, verhalten wir uns bis jetzt nicht so, als wäre das wahr. Wir geben uns nach wie vor den Anschein, als wäre die humanistische Autorität, die Sphäre des Wortes allbeherrschend. Noch immer wurzelt die Vorstellung von wesentlicher Bildung in den klassischen Werten im Sinne von Debatte, Redekunst und Dichtung. Aber das beruht auf Unwissenheit oder einem Mangel an Vorstellungskraft.

Die Kalküls, die CARNOTschen Gesetze, MAXWELLs Konzeption des elektromagnetischen Feldes, umfassen nicht nur Bereiche der Wirklichkeit und des Handelns, die ebenso imposant und bedeutend sind wie die in den klassischen Literaturen, sondern sie vermitteln uns ein Bild von der wahrnehmbaren Welt, das sehr wahrscheinlich dem wahren Tatbestand näher kommt als sich aus irgendeinem Gebilde verbaler Feststellung entnehmen ließe.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß das Integral und Differential das Alphabeth, das A und O unparteiischer Wahrnehmung sind. Der heutige Humanist befindet sich in der Position jener hartnäckig gekränkten Geister, die sich die Erde weiterhin als einen flachen Tisch vorstellten, nachdem sie längst umsegelt war; oder jener Menschen, die nicht aufhören wollten, an verborgene Triebkräfte zu glauben, nachdem NEWTON die Gesetze von Bewegung und Trägheit formuliert hatte.

Diejenigen unter uns, die sich aus unserer Unkenntnis der exakten Wissenschaften dazu verführen lassen, sich das Universum durch einen Schleier nicht- mathematischer Sprache auszumalen, leben in einer Welt frohgemuter Fiktion. Die eigentlichen Tatsachen - die raumzeitliche Verbindung der Realität, die atomare Struktur aller Materie, die Wellen-Natur der Energie - sind vom Worte her nicht mehr zugänglich, und es ist daher durchaus kein Paradox, zu behaupten, daß in kardinalen Bezügen jetzt Realität  außerhalb  der verbalen Sprache beginnt. Die Mathematiker wissen das auch.
"Die Mathematik", so stellt ANDREAS SPEISER fest, "hat durch ihre geometrische Anlage und später durch ihre rein symbolische Konstruktion die Fesseln der Sprache abgeschüttelt ... die heutige Mathematik ist auf ihrem Gebiet in der intellektuellen Welt leistungsfähiger als es die modernen Sprachen in ihrem bedauernswerten Zustand oder gar die Musik an ihren jeweiligen Fronten sind."
Unter den Humanisten sind sich nur wenige der Reichweite und Natur dieses bedeutsamen Wandels bewußt. Immerhin haben manche der überlieferten humanistischen Wissenszweige bereits ein tiefes Unbehagen erkennen lassen, eine nervös-verworrene Bestätigung der hohen Anforderungen und Erfolge auf Seiten der Mathematik und Naturwissenschaften.

Was sich in den Rängen der Geschichtswissenschaft, der Volkswirtschaftslehre und in den (bezeichnenderweise so genannten) "Sozialwissenschaften" vollzogen hat, könnte man als einen Trugschluß der nachgeahmten Form bezeichnen. Bei jedem der genannten Fachgebiete beruht die Vorlesungsmethode noch fast vollständig auf der Wortsprache. Aber schon haben Historiker, Wirtschaftler und Soziologen versucht, der verbalen Matrix etwas von der mathematischen Verfahrensweise, beziehungsweise ihrer unbeugsamen Strenge aufzupropfen. Sie sind, was den letztlich provisorischen und ästhetischen Charakter ihrer eigenen Bestrebungen betrifft, zunehmend in die Defensive gedrängt worden.

Man beachte nur, wie sehr der Kult des Positiven, des Exakten und der schlüssig dezidierten Aussage in die Geschichtsforschung eingedrungen ist. Die entscheidende Wende tritt ein im neunzehnten Jahrhundert mit den Arbeiten von RANKE, COMTE und TAINE. Historiker begannen, ihren Stoff als eine Ansammlung einzelner Elemente im Schmelztiegel eines kontrollierten Versuchs zu betrachten. Aus der unvoreingenommenen Untersuchung von einst (wobei solche Unvoreingenommenheit tatsächlich immer eine naive Illusion ist) entstanden dann jene statistischen Diagramme, jene Periodizitäten nationaler und wirtschaftlicher Energien, die es dem Historiker gestatten, "geschichtliche Gesetze" zu formulieren.

Gerade diese Auffassung von der geschichtlichen "Gesetzlichkeit", sowie die Einbeziehung von Zwangsläufigkeit und Vorausbestimmtheit, die für TAINE, MARX und SPENGLER grundlegend sind, sind aber eine Anleihe aus der Sphäre der exakten und mathematischen Wissenschaften.

Der falsche Ehrgeiz nach wissenschaftlicher Strenge und Voraussage hat so manche geschichtliche Arbeit von ihrem wirklichen Wesen, das recht eigentlich künstlerischer Natur ist, abgelenkt. Ein großer Teil dessen, was augenblicklich für Geschichtsschreibung gehalten wird, hat kaum etwas mit Schreiben zu tun. Die Schüler von NAMIER - er selber nicht - möchten Männer wie GIBBON, MACAULAY oder MICHELET in die Rumpelkammer der  belles lettres,  der Schöngeister, sperren.

Eine falsche und illusorische Vorstellung von Wissenschaftlichkeit zusammen mit dem guten alten akademischen Dünkel zielen darauf ab, aus dem jungen Historiker ein mageres Frettchen zu machen, das an dürren Fakten und Zahlen des Augenblicks knabbert. Er schwelgt in Fußnoten und schreibt seine Monographien in einem Stil, der so unliterarisch wie möglich ist, um so den wissenschaftlichen Hang seines Gewerbes zu demonstrieren.

Eine der wenigen Persönlichkeiten unter den heutigen Geschichtsschreibern, die bereit sind, ganz unverstellt die dichterische Natur der historischen Vorstellungskraft zu verteidigen, ist Frau C. WEDGWOOD. Unumwunden räumt sie ein, daß jeder Stil, jede Ausdrucksweise die Möglichkeit einer Verdrehung und Entstellung mit sich bringt:
"Es gibt keine literarische Stilrichtung, die nicht an einem bestimmten Punkt etwas von dem feststellbaren Umriß der Wahrheit wegnimmt, was dann Aufgabe der Gelehrsamkeit ist, ausgegraben und von neuem wiederaufgestellt zu werden."
Wenn aber diese Ausgrabung jeglichen persönlichen Stil preisgibt und sich in die falsche Vorstellung unparteiischer Exaktheit flüchtet, dann wird nur Plunder und Staub ans Tageslicht gezogen.

Auch die Wirtschaftswissenschaften können so betrachtet werden: ihre klassischen Lehrmeister ADAM ADAM SMITH, RICARDO, MALTHUS, MARSHALL - sie alle waren Meister eines guten Prosastils, der sich auf Sprache verließ, um zu erläutern, zu begründen und zu überzeugen. Dann setzte im neunzehnten Jahrhundert die Entwicklung der mathematischen Wirtschaftswissenschaften ein.

KEYNES war vielleicht der letzte, der die Spanne zwischen den humanistisch und den mathematisch orientierten Zweigen seiner Wissenschaft überbrückte. Während einer Diskussion über die verschiedenen Beiträge RAMSEYs zum Wirtschaftsdenken wies KEYNES schon seinerzeit darauf hin, daß einige von ihnen, so wegweisend sie im einzelnen auch seien, doch mathematische Überlegungen einbezogen, die eben zu feingesponnen für den Laien wie für den Volkswirtschaftler alter Schule seien.

Inzwischen hat sich die Kluft ungeheuerlich erweitert; die Ökonometrik ist drauf und dran, die Wirtschaftswissenschaft zu überflügeln. Kardinalbegriffe wie  Werttheorie, Zyklen, Produktionskapazität, Liquidität, Inflation, input-output,  befinden sich im Übergangsstadium. Sie bewegen sich vom Sprachlichen zum Mathematischen, vom Rhetorischen zur Gleichung.

Das Alphabeth der modernen Volkswirtschaftler ist nicht mehr in erster Linie das Wort, sondern mehr das Diagramm, die graphische Darstellung und die Zahl. Das Denken in wirtschaftlichen Kategorien, das auf unsere Gegenwart den stärksten Einfluß ausübt, bedient sich also der analytischen und voraus berechnenden Feinwerkzeuge, die im neunzehnten Jahrhundert von den praktischen Analytikern der Mathematik geschmiedet worden sind.

Ganz besonders deutlich und ärgerniserregend zeichnen sich die Verlockungen der exakten Wissenschaften auf dem Gebiet der Soziologie ab. Ein großer Teil dessen, womit die gegenwärtigen Sozialwissenschaften aufwarten, ist aliterarisch, oder genauer gesagt, antiliterarisch und wird in einen Fachjargon von vehementer Verschwommenheit hineingepreßt. Wo es irgend geht, wird das Wort, wird die Grammatik gebildeter Observanz ersetzt durch die statistische Tabelle, die Kurve, die graphische Darstellung. Und dort, wo eine verbale Ausdrucksweise nicht zu umgehen ist, nimmt die Soziologie Anleihen bei den exakten Wissenschaften auf, wo sie nur irgend kann.

Eine lange faszinierende Liste ließe sich aufstellen von diesen ausgeborgten Begriffen. Betrachten wir nur einmal die auffälligsten:  Normen, Gruppe, streuen, Integration, Funktion, Koordinaten,  von denen jedes einen spezifisch mathematischen oder technischen Inhalt hat. Ihrer eigentlichen Bedeutung beraubt und gewaltsam in einen fremden Rahmen gestellt, bekommen diese Ausdrücke einen verwischten und prätentiösen Charakter. Sie wirken anmaßend und erweisen ihren neuen Herren einen schlechten Dienst.

Immerhin: indem der Soziologe sich eines Kauderwelsch wie "Kulturkoordinaten" und "Adelsgruppen-Integrierung" bedient, stattet er damit nur eine inbrünstige Hochachtung vor einer Fata Morgana ab, die seit dem siebzehnten Jahrhundert alle rationale Forschung verfolgt - der Fata Morgana mathematisch exakter Vorausschau.

Nirgendwo dagegen hat sich der RÜckzug aus dem Worte entschiedener vollzogen, und nirgendwo überrascht er uns mehr als bei der Philosophie. Das klassische wie das mittelalterliche Denken waren gänzlich an die Erhabenheit der Sprache und ihre Findigkeit gebunden, und dies in dem Glauben, daß das Wort, mit der erforderlichen Genauigkeit und Feinheit eingesetzt, das Ich mit der Wirklichkeit in Einklang brächte.

PLATON, ARISTOTELES, DUNS SCOTUS, THOMAS von AQUIN, sie alle sind Meisterbildner im Worte. Nach allen Seiten errichten sie um die Realität ihre großartigen Architekturen aus Behauptung, Definition und Scharfsinn. Sie operieren mit einer Form der Aussage, die sich von denen der Dichter unterscheidet; aber sie teilen mit dem Dichter die Annahme, daß Wörter in sich verantwortungsbewußte Fassungskräfte für die Wahrheit und Wirklichkeit ansammeln und erzeugen. Wiederum tritt der Wendepunkt im siebzehnten Jahrhundert ein mit DESCARTES stillschweigender Gleichsetzung von Wahrheit und mathematischer Beweisführung; vor allem aber mit SPINOZA.

Seine  Ethik  macht die gewaltige, die furchterregende Einwirkung deutlich, die die neuentdeckte Mathematik auf ein philosophisches Temperament ausübt. In der Mathematik spürte SPINOZA jene strenge Bestimmtheit, jene logische Folgerichtigkeit und majestätische Schlüssigkeit, auf der die Hoffnung aller Metaphysiker beruht.

Nicht einmal die gründlichsten und gewissenhaftesten scholastischen Argumente mit ihrem großen Aufgebot an Syllogismen und Lemmata (Annahmen) könnten mit jener Fortentwicklung aus Axiom über Beweisführung zur neuen Schlußfolgerung konkurrieren, die in der Euklidischen und der analytischen Geometrie anzutreffen ist. Infolgedessen sucht SPINOZA mit einer superben Naivität aus der Sprache der Philosophie eine Mathematik zu machen. Daher die Gliederung der  Ethik  in Axiome, Definitionen, Beweisführungen und Ableitungen. Daher das stolze  q.e.d.  (quod errat demonstrandum = was zu beweisen war) am Schluß einer jeden Themenreihe.

Es ist ein merkwürdig fesselndes Buch, so klar und durchsichtig wie die Brillengläser, durch die SPINOZA das Leben betrachtete. Aber Zugeständnisse macht er keine. Es ist eine hochentwickelte und durchgearbeitete Tautologie. Im Unterschied zu der Zahl enthalten Wörter in sich ja keine funktionellen Wirksamkeiten. Addiert oder geteilt ergeben sie nur weitere Buchstabengruppen beziehungsweise andere Annäherungen an ihre eigene Bedeutung. SPINOZAs Beweisführungen geben lediglich nachdrückliche Versicherungen ab; den letzten Beweis können sie nicht geben.

Nichtsdestoweniger war der Versuch von prophetischer Bedeutung, denn er konfrontiert alle nachfolgenden metaphysischen Lehren mit einer Zwangslage; nach SPINOZA erkennen die Philosophen, daß sie die Sprache verwenden, um die Sprache zu klären, so wie die Schleifer die Diamanten verwenden, um andere Diamanten zu formen. Sprache wird nicht mehr als ein Pfad zur beweisbaren Wahrheit angesehen, vielmehr als eine Spirale oder eine Galerie von Spiegeln, die den denkenden Verstand an seinen Ausgangspunkt zurückführt. Mit SPINOZA verliert die Metaphysik ihre Unschuld.

Symbolische Logik, von der man einen ersten Anflug schon bei LEIBNIZ finden kann, ist der Versuch, den Kreislauf zu durchbrechen. Zunächst, in den Arbeiten von BOOLE, FREGE und HILBERT, war symbolische Logik als ein besonders geeichtes Instrument ausersehen und dazu bestimmt, den inneren Zusammenhang der mathematischen Beweisführung zu testen. Bald aber sollte ihr eine wesentlich erweiterte Bedeutung zukommen.

Der Symbol-Logiker konstruiert ein radikal vereinfachtes, doch in sich selbst vollkommen unbeugsames und konstistentes Muster. Er erfindet, beziehungsweise postuliert eine Syntax, frei von Mehrdeutigkeiten und Ungenauigkeiten, die Geschichte und Gebrauch in die Alltagssprache hineingetragen haben. Er übernimmt die angestammten mathematischen Ableitungsmethoden und wendet sie auf andere Denkarten an, um festzustellen, ob solche Bedingungen Gültigkeit besitzen. Kurz gesagt, der Symbol-Logiker sucht entscheidende Gebiete der philosophischen Untersuchung zu objektivieren, indem er über die Sprache hinausgeht.

Von nun an findet das nicht-verbale Instrument mathematischer Symbolik auch auf moralische Verhaltensweisen, ja sogar auf die Ästhetik Anwendung. Die uralte Vorstellung von einem Kalkül des moralischen Impulses, einer Algebra von Lust und Leid, feiert somit ihre Wiederauferstehung. Eine ganze Anzahl von zeitgenössischen Logikern hat sich schon bemüht, eine berechenbare Basis für den Akt der ästhetischen Wahl zu bestimmen. Es gibt kaum noch einen Zweig der modernen Philosophie, in dem wir nicht die römischen Ziffern, die Kursivbuchstaben, Wurzelzeichen und Richtungspfeile antreffen, womit der Symbol-Logiker die Unzahl angestaubter und widerspenstiger Wörter zu ersetzen sucht.
LITERATUR - George Steiner, Sprache und Schweigen, Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt/Main 1969