tb-2ra-3Der Wiener Kreis   
 
OTTO NEURATH
Soziologische Prognosen

Ethik, Rechtslehre, Marxismus
Die Einheitswissenschaft

Durch gewisse absolutistische Formulierungen werden viele Diskussionen über den Aufbau der Soziologie schwer durchschaubar.

Wir bemühen uns, über den Tagesbedarf der Forschung hinaus die Formulierungen der verschiedenen Disziplinen derart konsequent auszubauen und einander anzugleichen, daß man von einer Wissenschaft zur nächsten übergehen kann, ohne die wissenschaftliche Sprache grundsätzlich ändern zu müssen. Im Rahmen solchen Bemühens, das manche als philosophisches Bemühen bezeichnen, weil es den Rahmen der Einzelwissenschaften überschreitet, wollen wir die Eingliederung soziologischer Prognosen kurz skizzieren.

In den wissenschaftslogischen Erörterungen wird recht selten an soziologischen Sätzen exemplifiziert. Manche meinen, das hänge damit zusammen, daß in der Soziologie für die Anwendung der Mathematik kein Raum sei. Das kann nicht der Grund sein, denn es gibt viele soziologische Betrachtungen, innerhalb deren hochentwickelte mathematische Hilfsmittel, z.B. die Wahrscheinlichkeitsrechnung verwendet werden; man denke auch an die mathematischen Bestandteile der nationalökonomischen Konjunkturlehre. Wohl aber sind die meisten soziologischen Regeln, die uns bei der Ableitung von Prognosen helfen, so formuliert, daß sie nur für relativ komplexe Gebilde bestimmter räumlicher oder zeitlicher Gebiete Geltung haben. Hat man etwa konstante Größenbeziehungen zwischen den Veränderungen des Analphabetismus und der Kriminalität in einigen Städten eines gegebenen Gebietes in einer bestimmten Periode festgestellt, dann wird man wohl vermuten, daß die gleichen Größenbeziehungen in gewissem Ausmaß auch für die übrigen Städte dieses Gebietes gelten, aber man wird nur zögernd annehmen, daß sie auch für andere Zeiten und andere Länder gelten und erst recht nicht etwa für Städte, die auf dem Mars entdeckt werden.

Wie anders verhält sich im allgemeinen der Physiker. Findet er auf dem Mars Uranerz, so wird er ohne langes Zögern annehmen, daß die Formeln, die den Zerfall des Uran kennzeichnen, auch dort Geltung haben. Und doch können wir eine Auffassung vertreten, welche die Prognosen des Physikers und die des Soziologen in einer Gruppe vereinigen und nur gradweise Unterschiede in Hinblick auf den Anwendungsbereich feststellen. Alle unsere wissenschaftlichen Prognosen beruhen wesentlich darauf, daß gewisse Größenbeziehungen ausreichend konstant bleiben, obgleich sich die Gesamtbedingungen sicher geändert haben. Während man in der Soziologie Erfahrungen nur wenig extrapoliert, weil man voraussetzt, daß die üblichen Änderungen der Gesamtbedingungen die Größenbeziehungen zwischen bestimmten Vorgängen ändern werden, nimmt der Chemiker an, daß ein großer Teil der von ihm für Prognosen verwendeten Regeln innerhalb der für ihn praktisch in Frage kommenden Grenzen unverändert verwendet werden könne.

Man könnte nun sagen, daß die Gebiete, für welche wir die Regeln anwenden, in einzelnen Fällen verschieden groß sind, um auf diese Weise die Prognosen, die sich auf Städte, Wälder, Uranerze und Wassermassen beziehen, in gleicher Weise behandeln zu können. Die "Gesetze" der Physik würden dann im Sinne dieser Auffassung nur ein bestimmtes, wenn auch ungeheueres Gebiet bestreichen, dessen Grenzen im ganzen unbestimmt gelassen, aber von vornherein vermutet werden. Dem Wiener Kreis liegt eine solche Relativisierung und Historisierung nahe, hat doch schon ERNST MACH vor allen Überschwenglichkeiten physikalischer Prognosen gewarnt und z.B. die Frage aufgeworfen, was denn das Trägheitsgesetz für einen Sinn haben sollte, wenn einmal alle Sterne durcheinanderliefen. Wer also die Anwendbarkeit bestimmter physikalischer, biologischer, soziologischer Annahmen über Beziehungen von irgendwelchen Größen für die Zukunft ins Auge faßt, macht damit sozusagen immer auch eine kosmologische Prognose, innerhalb deren mit Hilfe mehr oder minder bestimmter Hypothesen Einzelprognosen aufgestellt werden. Während aber vorsichtige Soziologen die Grenzen regelmäßig anzugeben suchen, reden Physiker selten davon, daß alle ihre Gesetze mit gewissen kosmologischen Vorbehalten ausgesprochen werden müßten; Astronomen liegt es eher nahe, etwa Betrachtungen darüber anzustellen, ob der Zerfall des Urans nicht von einer kosmologischen Gesamtlage abhänge, die sich vielleicht in einigen Millionen Jahren ändere.

Daß sehr viele astronomische Prognosen, daß sehr viele physikalische Laboratoriumsprognosen usw. sich wesentlich besser bewähren als die Mehrzahl der soziologischen Prognosen, ist richtig, hängt aber nicht mit einer spezifischen Eigenart der soziologischen Prognosen zusammen. Metereologische Prognosen, die es mit komplizierteren Zusammenhängen zu tun haben, sind weniger präzise als die meisten astronomischen. Prognosen, die sich etwa auf das Auftreten von Erdbeben beziehen, sind wohl nicht wesentlich besser als Prognosen, die das Auftreten von Revolutionen und Kriegen betreffen. Übrigens prognostizieren dieselben Astronomen, die im allgemeinen so gut die Bahnen neu enstandener Doppelsysteme voraussagen, sehr schlecht das Auftreten solcher neuer Doppelsterne.

Die hier skizzierte kosmologische Gesamtauffassung ist in gewissem Maße bei HARALD HÖFFDING angedeutet, der sie gegenüber der Anschauung der Heidelberger vertrat, die von "zwei prinzipiell verschiedenen Arten der wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit" (RICKERT) ausgehen, von der "nomothetischen" oder "generalisierenden" und von der "idiographischen" oder "individualisierenden" die in allerlei Mischungen auftreten sollen. Die Hartnäckigkeit, mit der sich diese Zweiteilung in vielen Abwandlungen und Verschleierungen forterhält, hängt wohl mit gewissen metaphysischen Neigungen zusammen, die viel älteren Ursprungs sind; die besondere Welt des Himmels ist nunmehr der besonderen Welt des Menschen gewichen, die der übrigen Welt gegenübertritt. Es soll die besondere Welt der "Freiheit", des "Geistes", der "inneren Erfahrung", der "Normen" oder die der "Werte" sein.

Innerhalb der Wissenschaft kommt es vor, daß wir bestimmte Vorgänge mit Erfolg prognostizieren können, ohne daß die so prognostizierten Größen selbst wieder als Voraussetzungen neuer Prognosen verwendet werden können. Es kann z.B. sein, daß man im Rahmen einer Wirtschaftsbetrachtung eine bestimmte Veränderung menschlicher Lebenshaltung unter bestimmten gegebenen Bedingungen prognostiziert hat, ohne daß man nun diese Veränderung selbst wieder als Element weiterer Prognosen verwenden würde.

Oft sammelt man Daten, ohne daß man vorher angeben kann, zu welchen Prognosen man sie wohl einmal mittelbar oder unmittelbar werde verwenden können. Die Art dieser mehr "zufälligen" Notizen der Physiker, Entdeckungsreisenden, Historiker, die oft große Bedeutung gewinnen, hängt aber natürlich wesentlich von der gesamten wissenschaftlichen Einstellung ab. Das gilt noch mehr von allen Schilderungen und Beschreibungen, auch wenn sie sich nicht auf eine genauere wissenschaftliche Analyse einlassen. Ein Historiker des 19. Jahrhunderts in Europa trifft bei seiner Beschreibung eine andere Auswahl als etwa ein griechischer zur Zeit Alexander des Großen, aber auch ein Chronist des 16. Jahrhunderts eine andere als ein Chronist des 13. Jahrhunderts im selben Gebiet.

Natürlich spielt auch die persönliche Einstellung bei all solcher Auswahl eine Rolle, ebenso das Interesse der Leser. Das gilt von Reisebeschreibungen, wie von Sportbeschreibungen und von historischen Darstellungen, aber auch von geologischen oder biologischen, selbst physikalischen zumal wenn bestimmte außerwissenschaftliche Interessen der Verfasser und Leser durch die Darstellung berührt werden. Es ist psychologisch interessant, den Einfluß solcher persönlicher Momente näher zu analysieren aber es ist kein Anlaß dazu da, darin eine besondere "Wertbezogenheit" des Historischen zu erblicken, wodurch es über die profanen Sphären des Physikalischen hinausgehoben werde, eine Auffassung, die wir außer bei den Heidelbergern auch sonst in irgendeiner Form antreffen.

Metaphysische Strömungen der Gegenwart suchen sich innerhalb aller Einzelwissenschaften zu entfalten. Da sie die Physik und Biologie nicht verschonen, ja auch nicht die Logistik, warum sollten sie innerhalb der Soziologie sich nicht stark bemerkbar machen, wo überdies sonst noch Anlaß ist, emotionelle Momente wirksam werden zu lassen. Die Tatsache etwa, daß man viele Prognosen im Interesse wissenschaftlichen Erfolgs heute auf eine breitere Basis zu stellen sucht, die Tatsachen, daß man statt isolierter Elemente größere Gruppen in Betracht zieht, z.B. nicht nur das Leben einzelner Pflanzen untersucht, sondern das von Faunen und Floren zusammen mit ihrer Umgebung, hat zu einer Ganzheitsmetaphysik Anlaß gegeben, die sich insbesondere auch auf dem Boden der Soziologie bemerkbar macht.

Durch gewisse absolutistische Formulierungen werden viele Diskussionen über den Aufbau der Soziologie schwer durchschaubar. Manchmal geht man z.B. von der vollständigen Prognose als Ideal aus und fragt nun, in welchem Maße man diesem Ideal nahekommen könne, statt sich darauf zu beschränken, die erfolgreichen von den weniger erfolgreichen Prognosen zu sondern. Oder man beginnt z.B. die Frage aufzuwerfen, in welchem Maße große Männer auf die Geschichte eingewirkt haben, statt die vorsichtigere Formulierung zu wählen: welche Elemente ermöglichen uns einigermaßen erfolgreiche Prognosen? Man könnte etwa festzustellen suchen, ob man das Verhalten menschlicher Gruppen in gewissem Umfang prognostizieren kann, ohne das Schicksal einzelner Personen bestimmen zu können. Es könnte sich aber zeigen, daß gewisse Prognosen über große menschliche Gruppen nur dann gelingen, wenn man das Verhalten bestimmter Einzelpersonen prognostizieren kann. Nun fragt es sich weiter, ob man imstande ist, das Auftreten solcher Einzelpersonen vorauszusagen, und wenn nein, ob man ihr Leben in gewissem Maße prognostizieren kann, falls sie uns gegeben sind, oder ob wir wenigstens gewisse kurze sozial bedeutsame Lebensstücke prognostizieren können, falls wir Einzelmomente kennen. Man kann ja auch in der Astronomie einen neuen Kometen recht gut berechnen, wenn er einmal gegeben ist, obgleich man sein Auftreten vorauszusagen nicht imstande war.

In ähnlicher Weise kann man den Versuch machen, viele derartige Problemstellungen auf die Frage zu reduzieren, welche Sätze man als bekannt voraussetzen muß, um erfolgreiche Prognosen versuchen zu können. Sehr oft fragt man z. B. nach "Einwirkung" von "Recht", "Sitte", "Wirtschaft", "Staatsordnung" aufeinander, ohne vorher festgestellt zu haben, wie denn die Sätze aussehen müßten, mit Hilfe deren man kontrollierbare Sätze prognostiziert, und welche sprachliche Formen die Einzelprognosen annehmen würden. Es ist, wie sich zeigen läßt, mehr als fraglich, ob überhaupt Termini wie "Recht", "Sitte" usw. in solchem Zusammenhang erfolgreich weiter verwendet werden können. Daraus, daß man bestimmte Sätze als Rechtssätze kennzeichnen und auf ihren logischen Zusammenhang hin untersuchen kann, folgt noch nicht, daß diese so logisch analysierbare Gesamtheit mit anderen Gesamtheiten eben erwähnter Art erfolgreich durch die Wissenschaft in Verbindung gebracht werden kann. Daraus, daß man aus dem Text eines Krankenhausreglements logische Schlüsse ziehen kann, folgt noch nicht, daß Krankenhausreglements - dem "Recht" vergleichbar - innerhalb soziologischer Prognosen eine besondere Rolle zu spielen berufen sind. Natürlich kann man nach der Enststehung der Sätze aller Reglements mit Erfolg fragen, auch danach was für soziale Folgen es hätte, wenn sie präzise angewendet würden. "Recht", "Sitte" usw. werden leicht als besondere "Wesenheiten" behandelt und geben so zu mannigfachen metaphysischen Spekulationen Anlaß, die soziologischen Prognosen hinderlich sind.

Da vielen die alles umfassende Prognose als Ideal vorschwebt, sei darauf verwiesen, daß gerade auf soziologischem Gebiet sich gewisse Grenzen besonders deutlich zeigen. Wir wollen hier nicht von den Schwierigkeiten sprechen, die dadurch entstehen, daß wir die Prognostizierenden mit ihren Prognosen zusammen in unseren soziologischen Prognosen berücksichtigen müssen - die Prophezeiungen beeinflussen das Eintreten ihrer selbst. Aber auch folgendes drängt sich auf: wir können zwar ohne inneren Widerspruch voraussagen, wie drei Sterne in hundert Jahren zueinander stehen werden, aber nur mit innerern Widerspruch daß eine bestimmte Novelle, eine bestimmte Formel, eine bestimmte Bauidee zum erstenmal erst in hundert Jahren auftreten werde, denn indem wir diese Prognose in allen Einzelheiten formulieren, gibt es diese Novelle, diese Formel, diese Bauidee eben schon im Jahre 1936. Da man nun Novellen, Formeln, Bauideen usw. zum Reich des "Geistes" rechnet, als "Manifestationen" des Geistes ansieht, wird ein Metaphysiker leicht dazu kommen, unsere These, daß diese Prognose widerspruchsvoll wäre, als eine Bestätigung der Anschauung aufzufassen daß eben der Geist seine besonderen Geheimnisse hätte, was dann zu weiteren Spekulationen Anlaß geben mag.

Wer soziologische Prognosen formuliert, in denen die Namen menschlicher und tierischer Gruppen und andere Namen auftreten, wird noch leichter als der Physiker zugeben, daß er nicht über die "Verifikation" oder "Falsifikation" von Hypothesen entscheiden kann, indem er die Erfolge und Mißerfolge seines Prognostizierens gegeneinander abwägt. Wenn Physiker miteinander ein Problem diskutieren, sind sie sich über gewisse Grundfragen oft so einig, daß sie nicht immer bemerken, daß letzten Endes die Gesamtheit ihrer Hypothesen zur Debatte steht und nicht jener kleine Ausschnitt den sie gerade herausheben. Es gibt Momente in der Geschichte der Wissenschaften, in denen es darauf ankommt zu wissen, daß immer die Gesamtheit der Hypothesen in Zweifel gezogen werden kann.

Der vorsichtige Soziologe wird so in vielfacher Richtung zur Bescheidenheit gedrängt, wenn er die "kosmologischen Vorbehalte" betont, die "Verifikation" durch "Stützung" ersetzt oder sonst eine Einschränkung macht, die aller Art von Absolutismus widerspricht. Wenn er dafür plädiert, die soziologischen Prognosen wie die aller anderen Wissenschaften der Einheitswissenschaft des Physikalismus einzufügen, dann wird er weniger darauf hinweisen, daß die Soziologie ebenso Treffliches leistet, wie die erfolgreichsten Wissenschaften sondern darauf, daß gewisse Einschränkungen, die für die Soziologie offenbar Geltung haben, in gewissem Maße für alle Wissenschaften Geltung haben und daß die soziologischen Prognosen wissenschaftliche Prognosen wie alle anderen sind.
LITERATUR - Otto Neurath, Soziologie im Physikalismus; in Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg), Erkenntnis, Band 2/1931, Amsterdam 1967