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ALFRED SCHMITT
Helen Keller und die Sprache

Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten, über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie zu verblüffen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie verzaubert. Ein neues Licht trat in ihre Züge.

Wenn wir jetzt die Entwicklung von H. K.'s (HELEN KELLER) Geistesleben im Einzelnen verfolgen wollen, so müssen wir zunächst einmal Klarheit darüber zu gewinnen versuchen, wie es in ihrem Kopfe aussah, als Frl. S. (SULLIVAN) die Erziehung begann. Diese Frage ist natürlich allen, die sich mit H. K.'s Schicksal beschäftigt haben, besonders wichtig gewesen. Wenn es möglich wäre, darüber Genaueres festzustellen, so gewänne man dadurch eine Vorstellung, in welchem Maße ein sprachlich nicht geformtes Geistesleben möglich und wie es beschaffen ist. Von hier aus wären dann auch bedeutsame Erkenntnisse für die Tierpsychologie zu erwarten. Der normale Mensch kann über seine vorsprachliche Zeit nichts aussagen; sie liegt in zu früher Kindheit. Aber H. K. war beinah 7 Jahre alt, als ihr der Zugang zur Sprache eröffnet wurde. Daher lag der Gedanke nahe, daß man von ihr vielleicht Authentisches über dies Problem erfahren könnte. "Philosophen", sagt MACY, haben sich oft bemüht herauszubekommen, was für Vorstellungen sie von abstrakten Begriffen hatte, bevor sie die Sprache lernte".

Leider sind diese Bemühungen umsonst geblieben. Selbst wenn H. K. wirklich Vorstellungen dieser Art je gehabt haben sollte, fügt MACY gleich hinzu, so hat sie doch keinerlei Erinnerung daran. Aber der Gedanke der Philosophen, Aufschlüsse dieser Art von H. K. zu erhalten, war überhaupt, wie mir scheint, von vornherein etwas unphilosophisch. Denn erstens ist es klar, daß abstrakte Begriffe vor Erwerb der Sprache gar nicht möglich sind. Erst die Sprache schafft die Voraussetzung dafür, daß solche Begriffe entstehen können. Zweitens: alles, was sprachlich nicht geformt ist, kann sprachlich gar nicht dargestellt werden. Die Sprache kann nur darstellen mit Hilfe von Worten; alles, wofür noch keine Worte geschaffen sind, ist ihr unzugänglich; man kann höchstens durch Bilder oder durch Negation etwas darüber aussagen, nämlich feststellen, daß es anders ist als das Aussprechbare. Endlich drittens: der Mensch, der sprachlich etwas über seinen vorsprachlichen Zustand aussagt, ist nicht mehr dieser selbe vorsprachliche Mensch, sondern ein durch die Sprache umgeschaffener. Er kann nur beschreiben, oder wenigstens zu beschreiben versuchen, wie ihm jetzt als sprachlichem Menschen sein vorsprachlicher Zustand erscheint, aber nicht, wie dieser damals an sich selbst beschaffen war. Durch die Betrachtung von der Sprache aus wird etwas Neues in die vorsprachliche Geisteswelt hineingetragen, was damals nicht in ihr vorhanden war. Es ist etwas Ähnliches wie beim atomaren Geschehen, dessen Beobachtung nicht möglich ist, weil die Mittel der Beobachtung die Bedingungen des Beobachteten verändern.

H. K. spricht gelegentlich selber davon, daß sie über ihre vorsprachliche Zeit keine zuverlässigen Aussagen machen könne. "Man hat oft gefragt, was meine ersten Eindrücke von der Welt waren, in die ich mich hineingestellt fand. Aber jeder, der an seine ersten Eindrücke denkt, weiß, was für ein Rätsel das ist. Unsere Eindrücke wachsen und ändern sich, ohne daß wir es merken, und was wir 'glauben, als Kind gedacht zu haben, kann daher ganz verschieden sein von dem, was wir tatsächlich in unserer Kindheit erlebt haben'.

Trotzdem versucht aber H. K. doch mehr als einmal, ein Bild von ihrer vorsprachlichen Zeit zu entwerfen. In dem Buch: "Die Welt, in der ich lebe" ist ein ganzes Kapitel, überschrieben: "Vor der Morgendämmerung der Seele", dieser Frage gewidmet. Das Kapitel beginnt folgendermaßen: "Ehe meine Lehrerin zu mir kam, wußte ich nicht, daß ich bin. Ich lebte in einer Welt, die eine Nicht-Welt war. Ich kann nicht hoffen, eine angemessene Beschreibung von dieser unbewußten und doch bewußten Zeit des Nichts zu geben. Ich wußte nicht, daß ich lebte oder handelte oder begehrte. Ich hatte weder Willen noch Verstand. Ich ließ mich zu Dingen und Handlungen treiben durch einen gewissen blinden Naturtrieb, und ich hatte ein Bewußtsein, das mich Ärger, Befriedigung, Verlangen fühlen ließ. Diese beiden Tatsachen veranlaßten die Menschen meiner Umgebung zu der Annahme, daß ich Wollen und Denken besäße, Ich kann mich an all dies erinnern, nicht weil ich wußte, daß es so war, sondern weil ich Tastgedächtnis (tactual memory) besitze. Dieses setzt mich in den Stand, mich daran zu erinnern, daß ich niemals die Stirn in einem Akt des Denkens zusammenzog. Ich erwog nie etwas im Voraus oder wählte es. Ich weiß ebenso durch Tastgedächtnis, daß ich nie in einem Aufzucken meines Körpers oder in einem Schlag meines Herzens Liebe oder Besorgtheit für irgend etwas empfand. Mein inneres Leben damals war eine Leere ohne Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, ohne Hoffnung oder Erwartung, ohne Verwunderung oder Freude oder Glauben.

Ähnlich heißt es in dem späteren Buch  My Religion  (1927) auf Seite 30f: "Fast sechs Jahre lang hatte ich keinerlei Begriffe irgend welcher Art von Natur oder Geist oder Tod oder Gott. Ich dachte buchstäblich mit meinem Körper. Ohne eine einzige Ausnahme sind meine Erinnerungen an diese Zeit nur Tasterinnerungen. 30 Jahre lang habe ich diese Phase meiner Entwicklung geprüft und wieder geprüft im Lichte neuer Theorien, und ich bin überzeugt von der Richtigkeit dessen, was ich sage. Ich weiß, daß ich wie ein Tier den Trieb fühlte, Nahrung und Wärme zu suchen. Ich erinnere mich, daß ich weinte, aber nicht an den Kummer, der die Tränen hervorrief. Ich stieß mit den Füßen, und weil ich darauf mich physisch besinne, weiß ich, daß ich zornig war. Ich ahmte die Menschen meiner Umgebung nach, wenn ich Zeichen für Dinge machte, die ich essen wollte, oder wenn ich meiner Mutter im Garten Eier suchen half. Aber es ist kein Funke von Gemütsbewegung oder vernünftigem Denken in diesen deutlichen, aber rein körperlichen Erinnerungen. Ich war wie ein unbewußter Erdklumpen. Und dann, plötzlich, ich wußte nicht wie oder wo oder wann, fühlte mein Gehirn den Anstoß eines anderen Geistes, und ich erwachte zu Sprache, Wissen, Liebe, zu den üblichen Begriffen von Natur, von Gut und Böse. Ich wurde tatsächlich aus dem Nichts emporgehoben zu menschlichem Leben."

Es ist sehr verständlich, daß H. K., wenn sie aus ihrer späteren Geisteswelt zurückblickte in die vorsprachliche Zeit, dort nur ein absolutes Nichts zu sehen glaubte. Aber dieses Urteil ist ungerecht. Wenn sie erklärt, nur Erinnerungen rein körperlicher Natur an jene Zeit zu haben, so ist damit noch nicht bewiesen, daß ihr jedes geistige Leben damals gefehlt hätte. Nur konnte sie nicht, wie das normale Kind, ihre Vorstellungen an die akustisch-motorischen Gestalten der Lautsprache knüpfen. Für sie mußten stattdessen Sinneseindrücke und Bewegungsempfindungen anderer Art die Aufgabe übernehmen, als feste Punkte zu dienen, um die sich Vorstellungskomplexe kristallisieren konnten. Die Körperempfindungen, die ihr aus jener Zeit in Erinnerung geblieben sind, bildeten damals anstelle von Worten das Material, in dem sich die nebelhaft fließende Vorstellungswelt zur Form verdichtete und greifbar wurde. Sie sagt ja selbst. "Ich dachte buchstäblich mit meinem Körper." Das heißt doch: körperliche Empfindungen waren für sie das Denkmittel, wie für andere Menschen die Worte der Sprache. Oder anders ausgedrückt: Das Stoßen mit den Füßen war ihr .Wort" für 'Zorn, das Weinen ihr "Wort" für 'Kummer, das Drehen der Eismaschine ihr "Wort" für 'Eis usw. Freilich waren diese "Worte", wie oben besprochen, in ihrem Bedeutungsinhalt nicht auf Einzelgrößen beschränkt, sondern sie umfaßten Gesamtkomplexe. Aber das ist beim normalen Kind, am Anfang der Spracherlernung, im Stadium der sogenannten "Einwortsätze", in gleicher Weise der Fall.

Und im Grunde ist für H. K. auch im ganzen späteren Leben Träger des Denkens immer die Körperempfindung geblieben, nämlich die Empfindung der Bewegungen, die bei Verwendung des Fingeralphabets oder später der Lautsprache vollzogen wurden. Der Unterschied liegt nur darin, daß sie die Mittel der Tastwelt, in Analogie zu der Lautsprache der Vollsinnigen, allmählich in solcher Weise ausgebaut hatte, daß damit ein ebensolches Denken wie das der Vollsinnigen und der Gedankenaustausch mit diesen möglich war. Aber davon ist an späterer Stelle noch zu sprechen. Das "Denken mit dem Körper besagt also an sich noch nichts über Art und Grad von H. K.'s vorsprachlichem Geistesleben, und das Bild, das sie von diesem entwirft, beruht auf Phantasie und auf literarischer Anregung.

H. K. schildert den Geisteszustand ihrer vorsprachlichen Zeit wie den eines Tieres. Aber mit diesem Bilde läßt sich manches nicht vereinigen, was sie selbst von ihrer Jugend berichtet und was vor allem aus den Briefen und Berichten von Frl. S. darüber zu entnehmen ist. HELEN stand, als ihre Erziehung durch Frl. S. begann, 'nicht auf der Stufe eines Tieres. Und es ist sogar streng genommen nicht einmal berechtigt, ihren damaligen Zustand als einen vorsprachlichen zu bezeichnen, wie wir das im Vorhergehenden immer getan haben und auch im weiteren Verlauf der Arbeit im Bedarfsfalle der Kürze halber tun wollen. In Wirklichkeit hatte die Sprache H. K.'s Geist schon angerührt und ihre ersten Wirkungen auf ihn ausgeübt.

18 Monate alt war H. K., als sie durch ihre Krankheit Gesicht und Gehör verlor. Das ist ein Alter, in dem die Kinder schon in erheblichem Umfang Sprache verstehen, auch wenn sie selber noch nicht oder doch nur wenig sprechen. H. K. berichtet auch tatsächlich im ersten Kapitel ihrer Lebensgeschichte, daß sie vor ihrer Krankheit schon angefangen hatte, die Sprache zu erwerben. "Mit sechs Monaten konnte ich piepsen  how d'ye , und eines Tages zog ich die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich, als ich ganz deutlich sagte  tea, tea, tea . Sogar nach meiner Krankheit erinnerte ich mich noch an eines der Worte, die ich in jenen frühen Monaten gelernt hatte. Es war das Wort  water , und ich fuhr fort, etwas Lautartiges für dieses Wort hervorzubringen, als jeder sonstige Rest von Sprache verloren ging. Ich hörte erst auf, den Laut  wah-wah  auszustoßen, als ich gelernt hatte, das Wort zu buchstabieren". Das ist natürlich berichtet auf Grund der Erzählungen anderer. Frl. S. erwähnt einmal, daß sie das Wort water, zu einem unkenntlichen Lautgebilde zusammengeschrumpft, noch selbst in HELENs Munde gehört hat.

Die Zahl der Worte, die HELEN vor ihrer Krankheit selber sprach, war allerdings gering. Sie gehörte zu den Kindern, die sich lieber durch Zeichen verständlich machen und daher ihren aktiven Sprachschatz nur langsam vermehren. Wir wissen das durch eine Mitteilung ihrer Mutter an MACY. Daraus ergibt sich aber, daß die Krankheit dem Kinde nicht 'alles nehmen konnte, was es bisher schon an Mitteln des Austausches mit der Umwelt erworben hatte. Allerdings, von der Mitteilung der anderen an sie war so gut wie nichts erhalten; was sie sprachen, hörte das Kind nicht mehr, und was sie etwa an Zeichen verwandt hatten, war sicherlich in der Hauptsache für die Wahrnehmung durch das Auge bestimmt gewesen und fiel daher ebenfalls aus. Aber für 'HELENs eigene Mitteilung an die Umwelt war die auch vorher schon bevorzugte Verwendung von Zeichen noch immer möglich. Ein Verfahren, sich den anderen wenigstens notdürftig verständlich zu machen, war ihr also schon bekannt; sie mußte es nur weiter ausbauen.

Nach H. K.'s eigener Darstellung im zweiten Kapitel ihrer Lebensgeschichte sieht es freilich so aus, als hätte sie alle ihre Zeichen erst 'nach der Krankheit ausgebildet. Es heißt da: Bald empfand ich das Bedürfnis nach einer gewissen Verständigung mit anderen und begann einfache Zeichen zu machen. Ein Schütteln des Kopfes bedeutete "Nein", ein Nicken "Ja"; ein Heranziehen hieß "komm!", ein Wegstoßen "geh!". Wenn ich ein Butterbrot haben wollte, ahmte ich das Schneiden von Scheiben nach und ihr Bestreichen mit Butter. Wünschte ich, daß meine Mutter zum Essen Eis machte, so tat ich, als ob ich die Eismaschine drehte, und schauerte zusammen, als ob mir kalt wäre". Aber die genannten Zeichen für "ja", "nein", "komm!", "geh!", gehören bei fast allen Kindern zu den frühesten Mitteln der Verständigung. Es ist wenig glaubhaft, daß ein Kind von 18 Monaten, dessen Vorliebe für die Verwendung von Gebärden anstelle von Worten ausdrücklich bezeugt ist, diese primitivsten und überall gebräuchlichen Zeichen nicht gekannt haben sollte. Daher wird Frl. S. wohl nicht recht haben mit der Vermutung, daß nur ein einziges von HELENs Zeichen auf die Zeit vor der Krankheit zurückginge, nämlich das Winken mit der Hand beim Abschied. Wahrscheinlich hat HELEN auch einige Zeichen der pantomimischen Art, wie sie ihr später für "Eis" oder "Butterbrot" dienten, schon in ihren gesunden Tagen gelegentlich gebraucht. Aber wie es damit auch im einzelnen stehen mag: von entscheidender Wichtigkeit ist die Tatsache, daß HELEN schon vor ihrer Krankheit gelernt hatte, daß man Zeichen verwenden kann, um mit anderen Menschen zu "sprechen".

Es wäre wichtig, recht genau über Bestand und Verwendung ihrer Zeichen vor Beginn der Erziehung Bescheid zu wissen. Aber leider besitzen wir darüber nur wenige vereinzelte Angaben. So heißt es z. B. in Frl. S.'s Bericht von 1891: "Als ich ihre Lehrerin wurde, hatte sie sich für ihren Gebrauch mehr als 60 Zeichen zurechtgemacht. Sie waren alle nachahmender Natur und wurden von ihren Bekannten ohne weiteres verstanden. Die einzigen Zeichen, die sie meiner Meinung nach vielleicht frei erfunden hat, waren ihre Zeichen für klein' und 'groß'. Über diese beiden Zeichen macht Frl. S. in einem Brief vom 8. Mai 1887 folgende Angaben: "Sie hatte Zeichen für klein' und groß', lang bevor ich zu ihr kam. Wenn sie eine kleine Sache wünschte und man ihr eine große gab, schüttelte sie den Kopf und faßte ein kleines Stück der Haut einer Hand zwischen Daumen und Finger der anderen. Wenn sie etwas Großes andeuten wollte, spreizte sie die Finger beider Hände so weit sie konnte und brachte sie dann aneinander, so als ob sie einen großen Ball umspannen wollte". Vielleicht kann man aber auch 'diese beiden Zeichen noch als nachahmend auflassen, zum mindesten die Gebärde für groß', die ja doch ganz deutlich das Umgreifen eines großen Stückes andeutet. Das Zeichen für klein' kennzeichnet dann im Gegensatz dazu das Zusammendrücken eines kleinen Gegenstandes auf engsten Raum.

Die Angaben Frl. S.'s lassen erkennen, daß die erwähnten mehr als 60 Zeichen nicht frei für den Augenblick erfundene Pantomimen waren, wie sie HELEN natürlich außerdem noch verwendete und auch nach Beginn ihrer Erziehung noch verwendet hat, sondern daß es sich um Zeichen handelte, die eine festgelegte Bedeutung besaßen wie die Worte der Sprache. HELEN war also damals einem Kinde gleich, das über einen aktiven Sprachschatz von etwa 60 Worten verfügt. Allerdings war der größte Teil ihrer Zeichen nur den nächsten Angehörigen verständlich; aber ähnliches findet sich oft auch bei gesunden Kindern in den Anfängen ihrer Lautsprache, wenn die Worte in ihrem Munde so eigenwillige Formen annehmen, daß nur die Mitglieder der Familie sie erkennen.

Daß wirklich HELENs Zeichen die Funktion von Worten hatten, wird besonders deutlich durch die folgenden zwei Tatsachen. Erstens: Als sie das Fingeralphabet gelernt hatte, war es möglich, für das eine oder andere ihrer Zeichen ein buchstabiertes Wort einzusetzen, und von dem Augenblick an gab sie das Zeichen auf. Das wird z. B. bezüglich der Zeichen für ,groß' und klein' ausdrücklich von Frl. S. berichtet (Brief vom 8. 5. 1887). Zweitens: In der Reihe ihrer Zeichen stand eines, das wirklich ein Wort der Allgemeinsprache war, nämlich das Wort water, wenn auch bis zur Unkenntlichkeit entstellt. "Es war das einzige Zeichen, das sie für Wasser machte". Und auch dieses Zeichen gab sie auf, als sie das Wort buchstabieren gelernt hatte. Mit dem gleichen Recht, mit dem Frl. S. dieses Wort  water  ein "Zeichen" nennt, können wir die anderen Zeichen "Worte" nennen.

Gleich in den ersten Minuten des Zusammenseins mit HELEN hatte Frl. S. mit dem Unterricht im Fingeralphabet begonnen. "Sie half mir meinen Koffer auspacken, als er kam, und war entzückt, als sie die Puppe fand, die ihr die kleinen Mädchen des Perkins-Instituts geschickt hatten. Ich hielt es für eine gute Gelegenheit, ihr das erste Wort beizubringen. Ich buchstabierte langsam d-o-l-l in ihre Hand, zeigte auf die Puppe und nickte mit dem Kopf, was ihr Zeichen für "Besitz" zu sein scheint. Wenn ihr jemand etwas gibt, zeigt sie darauf, dann auf sich selbst und nickt mit dem Kopf. Sie machte ein verdutztes Gesicht und betastete meine Hand. Ich wiederholte die Buchstaben. Sie machte sie recht gut nach und zeigte auf die Puppe. Darauf nahm ich die Puppe, in der Absicht, sie ihr wiederzugeben, wenn sie die Buchstaben gemacht hätte. Aber sie dachte, ich wollte sie ihr wegnehmen, und im Augenblick war sie in wilder Erregung und versuchte, die Puppe an sich zu reißen. Ich schüttelte mit dem Kopf und versuchte mit ihren Fingern die Buchstaben zu bilden; aber sie wurde nur immer wütender. Ich zwang sie auf einen Stuhl und hielt sie dort fest, bis ich ungefähr am Ende meiner Kräfte war. Dann fiel mir ein, daß es zwecklos wäre, den Kampf fortzusetzen - ich mußte etwas tun, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Ich ließ sie los, gab aber die Puppe nicht her. Ich ging die Treppe hinunter und holte etwas Kuchen (sie liebt Süßigkeiten sehr). Ich zeigte HELEN den Kuchen und buchstabierte c-a-k-e in ihre Hand, indem ich ihr den Kuchen hinhielt. Natürlich wollte sie ihn haben und versuchte, ihn zu nehmen. Aber ich buchstabierte noch einmal das Wort und tätschelte ihre Hand. Sie machte rasch die Buchstaben, und nun gab ich ihr den Kuchen. Sie aß ihn mit großer Hast, ich nehme an, weil sie dachte, ich könnte ihn ihr wieder fortnehmen. Dann zeigte ich ihr die Puppe und buchstabierte das Wort aufs neue, indem ich ihr die Puppe ebenso hinhielt wie vorher den Kuchen. Sie machte die Buchstaben d-o-l; ich fügte das zweite "l" hinzu und gab ihr die Puppe. Sie rannte damit die Treppe hinunter und konnte den ganzen Tag nicht mehr dazu gebracht werden, noch einmal in mein Zimmer zu kommen'.

In solcher Weise benützte Frl. S. von Anfang an jede Gelegenheit, ihrer Schülerin ein Wort beizubringen oder ein ihr schon bekanntes zu üben. HELEN zeigte sich auch ganz gelehrig, aber zunächst war es eine rein mechanische, mit keinem Sinn verknüpfte Fertigkeit, die sie erwarb. "HELEN kennt jetzt mehrere Worte", schreibt Frl. S. am Schluß eines Briefes vom 11. März, "aber sie hat keine Ahnung, wie sie zu gebrauchen sind und daß jedes Ding einen Namen hat." Zwei Tage später, am 13. März, heißt es: "Sie hat drei neue Worte gelernt, und wenn ich ihr die Gegenstände gebe, deren Namen sie gelernt hat, buchstabiert sie diese ohne Zögern; aber sie scheint froh zu sein, wenn die Stunde vorüber ist." Am 28. März weist Frl. S. ausdrücklich darauf hin, daß HELEN bei der Bitte um ein Stück Kuchen ihr eigenes Gebärden-Zeichen für Kuchen" machte und nicht auf den Gedanken kam, das Wort 'cake zu buchstabieren, obwohl es eines der ersten war, das sie gelernt hatte; und im Brief vom 3. April wiederholt sie noch einmal die Bemerkung: "Sie hat bis jetzt noch keine Ahnung, was das Buchstabieren bedeutet." HELEN hatte also noch nicht begriffen, daß diese Bewegungen der Finger ein Mittel der Verständigung darstellten. Wenn sie die Namen der Gegenstände buchstabierte, die ihr hingehalten wurden, so war das einstweilen noch eine rein mechanische Dressur, wie bei einem Hund, der gelernt hat, daß er je nach den Umständen schön machen soll, über den Stock springen, apportieren, sich hinlegen, oder was es sonst ist. Übrigens war genau das gleiche zu beobachten in den Anfängen des Unterrichts von LAURA BRIDGMAN und Dr. HOWE gebraucht in seinem Bericht über ihre damaligen Leistungen dasselbe Bild von einem Hund, der einige Kunststücke gelernt hat.

Überraschend ist es allerdings, in Frl. S.'s Brief vom 3. April, demselben Brief, in dem sie noch einmal betont, daß HELEN bis jetzt noch keine Ahnung von der Bedeutung der Fingerbewegungen hat, die Mitteilung zu finden, daß sie gelegentlich selbst nach der Fingerbewegung für einzelne Objekte gefragt hat. Vier solche Fälle befinden sich unter den 21 Worten, die HELEN am 31. März kannte und zu denen sie übrigens am 1. April acht weitere hinzulernte). Es handelt sich durchweg um Körperteile: Kopf, Auge, Finger, Zehe. Da sie die Zeichen nicht zur Mitteilung verwenden wollte, kann man nur annehmen, daß sie in diesen Fingerbewegungen ein 'Spiel sah, bei dem man - ebenso wie bei dem Aufreihen von Perlen nach bestimmten Mustern - feste Ordnungen zu beobachten hatte. Gerade in dem erwähnten Brief vom 3. April findet sich auch ein Abschnitt über Perlenarbeiten: "Um 10 Uhr gehen wir (nach dem Spielen im Freien) ins Haus und ziehen einige Minuten lang Perlen auf Fäden. Sie kann jetzt schon eine große Zahl von Mustern ausführen und erfindet oft auch selber neue". In entsprechender Weise erschienen ihr offenbar die Fingerbewegungen als ein Spiel, bei dem es darauf ankam, auf das Vorzeigen bestimmter Gegenstände mit bestimmten Fingerbewegungen zu antworten. Demnach wird ihre Frage nach den Fingerbewegungen für "Kopf", "Auge", Finger", "Zehe" aus dem Wunsch hervorgegangen sein, ihre Kenntnisse im Fingerspiel zu erweitern.

Dieser Auffassung entspricht die Darstellung, die H. K. selbst im vierten Kapitel ihrer Lebensgeschichte von der ersten Bekanntschaft mit dem Fingeralphabet gegeben hat (natürlich auf Grund dessen, was man ihr später darüber erzählt hat). "Frl. S. buchstabierte langsam in meine Hand das Wort 'do-l-l Ich war sofort interessiert an diesem Fingerspiel und versuchte es nachzumachen. Als es mir schließlich geglückt war, die Buchstaben ordentlich zu bilden, wurde ich rot vor Freude und kindlichem Stolz. Ich lief zu meiner Mutter hinunter, hielt die Hand in die Höhe und machte die Buchstaben für  doll . Ich wußte nicht, daß ich ein Wort buchstabierte und daß es überhaupt Worte gab; ich bewegte nur einfach meine Finger in einer Nachahmung nach Affen-Art". Und nicht nur der Mutter, auch dem Hund zeigte HELEN voll Freude ihre neue Errungenschaft. Am Schluß eines Briefes vom 20. März erzählt Frl. S., daß sie und Herr KELLER HELEN dabei beobachteten, wie sie auf der Erde kauerte und dem Hund das Wort  doll  in die Pfote buchstabierte. Daß Kinder glauben, mit einem Tier genau so sprechen zu können wie mit einem Menschen, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Aber HELEN buchstabierte dem Hund in die Pfote, lang ehe sie erfaßt hatte, daß die Fingerbewegungen Sprache sind. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, sondern nur mit ihm spielen und ihm ihre neuen Künste vorführen.

Der Durchbruch zur Erkenntnis erfolgte am 5. April. Der von diesem Tag datierte Brief Frl. S.'s, unmittelbar nach dem Erlebnis geschrieben, steht in der ganzen Literatur über die Erwerbung der Sprache wohl einzig da. Ich möchte ihn daher hier in seinem vollen Umfang wiedergeben, auf die Gefahr hin, daß er dem Leser schon bekannt ist.

"Ich muß Ihnen heut morgen ein paar Zeilen schreiben, denn es ist etwas sehr Wichtiges geschehen. HELEN hat den zweiten großen Schritt in ihrer Erziehung getan: sie hat gelernt, daß jedes Ding einen Namen hat und daß das Fingeralphabet der Schlüssel zu allem ist, was sie wissen möchte.

In einem früheren Brief habe ich Ihnen, glaube ich, geschrieben, daß die Worte  mug  und  milk  HELEN mehr Schwierigkeiten machten als alles übrige. Sie verwechselte die Substantiva mit dem Verbum  trinken . Sie kannte allerdings das Wort für  trinken  nicht; aber sie machte die Gebärde des Trinkens, so oft sie  mug  oder  milk  buchstabiertes. Heut morgen, als sie sich wusch, wünschte sie den Namen für  Wasser  zu erfahren. Wenn sie den Namen für irgend etwas wissen will, zeigt sie darauf und tätschelt meine Hand. Ich buchstabierte w-a-t-e-r und dachte nicht mehr daran bis nach dem Frühstück. Dann kam mir der Gedanke, daß ich mit Hilfe dieses neuen Wortes vielleicht die mugmilk-Schwierigkeit in Ordnung bringen könnte. Wir gingen hinaus in das Brunnenhaus. Dort ließ ich HELEN ihren Becher unter das Rohr halten, während ich pumpte. Als das kalte Wasser herausschoß und den Becher füllte, buchstabierte ich in HELENs freie Hand w-a-t-e-r. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten, über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie zu verblüffen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie verzaubert.

Ein neues Licht trat in ihre Züge. Mehrere Male buchstabierte sie  water . Dann kauerte sie sich auf den Boden und fragte nach seinem Namen, und zeigte auf die Pumpe, und auf das Gitter, und plötzlich wandte sie sich herum und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte  Teacher . In diesem Augenblick kam die Amme mit HELENs kleiner Schwester in das Brunnenhaus; HELEN buchstabierte  baby  und zeigte auf die Amme (das erstemal, daß sie ein buchstabiertes Wort von sich aus als Mittel der Verständigung benutzte!). Auf dem ganzen Rückweg zum Hause war sie in höchster Erregung und lernte den Namen von jedem Gegenstand, den sie berührte, so daß sie in wenigen Stunden ihrem Wortschatz 30 neue Worte zugefügt hatte. Hier sind einige davon:  door, open, shut, give, go, come  und noch viele andere.

P. S. Ich konnte meinen Brief gestern nicht zeitig genug beenden, um ihn zur Post zu geben. So will ich noch ein paar Zeilen hinzufügen. HELEN stand heut morgen auf wie eine strahlende Fee. Sie flog von einem Gegenstand zum andern, fragte bei allem nach dem Namen und küßte mich vor lauter Freude. Gestern abend, als ich zu Bett ging, schmiegte sie sich aus eigenem Antrieb in meine Arme und küßte mich zum erstenmal, und ich dachte, mein Herz müßte zerspringen, so voll war es von Freude".

Die Frage, warum gerade bei 'dieser Gelegenheit die Erkenntnis vom Zeichencharakter der Fingerbewegungen bei HELEN zum Durchbruch kam, läßt sich natürlich nicht mit Sicherheit beantworten. Es ist möglich, daß es sich um einen bloßen Zufall handelt, d. h. daß die Frucht eben reif war und daß ebenso gut jeder beliebige andere Anstoß sie hätte zum Fallen bringen können. Aber vielleicht war doch das Wort  water  in bevorzugter Weise geeignet, die entscheidende Wendung herbeizuführen, denn hier lagen besondere Voraussetzungen vor. Wichtig ist zunächst, daß dieses Wort bei der Szene an der Pumpe nicht zum erstenmal vor HELENs Bewußtsein trat. Schon am Morgen beim Waschen hatte sie, wie Frl. S. schreibt, nach dem Worte für "Wasser" gefragt. Aber vielleicht fragte sie in Wirklichkeit nicht nach "Wasser", sondern nach waschen" und hatte dabei eine Gesamtvorstellung im Sinn, in der das Wasser nur als einer der Teile mit enthalten war. Aber auch das Waschen am Morgen ist nicht die erste Gelegenheit, bei der HELEN dem Worte begegnete. Frl. S. spricht allerdings in ihrem Brief von  water  als einem "neuen Wort"; aber in ihrem Brief vom 3. April (zwei Tage vorher) erscheint es in der Liste der 21 Worte, die HELEN am 31. März schon kannte. Wir wissen leider nicht, in welchem Zusammenhang sie es gelernt hat; vielleicht war es ebenfalls im Zusammenhang einer Gesamtvorstellung, etwa "Wasser trinken". Wenn nun bei dem Erlebnis an der Pumpe die gleiche Fingerbewegung w-a-t-e-r nochmals in einer neuen Gesamtsituation auftrat (nun schon der dritten), so konnte in HELEN plötzlich der Gedanke aufleuchten, daß diese Fingerbewegung sich offenbar auf das beziehen müsse, was in all den verschiedenen Gesamtsituationen das Gleiche war, nämlich das Einzelobjekt "Wasser".

Damit mußte sich nun aber, um den Durchbruch zur Erkenntnis vom Wesen der Sprache zu vollenden, noch eine weitere Erkenntnis verbinden, nämlich die, daß die Fingerbewegungen (die HELEN nun als zugehörig zu dem Einzelobjekt Wasser" erfaßte), wenn sie nach den Spielregeln des Fingerspiels als Antwort auf die Darbietung des Objekts "Wasser" zu erfolgen hatten, auch als  Zeichen  für dieses Objekt verwendet werden konnten, d. h. als Verständigungsmittel. Und auch diese letzte Erkenntnis war vielleicht gerade bei dem Worte  water  besonders leicht möglich. Ihre Gebärdenzeichen, die sie, bis dahin als Verständigungsmittel gebraucht hatte, besaßen alle darstellenden Charakter. Selbst von den Zeichen für  groß  und  klein  kann man das, wie wir gesehen haben, doch wohl annehmen. Das einzige ihrer Zeichen, das nichts von einer darstellenden Gebärde an sich hatte, sondern völlig losgelöst von der Sache als willkürlich festgesetztes Zeichen bestand, war das Zeichen für "Wasser", nämlich der durch Verstümmelung des Wortes  water  enstandene Ruf  wah-wah,  oder richtiger (da sie den Laut ja nicht selber wahrnehmen konnte) der Bewegungskomplex von Brust, Kehle und Mund, der für die Hörenden den Schalleindruck  wah-wah  zur Folge hatte. Vielleicht konnte daher gerade bei dem Objekt "Wasser" ihr am ehesten die Erleuchtung kommen, daß auch Bewegungskomplexe der Finger willkürlich festgesetzte Zeichen sein und als Verständigungsmittel dienen könnten.
LITERATUR - Alfred Schmitt, Helen Keller und die Sprache, Münster/Köln 1954