ra-2tb-4A. BerkmannR. TreumannK. DiehlA. LiebertG. Ratzenhofer    
 
KARL OLDENBERG
Der russische Nihilismus
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"Binnen weniger Jahre war jeder anständige Russe Dilettant der Naturwissenschaften, Atheist, Schwärmer für Frauenemanzipation, Demokrat, Sozialist und im allgemeinen Feind der bisher in Geltung gewesenen Autoritäten gewesen."

"Die Bezeichnung Nihilist und Nihilismus, 1862 durch Turgenjews Roman Väter und Söhne zu allgemeinster Geltung gelangt, ist in Rußland nur für die erste Periode der Bewegung durchweg üblich. Die Nihilisten neueren Datums heißen vielmehr nicht selten mit einem farbloserem Ausdruck Revolutionäre oder Sozialisten. Außerhalb Rußlands hat sich durch Turgenjews Roman die früheste Bezeichnung als alleiniger Name des Ganzen eingebürgert."

"Tschernyschweski erklärte unter Hinweis auf die Zustände der politisch freieren westlichen Länder alle konstitutionellen Bestrebungen für nutzlos, solange die wirtschaftliche Freiheit fehlt und nannte den Konstitutionalismus veraltet und reaktionär."


II. Entstehung und erste Periode
des Nihilismus

Der Krimfeldzug bedeutete mehr als einen gewöhnlichen Waffengang zwischen Rußland und den gegnerischen Verbündeten; der Tieferblickende zweifelte nicht, daß der durch drei Jahrzehnte fortgesetzten Politik, welche dem Prinzip der unbedingten Disziplin alle anderen Staats- und Lebensinteressen geopfert hatte, hier eine Feuerprobe bevorstand. Die Armee galt für das Palladium [Schutzmacht - wp] der russischen Größe; aber wie hätte sie von den verderblichen Wirkungen eines Systems unberührt bleiben können, das den Staatsdienst zu einem komödienhaften Spiel veräußerlicht, die gesellschaftlichen Begriffe von Verantwortlichkeit, ernster Arbeit und Berufspflicht in denjenigen letzten Resten in Vergessenheit gebracht zu haben schien, welche die allgemeine Verwirrung der moralischen Pflichtbegriffe geschont hatte. Die jüngere Generation von Staatsbeamten, im Durchschnitt Männer von mangelhafter technischer Ausbildung, ohne allgemeine Bildung, ohne die Fähigkeit zum selbständigen Urteil und nur an Oberflächlichkeit und Frivolität ihre Vorgänger übertreffend, war allmählich bis in die höchsten und verantwortlichsten Stellungen aufgerückt und beruen, einen Staat zu regieren, dessen Wohl mehr als irgendwo mit dem Wohl des Volkes identisch war. Die Laune des Kaisers hatte durch eine unvernünftige Wahl der Minister diesen Prozeß beschleunigt. Man hat sich demgemäß die Kriegstüchtigkeit der auf dem Paradefeld brillierenden Regimenter, die Zustände in Heeresverwaltung, Festungswesen und Kommunikationswesen im Augenblick der Eröffnung des Feldzuges vorzustellen.

Das russische Publikum, in seinen oppositionellen Neigungen durch die drakonische Bestrafung der Petraschewzen und durch den seitdem auf die Spitze getriebenen Polizeidespotismus eingeschüchtert, war von derartigen Erwägungen zunächst so weit entfernt, daß vielmehr der aufgeregte Nationalsinn, in Vereinigung mit dem religiösen Fanatismus der halbgebildeten Klasse, einen kriegerischen Enthusiasmus und eine apodiktische [unumstößliche - wp] Siegesgewißheit erzeugte, deren Kundgebungen bei den besser Informierten die Stimme des Gewissens übertönten.

Umso furchtbarer war die Enttäuschung, welche der Mißerfolg auf Mißerfolg häufgende Gang des Feldzuges brachte. Während die offiziellen Bulletins den wahren Stand der Dinge verhüllten, fanden auf Umwegen detaillierte Nachrichten über den Umfang der Verluste, die Diebstähle der Verpflegungsbeamten und die Unfähigkeit der Führer ihren Weg nach Rußland. Jetzt trat plötzlich die seit Jahrzehnten angesammelte Unzufriedenheit und Räsonniersucht [Argumentationswahn - wp] in ihrem ganzen Umfang ans Licht, in kürzester Zeit die Physiognomie [Nervenkostüm - wp] des Reiches verwandelnd. Die Wahrnehmung, daß das Opfer einer anderen Nation nicht vorenthaltenen Freiheit nutzlos und schlimmer als nutzlos verschwendet wurde, entzündete jede illoyale Regung zur hellen Flamme. In der bescheidensten Provinzialstadt wurden die Schäden des Reichs ohne Scheu diskutiert, eine noch eben unerhört gewesene Kühnheit. Eine zensurwidrige handschriftliche Literatur fand in Hunderttausenden von Abschriften Verbreitung, kurz: eine öffentliche Meinung begann sich zu regen, deren Bedeutung und Umfang man dem jetzt fast unnahbaren Kaiser ebenso zu verheimlichen bestrebt war, wie die Unglücksposten vom Kriegsschauplatz für ihn abgeschwächt werden mußten; pour ne point l'affliger [um ihn nicht zu quälen - wp], sagte man.

In diese Situation hinein traf die Kunde vom Tod des Kaisers (März 1855) wie eine Botschaft vom Himmel. Obgleich man über die politische Richtung des Thronfolgers, ALEXANDERs II., keinerlei sichere Kunde hatte, war es doch ein allgemeines Aufatmen wie in der Erwartung des Anbruchs einer neuen Epoche; allein man kam über das Stadium unklarer Hoffnungen und Wünsche nicht hinaus. Da erschien jenes denkwürdige "offene Schreiben an Alexander II.", ein Meisterwerk in seiner Form, das in volltönenden Perioden, von der Begeisterung eines echten Liberalismus erfüllt, der Welt verkündete: jetzt sei die Zeit gekommen, das Unrecht einer dreißigjährigen Regierung zu sühnen, mit den humanen Ideen des Jahrhunderts Frieden zu schließen; die Stimme der Nation fordere ihr gutes Recht; und zur Bezeugung eines einsichtigen Willens müsse ALEXANDER mit der alsbaldigen Befreiung der Leibeigenen den Anfang machen. Die unklaren Empfindungen Tausender hatten hier ihren klassischen Ausdruck gefunden; die zahllosen disparaten Bruchstücke des in seiner Bildung begriffenen Volkswillens vereinigte das Manifest mit einem Schlag zu einer einheitlichen, selbstbewußten und ein klares Ziel verfolgenden öffentlichen Meinung. Die neue Ära brach an.

Verfasser dieses offenen Briefes war ALEXANDER HERZEN, der Vater der russischen Revolution. Um seiner eminenten Bedeutsamkeit willen müssen wir uns mit seiner Persönlichkeit genauer bekannt machen.

ALEXANDER HERZEN, 1811 geboren, war der Sohn eines der höchsten (titellosen) Aristokratie angehörigen, zu Moskau in fürstlichem Überfluß lebenden Herrn JAKOWLEW und dessen illegitimer Gattin, eines bürgerlichen schwäbischen Mädchens, die dieser ihren Eltern aus Stuttgart entführt hatte. Herr JAKOWLEW huldigte aus ganzer Seele der französischen Bildung des vorigen Jahrhunderts und widmete ihr seine Interessen so ausschließlich, daß er gleich anderen vornehmen Russen seine Muttersprache niemals vollkommen beherrschte. Obgleich von den humansten Gesinnungen, begann der durch sittliche Unfähigkeit der Befriedigung eines Lebenszwecks verlustig gegangene Edelmann doch, als er, von vieljährigen Reisen im Ausland zurückgekehrt, sich einer vornehmen Nichtstuerei ergab, durch hypochondrische Launen sich selbst wie seiner Umgebung das Leben zur Qual zu machen. In dieser Atmosphäre aufgewachsen, deren belebendes Prinzip die sorgfältige Beobachtung der apparences et convenances [äußeres Erscheinungsbild und Schicklichkeiten - wp] war, reifte der lebhaft und fein empfindende Knabe schnell zu einem selbständigen Urteil. Obgleich im vollsten Genuß der Rechte eines legitimen Sohnes, wurde er früh über den seiner Herkuft anhaftenden Makel unterrichtet und lernte bald die innere Leerheit des sittlich verwahrlosten Treibens, das sich hinter der steifen Etikette verbarg, kennen und verachten. Das traurige Los des leibeigenen Standes, wie es ihm bei sommerlichen Besuchen der Familiengüter vor Augen trat, empörte sein weiches Herz; und seit jener Zeit ist in ihm, so wenig er zeitlebens den verwöhnten Aristokraten verleugnen mochte und konnte, ein Gefühl der Solidarität mit dem arbeitenden Volk lebendig gewesen. Dem Vater gegenüber erfüllte er die Kindespflichten mit selbstverleugnender Pietät bis zu dessen Tod.

Die väterliche Bibliothek ließ den zugleich verzogenen und vernachlässigten Knaben mit den ausgezeichneten Werken der deutschen und französischen Literatur vorzeitig bekannt werden. In dieser ungeregelten Lektüre liegen die Wurzeln des Idealismus, dem HERZEN mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens immer treu geblieben ist; aus dieser Quelle stammt ebenso seine innere Unabhängigkeit von der Macht des Überkommenen, wie sein religiöser Libertinismus, vor dessen sittlichen Gefahren ihn sein gutes Gefühl bewahrte. Die Dezemberrevolution und das traurige Schicksal ihrer Teilnehmer wirkten entscheidend auf die geistige Richtung des Vierzehnjährigen. Vier Jahre später setzte er es durch, um sich den verhaßten Staatsdienst möglichst fern zu halten, daß er in die naturwissenschaftliche Fakultät der Moskauer Hochschule eintrat. In dem eben damals sich bildenden Kreis sozialistischer Philosophen fiel dem glänzend Begabten eine führende Rolle zu, die seiner Eitelkeit immerwährende Nahrung gab und zu künftiger Wirksamkeit in größerem Maßstab vorbereitete. Die Gewöhnung an einen fast ununterbrochenen, geistig anspruchsvollsten Verkehr, wie er in diesem Kreis die Regel bildete, zusammen mit dem von Kindheit an einwirkenden Beispiel eines ihn umgebenden Lebens ohne Arbeit haben auch HERZENs Charakter etwas vom gemeinrussischen Stempel des Sichgehenlassens aufgedrückt und ihn gehindert, jemals seine Kräfte zu einer schaffenden Produktivität zu sammeln, zu der die Anlage ihm nicht versagt war. - 1834 gehörte er zu den Opfern der Moskauer Verhaftungen, und wurde trotz seines glänzenden Plädoyers und, was mehr sagen will, trotz der gesellschaftlichen Stellung seines Vaters in ein halbsibirisches Städtchen namens Wjätka verbannt, um hier in der Beschäftigung als Schreiber der örtlichen Kanzlei auf loyalere Gedanken zu kommen. Die Bilder von Elend und Tyrannei, welche ihn dieses Exil kennen lehrte, verwundeten die Seele des gemütvollen Jünglings auf das Tiefste. Als er in Wjätka eintraf, bildete das Tagesgespräch das Schicksal eines ehrbaren kleinen Beamten, der von Gouverneur TUFÄJEW ins Irrenhaus gesperrt worden war, nachdem er versucht hatte, die Abführung seiner Schwester in den Harem TUFÄJEWs zu verhindern. - Das Exil dauerte bis 1840. HERZEN trat, dem dringendem Wunsch des Vaters sich fügend, in Petersburg in den Staatsdienst und gedachte ausschließlich seinem jungen Familienglück zu leben. Eine sehr harmlose Äußerung zog ihm eine zweite Verbannung zu, nach deren Beendigung er, mehr verbittert als je, 1842 seinen Abschied nahm, um nach Moskau heimzukehren. Nach dem Tod JAKOWLEWs (1847) verließ er sein Vaterland, entschlossen, die geistige Befreiung desselben zu seiner Lebensaufgabe zu machen. 1847 in Italien, 1848 in Paris, seit 1850 in London, trat er mit den Koryphäen der westeuropäischen Revolution in persönliche Berührung; die Verhältnisse führten ihn in das Lager der radikalsten Partei, deren wilder Zerstörungslust nachzueifern, seine von Grund aus humaner Natur sich nicht ohne Zwang bestrebte.

Seiner vielseitigen publizistischen Tätigkeit gab der Ausbruch des Krimkrieges die entscheidende Wendung. Ihm war es sofort klar, daß die Niederlagen der russischen Waffen und die augenblickliche Demütigung für sein unglückliches Vaterland zum Ursprung einer glücklicheren Zukunft werden könnten. Schon 1854 gründete er in London die "erste freie russische Druckerei" und bald danach seine berühmte Wochenschrift "Glocke" (Kolokol). Die ersten Blätter dieser Zeitung, mit Geschick über die streng bewachte Grenze geschmuggelt, brachten jene detaillierten Nachrichten von den Kriegsschauplätzen, durch welche die liberale Bewegung in Fluß kam. Der "offene Brief an Alexander", bald in den Händen aller des Lesens kundigen Russen, machte HERZEN mit einem Schlag zum absoluten Beherrscher der öffentlichen Meinung. Willenloser konnte selbst am Hof NIKOLAUS' die Unterwürfigkeit nicht sein, als die freiwillige Hingabe der meisterlosen Menge an die Autorität des genialen Wortführers. Mit einer Meisterschaft, die, nach kundigem Urteil, in der Geschichte der Publizität ihres Gleichen nicht findet, übte der Herausgeber des Kolokol fast ein Jahrzehnt hindurch seine Herrschaft aus. Die Ächtung von Seiten der russischen Zensur, die selbst die Nennung des gefeierten Namens verpönte, verlieh seiner Zeitung einen unvergleichlichen Reiz, ohne ihrer Verbreitung wesentlich Abbruch zu tun; die Tatsache, daß 1859 auf der Nowgoroder Messe 100 000 Exemplare desselben konfisziert wurden, ist hierfür bezeichnend genug. HERZEN brachte in jeder Nummer der "Glocke" außer einem selbstverfaßten Leitartikel Mitteilungen aus Rußland, mit Vorliebe Enthüllungen über Mißstände des bürokratischen Regiments von oft peinlichstem Charakter; Korrespondenten aus allen Teilen des Reiches unterrichteten ihn über das geringste wie größte Vorkommnis von politischer Bedeutung, und oft über die intimsten Staatsgeheimnisse. Die Furcht, "in den Kolokol zu kommen", lähmte die reaktionäre Regung der Bürokratie. Die Signalements [Personenbeschreibung - wp] der gegen HERZEN ausgesandten Spione waren in London gedruckt, bevor diese den englischen Boden betraten. Als man einst für den Kaiser, der regelmäßiger Leser der "Glocke" war, in Petersburg eine Nummer des Blattes umgedruckt hatte, um ihm eine peinliche Personalnotiz zu verheimlichen, ging ihm nach kurzer Zeit aus London das Original zu mit einigen erläuternden Zeilen.

Die Politik des neuen Monarchen war mehr geeignet, die fortschrittliche Bewegung zu fördern als sie zu mäßigen. ALEXANDER II., bei Tod seines kaiserlichen Vaters 37-jährig, hatte eine Erziehung empfangen, die ihn in NIKOLAUS das Muster eines Monarchen sehen ließ; schon Pietät mußte ihn von einem ostentativen [ausdrücklichen - wp] Systemwechsel zurückhalten, selbst wenn der enge Horizont seiner Erfahrung eine derartige Möglichkeit nicht ausgeschlossen hätte. Die im Krieg ans Licht getretenen Schäden in der Verwaltung meinte er durch Detailreformen zu beseitigen. Ohne das Drängen des Publikums gutzuheißen, versäumte er es aber doch, mit der kategorischen Entschiedenheit, an die man in Rußland gewöhnt war, die entfesselten Geister zur Ruhe zu kommandieren; und gewisse Maßnahmen, die instinktiv aus seiner humanen Gesinnung hervorgegangen waren: die Erleichterung des akademischen Studiums und des Verkehrs mit dem Ausland, die Begnadigung der noch lebenden Verschwörer von 1825, die Abweisung der Denunziation in ihrer widerlichsten Gestalt und ähnliche Akte fanden im guten Willen des Publikums den parteiischsten Interpreten und entfesselten einen Enthusiasmus, dem die Regierung sehr bald machtlos gegenüberstand.

Es ist nicht leicht, sich von dem bunten Gewirr geistiger Bewegungen, in deren Kanäle sich die allgemeine Entspannung entlud, eine genügende Vorstellung zu machen. Aus den Anfängen heraus, die in GOGOLs Satire und in den Enthüllungen der ungedruckten Schriftstellerei des Krimkrieges vorlagen, blühte jetzt eine sogenannte anklagende Literatur auf, die nach der Ablegung der belletristischen Maske mit bedrohlicher Rückhaltlosigkeit die gesellschaftlichen Krankheitserscheinungen in allen Schichten des Volkes offenlegte und diagnostizierte. Zugleich öffneten sich zum zweiten Mal die Schleusen der europäischen Literatur, um das Wenige an selbständigem Urteil noch zu ersäufen, das etwa geblieben war; in großen Portionen wurden die Lehren von DARWIN, MOLESCHOTT, BUCKLE, die neuere staatswissenschaftliche und sozialistische Literatur, die Revolutionsgeschichte und die neuere russische Geschichte dem Publikum zugeführt - all dies in den Spalten der plötzlich zu riesigem Umfang anschwellenden periodischen Presses, deren notwendig den Dilettantismus fördernde Lektüre in Rußland dem systematischen Bücherstudium vorgezogen wird. Wesentlich in der Absicht, dem Einfluß von HERZENs Journal im Machtbereich der Zensur ein Gegengewicht zu schaffen, wurde neuen journalistischen Unternehmungen die Konzession mit einer solchen Bereitwilligkeit erteilt, daß gegenüber der ein Dutzend nicht erheblich überschreitenden Zahl politisch bedeutungsloser Zeitblätter, die bis 1856 dahinvegetiert hatten, in den Jahren 1858-60 allein die Zahl der bereits wieder untergegangenen größeren Journale sich auf gegen 80 belief. Nur diese gänzlich unvorbereitete Sturmflut teilweise schwer verdaulicher Bildungsstoffe erklärt die Möglichkeit einer so vollständigen Entgleisung des menschlichen Bildungstriebes, wie sie von TURGENJEW aus dem Beginn der sechziger Jahre geschildert ist. Binnen weniger Jahre war jeder anständige Russe Dilettant der Naturwissenschaften (3), Atheist, Schwärmer für Frauenemanzipation, Demokrat, Sozialist und im allgemeinen Feind der bisher in Geltung gewesenen Autoritäten gewesen. In jeder Art von Geselligkeit, die das gesellschaftsliebende Rußland kennt, in den Salons, in geselligen Klubs, in Lesevereinen wurde dieser neuesten Mode gefröhnt, die im Gedächtnis am bestehen haftenden Phrasen von Aufklärung, Volkswillen und Volksbefreiung in stereotyper Form mit unermüdlicher Beharrlichkeit und in immer vollendeterem Überzeugungston wiederholt. Im allseitigen Wetteifer, in dem jeder nach dem Ruf strebte, auf der Höhe des Fortschritts zu stehen, "le plus avancé en civilisation" zu sein, waren gerade die ehemals servilsten Lobredner des Absolutismus jetzt die lautesten Schreihälse. Alle Geister der Maßlosigkeit, der Phrase, der Heuchelei feierten in dem allgemeinen Taumel, der die Gesellschaft ergriffen hat, ihre Orgien. Und über diesem ganzen Getriebe, das als karikierende Profanation wirklicher Bildung nur ein pathologisches Interesse beanspruchen kann, schwebte unsichtbar die Autorität des "in Rußland verbotenen" Meisters, der die Macht der ihm gehorchenden öffentlichen Meinung benutzte, um die Politik ALEXANDERs zu lenken.

Die Aufhebung der Leibeigenschaft gehörte zu den Fragen, die schon seit den Tagen KATHARINAs auf der Tagesordnung standen; selbst NIKOLAUS hatte, in Anbetracht ihrer enormen Bedeutsamkeit für das Militärwesen, anfänglich einige Vorbereitungen getroffen, dann aber "der Zeitverhältnisse wegen" abgebrochen. ALEXANDERs eigener Wille kam dem Verlangen der öffentlichen Meinung entgegen, umso eher, als der gegenwärtige Zeitpunkt für die Ausführung des lange Geplanten von seltener Gunst war. Die allgemeine Bewegung hatte auch die Mehrheit der Gutsbesitzer zu einer an die Zeiten der französischen Konstituante erinnernder Opferwilligkeit hingerissen, mit der sich freilich der nicht unbegründete Anspruch verband, für den durch die Emanzipation verloren gehenden politischen Einfluß, welcher vordem die mäßigende Schranke des Absolutismus, wenn nicht war, so doch hätte sein können, etwa in Gestalt eines adligen Parlaments Ersatz zu finden. Der Kaiser durfte dieser Forderung umso weniger Gehör schenken, als er sich dadurch für alle bevorstehenden Reformen die Hände gebunden hätte; aus diesem Grund konnte er, um das Emanzipationswerk nicht scheitern zu lassen, bei den Vorbereitungen desselben den Adelsdelegationen nur eine beratende Stimme einräumen. So kam der berühmte Ukas [Erlaß - wp] vom 19. Februar 1861 zustande, der den Leibeigenen die günstigsten Bedingungen bot.

Nach der neuen Ordnung wurden die nicht bäuerlichen Leibeigenen (Dienstpersonal und städtische Handwerker), 1½ Millionen Seelen, nach Ablauf von zwei Jahren ohne weiteres unabhängig, selbst die nicht ausgenommen, welche auf Kosten ihrer Herren eine Fertigkeit erlernt hatten. Von minderem Vorteil war der Wechsel für die gutsherrlichen Bauern, über 20 Millionen an der Zahl; die bäuerliche Gemeinde erhielt ebenfalls die persönliche Freiheit ihrer Mitglieder und Selbstverwaltung, ohne den Anspruch auf ihr Land zu verlieren, aber zunächst keine Freizügigkeit; die fließenden Grenzen des bisherigen Gemeindelandes wurden fixiert, und zwar im Durchschnitt verengt. Das so abgegrenzte Gebiet konnte die Gemeinde vom Gutsherrn entweder pachten oder kaufen; im letzteren Fall erhielt sie vier Fünftel des Preises durch die Regierung vorgeschossen und zahlte selbst nur das letzte Fünftel nebst den jährlichen Zinsen und Amortisationsraten des Vorschusses. (4)

Der befreiende Ukas wurde vom ganzen Land mit einem Sturm von Unzufriedenheitsäußerungen beantwortet. Mit den Seufzern der beschädigten Edelleute vereinigte sich ein tausendfacher Widerhall des HERZEN'schen Verdikts [Verdammungsurteil - wp], der eine viel radikalere Lösung der Rechtsfrage gefordert hatte. Auf der anderen Seite fanden sich auch die Bauern enttäuscht, deren Naivität sich unter Befreiung etwas ganz anderes vorgestellt hatte. Seit Alters her in einer starren Rechtsanschauung befangen, daß "sie selbst den Herrn, das Land aber ihnen" gehört, sahen sie in der zinsartigen Belastung ihres Eigentums eine schreiende Ungerechtigkeit. Die Auseinandersetzung zwischen Gutsherrn und Bauern stieß daher überall auf Mißtrauen und Undank, in den Wolgaprovinzen sogar auf tätlichen Widerstand. Hier war das Gerücht ausgegeben, der wahre Emanzipationsukas sei von den Adeligen unterschlagen worden, der Zar habe flüchten müssen; ähnlich wie ein Jahrhundert früher präsentierte sich ein Bauer (ANTON PETROW) als der geflüchtete Zar und sammelt 10 000 Mann um sich, die erst den Bajonetten eines General APRAXIN wichen.

Die durch solche Zwischenfälle nicht eben beruhigte Stimmung der liberalen Gesellschaft wurde noch im selben Jahr anläßlich einer anderen Affäre auf das Äußerste gereizt, in der unstreitig das Recht nicht auf Seiten der Regierung stand. Im Hinblick auf die bevorstehende Reorganisation der Universitäten war die Ernennung des vor Kurzem vom Ausland heimgekehrten Admirals PUTJÄTIN, eines ungebildeten reaktionären Polteres, zum Unterrichtsminister, ein augenscheinlicher Mißgriff. Seine ersten Maßregeln (1861) erschwerten den Zutritt zum Studium und verletzten die in den vergangenen Jahren stillschweigend gewährten Freiheiten der akademischen Bürger in so brüsker Weise, daß in Petersburg und Moskau der offene Widerstand in tumultartigen Szenen ausbrach. Die Perfidie [Unverschämtheit - wp] und zugleich die Rücksichtslosigkeit, mit welcher diese Auflehnung überwältigt wurde, riefen eine allgemeine Entrüstung hervor. Der Minister wurde von dem aus der Krim zurückgekehrten Kaiser auf das Ungnädigste empfangen und seines Amtes enthoben.

Ein Reformprogramm von überraschender Reichhaltigkeit, mit dem die Regierung zu Beginn des Jahres 1862 an die Öffentlichkeit trat, blieb ohne nachhaltigen Eindruck. Die kühne Sprache von einigen der im Frühjahr tagenden Adelsversammlungen, die augenscheinliche Zurücksetzung des eigentlichen Rußland gegen die unterworfenen Staaten Polen und Finnland, in denen parlamentarische Einrichtungen teils schon bestanden, teils eben damals angebahnt wurden, steigerten die Erregung des nach wie vor vom Londoner Dikator regierten Publikums auf das Höchste. Die revolutionäre Richtung, in welche HERZENs Agitation eben damals einlenkte (5), ist ganz wesentlich dem Einfluß seines Freundes BAKUNIN zuzuschreiben; Empfänglichkeit für die Einflüsse seiner Umgebung war von jeher die Kehrseite der Vorzüge seiner weichen Natur gewesen. Vom überreichlich gespendeten Weihrauch seines Publikums umnebelte sich sein Blick, so daß er in den unsinnigen Kundgebungen halbgebildeter Massen die Vorboten einer befreienden Revolution für Rußland, ja für Europa zu sehen meinte. Hier liegt das Moment persönlicher Schuld in seinem Lebenswerk; zufällige Ereignisse beschleunigten die Katastrophe für ihn und zugleich den beispiellos plötzlichen Umschwung der öffentlichen Stimmung.

Eingeleitet wurde diese neue Wendung durch die berüchtigten Feuersbrünste, welche, zweifellos von revolutionärer Hand gelegt, vom 22. bis 28 Mai (1862) einen Teil des Petersburger Kaufhofes zerstörten. Der ernüchternde Rückschlag, den dieses Verbrechen auf das Publikum ausübte, gab der Regierung die Möglichkeit, jetzt mit einer Reihe von Repressionsmaßnahmen vorzugehen. Trotzdem hatte nach mancherlei Schwankungen die Aufregung der Gesellschaft zu Beginn des folgenden Jahres fast ihre vorige Höhe erreicht, als der polnische Aufstand ausbrach.

Indem HERZEN, den Grundsätzen des Liberalismus getreu, mit dem Vollgewicht seiner Autorität die polnische Sache vertrat, begegnete er zum erstenmal dem Widerstand eines ihm gewachsenen Feindes. Die offene Gemeinschaft mit der Rebellion in einem Augenblick, wo die Einmischung auswärtiger Mächte ernsthaft befürchtet wurde, erschien als Verrat am Vaterland und in befangener Rückhaltung zögerten Publikum und Presse, Partei zu ergreifen. Selbst die Slawophilen, die während der letzten Jahre anläßlich der Emanzipationsfrage zu Wort gekommen waren, schienen unschlüssig. In dieser peinlichen Situation war es MICHAEL KATKOW, der große Realist, der den Mut hatte, das Schweigen zu brechen. Schon bei einer früheren Gelegenheit war der ehemalige Moskauer Professor der Philosophie erfolgreich gegen HERZENs Autorität in die Schranken getreten, indem er (mit offizieller Ermächtigung zur Nennung des verbotenen Namens) in einer Reihe wohldurchdachter Aufsätze den utopischen Charakter von HERZENs Programm, insbesondere seiner auf den Gemeindebesitz sich gründenden sozialistischen Zukunftsrepublik nachwies und damit den Zauber der Unnahbarkeit zerstörte, mit dem die russische Zensurweisheit HERZENs Namen umgeben hatte. Das Begonnene zu vollenden, war jetzt der Augenblick gekommen. Mit dem Selbstgefühl männlicher Überzeugung erklärte der Moskauer Journalist HERZEN und seine Genossen für die Urheber des ganzen Unheils, das über Rußland hereingebrochen ist. Jetzt in der Stunde der Gefahr enthülle sich die Konsequenz der liberalen Schwarmgeisterei vor aller Augen; ein Verbrechen ist jetzt jede Sympathie mit den Feinden des Vaterlandes. HERZEN hatte nicht umsonst den Nachweis geführt, wieviel eine selbstgewisse Sprache ber das russische Publikum vermag. Durch Wochen täglich mit oratorischer Kunst neu variiert, erfocht dieser Appell an den Nationalsinn einen glänzenden Sieg. Die Waffenbrüderschaft der Slawophilen mit MICHAEL KATKOW, der ursprünglich einem besonnenen Liberalismus gehuldigt hatte, datiert aus diesen Tagen. Die neuerliche Wendung, welche der Aufstand nahm: seine Verbreitung über die littauischen und weißrussischen Provinzen, vollendete die Niederlage der Polenfreunde. In diesen Gegenden war beinahe nur der Adel polnisch, HERZEN also gezwungen, hier gegen die Bauern Partei zu ergreifen, während die Bundesgenossenschaft der demokratischen Sympathien damit endgültig an KATKOW fiel. Der Stern HERZENs dunkelte zusehends; die Zahl seiner Leser war 1864 auf einen minimalen Prozentsatz des Vorjahres zusammengeschmolzen und die Glocke konnte nur mit materiellen Opfern noch einige Jahre über Wasser gehalten werden. Erst 1868 entschloß er sich mit schmerzlicher Empfindung, von der Öffentlichkeit zurückzutreten; er habe einsehen gelernt, daß die russische Jugend ihre eigenen Wege gehen will. Er starb im Jahr 1870 in Paris.

In Rußland war der Umschlag der Stimmung ein totaler. Ein nationaldemokratisches Bündnis beherrschte von nun an die öffentliche Meinung und stellte den Einklang mit der Regierung her, die mit Freuden die Gelegenheit eines relativ günstigen Friedensschlusses ergriff. KATKOW übernahm die Erbschaft HERZENs. Die konstitutionellen Forderungen verstummten für anderthalb Jahrzehnte; Russifikation der Grenzprovinzen, Ausdehnung des großrussischen Gemeindesbesitzes, Bevorzugung des Bauernstandes wurden die leitenden Prinzipien der umlenkenden Politik und die Rechtfertigung der empörenden Ungerechtigkeiten und Greuel.

Unsere Darstellung, die an den Anfängen des Nihilismus schon vorübergeeilt ist, muß in dem 1863 abschließenden Zeitraum nochmals verweilen. Der Nihilismus ist nichts als eine besondere, extreme Erscheinungsform der großen autoritätenstürzenden geistigen Bewegung, die in den Jahren der neuen Ära ihren Höhepunkt erreicht hat. Wenn dieser Zusammenhang eine in früherer Zeit mehrfach aufgeteilte Begriffsbestimmung rechtfertigt, die den Nihilismus schon während der Zeit von Zar NIKOLAUS beginnen läßt (6), so ist andererseits der Schöpfer des Begriffs Nihilismus, wie der ihm folgende Sprachgebrauch, nicht im Unrecht mit den Betonung des eigenartigen Charakters, der dem radikalen Jungrussentum nach dem Krimkrieg zukommt. Das ebenso durchgängig zutreffende wie unterscheidende Merkmal des Nihilisten der sechziger, siebziger und achtziger Jahre liegt in der den ganzen Menschen ergreifenden Leidenschaft des Radikalismus, die das gesellschaftliche Produkt einer geistigen Massenaktion und darum nur als eine ganze Klasse von Individuen beherrschende Macht denkbar ist (7).

Der Nihilismus in seiner frühesten Gestalt ist das Produkt einer fundamentalen Umwälzung, welche die der russischen Intelligenz wie durch einen Zauberschlag erschlossene Gedankenwelt in den Köpfen der aufwachsenden Generation anrichtete, und als solches von der allgemeinen Aufklärungs- und Fortschrittsströmung nur graduell verschieden. Er ist zugleich zweitens in gewissem Sinne aus einer Reaktion gegen diese Strömung entstanden. Nach diesen zwei Seiten hin werden wir sein Wesen mit einigen Worten zu charakterisieren haben.

Aus demselben Boden der russischen Gesittung, aus demselben Erbzustand sittlicher Verarmung und sittlicher Impotenz hervorgewachsen, dem Einfluß derselben historischen Nachwirkungen und zeitgeschichtlichen Einwirkungen unterworfen, wie das moderne Fortschrittlertum Rußlands überhaupt, erscheint der Nihilismus trotzdem durch eine weite Kluft vom zeitgenössischen Freidenkertum der bejahrteren Generation geschieden, das sich mit ihm verglichen nur wie ein stümpernder Dilettantismus ausnimmt; oder richtiger: wenn das moderne Rußland nach dem bekannten Gleichnis an den Typus des Sklaven erinnert, der seine Ketten zerbrochen hat, so ist der Nihilist die Karikatur dieses Typus. Die simple Tatsache, daß die nihiistische Generation unter den Eindrücen der neuen Zeit aufgewachsen war, erklärt diesen Gegensatz von Vätern und Söhnen. Die Untüchtigkeit der erziehenden Generation und die im Laufe der Geschlechter fortgeschrittene Untergrabung der konservativen Mächte des Familienlebens, die zumal im Adel sonst die Grundlage und Garantie aller Zivilisation zu bilden bestimmt sind, wurden in einer kritischen Zeit verhängnisvoll und trugen bei zur Erzeugung einer den geistigen Horizont der Jugend erfüllenden Denkatmosphäre, von deren Zügellosigkeit der Fernstehende Mühe hat sich eine Vorstellung zu bilden. Wie heute, waren schon damals die höheren Bildungsanstalten, denen zu einer gedeihlichen Wirksamkeit so gut wie alles fehlte, die natürlichen Sammel- und Brutstätten der fortgeschrittenen Aufklärung. Die Tradition erzählt selbst von theologischen Seminarien und Akademien, hinter deren dicken Mauern wohl die Produkte einer gemäßigt freien Richtung (wie die Schriften von KUNO FISCHER) auf das Strengste verpönt waren, heimlich aber umso ausschließlicher schlechte Übersetzungen deutscher Materialisten und französischer Kommunisten einem andächtigen Studium dienten und als kostbares Erbstück von einer Schülergeneration die andere übergingen. Die hier auf Umwegen geförderten Tendenzen wurden in den massenhaft vermehrten Gymnasien womöglich mit Vorbedacht gepflegt. In der Familie empfing der Haussohn den Geschmack für den Radikalismus mit dem täglichen Brot. Es war ein offenes Geheimnis, daß unter den Zöglingen der Militärschulen ein Geist herrschte, der zu ihrer äußeren Disziplin im umgekehrten Verhältnis stand. Aber als öffentliche Tummelplätze des maßlosesten Radikalismus dienten die nach dem Wegfall ihrer bisherigen Beschränkungen äußerlich schnell aufblühenden Universitäten, in denen sich während jener Übergangszeit zwischen altem und neuem Regime die Tradition der Zuchtlosigkeit einwurzelte, die seitdem die Kalamität [mißliche Lage - wp] des russischen Universitätswesens geblieben ist; allen anderen Anstalten voran damals die medizinische Akademit Peterburgs (8).

Die in vollen Zügen genossene destruktive Weisheit des Jahrhunderts erzeugte in den jugendlichen Köpfen einen pathologischen Zustand ständigen Rausches, der die Flitterwochen des Konvertitendünkels zu verewigen schien. Wohl niemals hat die Idee "Wissenschaft" so verheerende Wirkungen wie hier angerichtet. Auf den Gebieten der Philosophie und Ethik wie der Politik und der Sozialtheorien wurden mit Keulenschlägen die von einer Jahrhunderte alten Kultur aufgerichteten "Vorurteile" niedergelegt. Die vernichtende Arbeit ging umso erfolgreicher vonstatten, als es sich größtenteils nur um die Zerstörung lästiger Formen handelte, aus denen der belebende Geist längst gewichen war; und indem der vordringende Radikalismus sich bald bei den Grenzen der Denkmöglichkeit angelangt fand, blieb nur ein krampfartiger Drang der Verneinung des bisher Geltenden übrig, der Nihilismus heißt. -

Es war an früherer Stelle von einem allseitigen Wetteifer die Rede, der um den Ruhm des être le plus avancé en civilisation [auf der Höhe des Fortschritts - wp] sich erhoben hatte. Der Nihilist stand außerhalb dieses Wetteifers, nicht weil er den Eifer nicht teilte, sondern weil seine Überlegenheit im Wettstreit außer Frage stand. Wir kommen damit auf den zweiten Punkt unserer Charakteristik, der das persönliche Verhältnis des Nihilisten zur Gesamtheit seiner älteren Zeitgenossen angeht. In gewissen Stücken, in der Verneinung aller menschlichen Verpflichtungen, in der Infragestellung von Moral und Familie, verwehrten unüberwindbare Hindernisse dem Alter, es der Jugend nachzutun; und eine hinzutretende Empfindung der eigenen inneren Haltlosigkeit ließ nicht viel daran fehlen, daß der Radikalismus der "Söhne" den "Vätern" imponierte. Auf jene objektive Überlegenheit gegründet, erhielt die Überhebung der Jugend, durch dieses subjektive Zeugnis bestärkt, die Weihe eines vollendeten Zynismus. Es verstand sich von selbst, daß die ganze Misere der öffentlichen Zustände, wie sie sich vom Gesichtspunkt des demokratischen Kritikers darstellte, der Schwäche der Halbheit des politischen Publikums zur Last gelegt wurde. Im Vollgefühl einer noch durch keine Probe geschwächten Tatkraft, das reichste Wirkungsfeld praktischer Reformarbeit vor Augen, glaubte der Jüngling mit ganzer Seele an seinen Beruf, die Sünden der Väter zu sühnen und fühlte sich als Held zukünftiger Großtaten. Es würde falsch sein, sich den Nihilisten jener Tage anders vorzustellen als den an der Spitze seiner eingebildeten Zivilisation marschierenden Pionier des Fortschritts, der, auf das geistige Niveau seiner Zeitgenossen herabsehend, sich von der beneidenden Bewunderung des großen Publikums getragen wußte.

Seinem bewußten und gewollten Kontrast gegen die Mittelmäßigkeit des landläufigen Freidenkertums verdankte der Nihilismus nicht nur ein erwünschtes Relief, sondern zugleich gewisse Charaktereigentümlichkeiten. Der sittlichen Schlaffheit, die man der älteren Generation vorwarf, wurde ein zur Schau getragener Kultus der abstrakten Energie gegenübergestellt. Eine geheimnisvolle Verschlossenheit auf dieser Seite stach ab von dem lärmenden Gebaren, das auf jener an der Tagesordnung war. In entsprechender Weise kann die vielgescholtene Verachtung des Schönen, deren Nihilismus sich rühmte, von der Kunst und Poesie bis herab zu den gesellschaftlichen Regeln der äußerlichen Gesittung, nur als eine Funktion desselben Kontrastes verstanden werden. Das harmlose Interesse an diesen verketzerten Dingen, durch das der durchschnittliche Fortschrittsmann die Leere seiner zahlreichen Mußestunden nach hergebrachter Gewohnheit aufüllen half, in einer Zeit, wo es galt ein ganzes Volk aus geistigem und leiblichem Elend in eine menschliche Existenz emporzuheben, wurde als erbärmliche Konzession [Zugeständnis - wp] an die kurzsichtige Selbstsucht einer Lebensanschauung gebrandmarkt, über die der Fortschritt der Zivilisation das Urteil gesprochen hat. Eine bis zur Flegelhaftigkeit gesteigerte geflissentliche Vernachlässigung der gesellschaftlichen Umgangsformen und die Verketzerung aller "sentimentalen Spielereien" bildeten den Protest der nihilistischen Jugend, dessen drastische Äußerungen dieser den nicht völlig berechtigten Vorwurf des Barbarismus eingetragen und eine Art Berühmtheit erlangt haben.
    "Dann ist hier noch der Arzt", heißt es in einem Roman Tolstois, "ein junger Mann, noch kein ganzer Nihilist, aber, weißt Du, er ißt mit dem Messer - sonst ein sehr guter Arzt."
"Ein Stück Käse ist mir lieber als der ganze Puschkin", schrieb der neumodische "ernsthafte" Dichter und Nihilist NEKRASSOW. Die Koryphäen der schönen Literatur und Kunst wurden jeder mit einem seiner Individualität angepaßten Zynismus aus dem Tempel geworfen - aber mit der mildernden Motivierung, ,daß mit dem Ernst der Gegenwart ästhetische Spielereien nicht verträglich sind, und mit dem Vorbehalt einer künftigen Rehabilitation. TSCHERNYSCHEWSKI, der gefeierte Literat der jungen Generation, unternahm als Romanschriftsteller den Versuch, sich aller ästhetischen Reizmittel, alles literarischen Raffinements zu entäußern, umd "die Wahrheit des Tatsächlichen" umso ausschließlicher und ungestörter reden zu lassen. -

TURGENJEW läßt seinen nihilistischen Helden jung sterben. Daß auch der Nihilismus in seiner ursprünglichen Gestalt, gleich seinem Vertreter im Roman, nur ein Eintagsdasein führte, daß er nach dem Ablauf der ihm zugemessenen kurzen Spann Zeit untergehen oder ausarten mußte, wird deutlich, sobald wir unsere Aufmerksamkeit der positiven Seite einer Doktrin zuwenden, die bis jetzt nur als negative, zerstörende Kritik dargestellt wurde.

Daß der Nihilismus originelle sozialwissenschaftliche Gedanken hervorgebracht hat, wird niemand behaupten wollen; aber andererseits ist die Meinung durchaus irrtümlich, als sei von den Nihilisten aus der Not eine Tugend gemacht, und das allgemeine Chaos im Ernst als letztes Ziel seines Strebens angesehen worden. Obgleich MICHAEL BAKUNIN sich zu Zeiten dieser Paradoxie schuldig gemacht haben mag, brauchen wir doch, um den hier in Rede stehenden Nihilismus gegen diesen Vorwurf zu schützen, nur auf TSCHERNYSCHEWSKIs Roman "Was tun?" oder selbst auf den richtig verstandenen Charakter des seinerzeit als Karikatur verschrieenen Basarowin TURGENJEWs "Berufung" zu nehmen. Der Nihilist fühlte sich vielmehr eigentlich als Erbe der Zukunft; nur leichte Morgennebel schienen den Ausblick in das gelobte Land auch dem Auge derer noch zu verschleiern, die auf der Höhe des Fortschrittst standen. Sein Leben dem Volk zu weihen, ist immer das Ideal des Nihilisten geblieben: ein Ideal, mit dem seine utilitarische Moralphilosophie, von einem exklusiven Egoismus trotz alles gegenteiligen Scheins weit entfernt, auf das Beste verträglich war, und dem er mit der ganzen unbegrenzten Hingebung eines slawischen Charakters anhing. Nur das Wie, nicht der Wille zum positiven Schaffen stand in Frage.

Die nächste und zunächst befriedigende Aufgabe des Nihilisten war der tägliche Kampf gegen eigene und fremde, wirkliche und vermeintliche Vorurteile. Nicht nach einem hergebrachten Schlendrian, sondern nach streng rationaler Überlegung sein Denken und Streben zu regeln, "aus den Prämissen folgern zu können", wie man sich ausdrückte, wurde als eine Erfordernis der Wahrhaftigkeit und der Menschenwürde empfunden. Wer sich in die ganze Geschmacklosigkeit dieser Lebensanschauung hineinzudenken wünscht, braucht nur einige Kapitel des genannten Romans von TSCHERNYSCHEWSKI zu lesen. Als besonders verdienstlich galt das rettende Werk der propagandistischen Arbeit an den jüngeren Mitgliedern des weiblichen Geschlechts, die unter der Vorurteilsknechtschaft am härtesten zu leiden hatten. Die damals in die Mode kommende Bewegung für Frauenemanzipation kam diesem Bestreben entgegen. Die besonderen hier der Überwindung harrenden Vorurteile betrafen die konventionelle Unselbständigkeit des weiblichen Geschlechts in seiner ganzen Lebensführung; und neben der Aufgabe, die weibliche Seele zu "entwickeln", wie der technische Ausdruck für die nihilistische Aufklärungstätigkeit lautete, galt es hier die zur Sklavin des Mannes Entwürdigte zur Selbständigkeit und in die Sphäre der nur durch den eigenen freien Willen gebundenen ehelichen Liebe emporzuheben. Die Schließung von Scheinehen, die damals wie später nicht selten gewesen sein sollen, hatte den Zweck, das Joch der väteriche Gewalt zu brechen. - Ein weiteres, reiches Arbeitsfeld eröffnete die ungeheure Aufgabe der Elementarbildung des arbeitenden Standes, eine Aufgabe, deren nach modernen Begriffen in der Tat eine erschreckende Vernachlässigung ein bevorzugtes Thema fortschrittlicher Weltverbesserung bildete. Die 95 Prozent des Lesens Unkundiger, die man noch unter den Rekruten des Jahres 1868 zählte, geben einen ungefähren Maßstab, um abzuschätzen, wieviel auf diesem Gebiet nachzuholen war. Mit der ersten Schule 1858 in Kiew beginnend, breitete sich in kurzer Zeit über das Reich ein dichtes Netz der sogenannten Sonntagsschulen aus, in denen 1862 schon 20 000 Schüler zu den Füßen der lehrenden Jugend saßen.

Aber alle Tätigkeit solcher Art, so befriedigend die Erfolge im Einzelnen sich gestalten mochten, besaß doch als Ganzes in den Augen des nihilistischen Reformators nur eine untergeordnete oder vorbereitende Bedeutung. Das Bevorstehen irgendeiner großen gemeinschaftlichen Aktion war eine Notwendigkeit schon als die Konsequenz der Geringschätzung, mit welcher seit Jahr und Tag auf die Tatenlosigkeit der älteren Generation herabgesehen wurde und muß als solche empfunden worden sein. Daß schließlich die große Befreiung, von der man träumte, nur auf politisch-wirtschaftlichem Feld liegen kann, war in der ganzen Gedankenrichtung der Zeit begründet und es wurde nun von der weitgreifendsten Bedeutung, daß der mehrfach genannte TSCHERNYSCHEWSKI, der auf diesem Gebiet die maßgebende Autorität ausübte, die nihilistische Spekulation von der rein politischen Sphäre ab und auf die rein sozialistische hinlenkte. TSCHERNYSCHEWSKI erklärte unter Hinweis auf die Zustände der politisch freieren westlichen Länder alle konstitutionellen Bestrebungen für nutzlos, solange die wirtschaftliche Freiheit fehlt und nannte den Konstitutionalismus veraltet und reaktionär; er ging auch über HERZENs Protektion des Gemeindebesitzes hinaus und forderte die Verallgemeinerung des wirtschaftlichen Assoziationsprinzips. Aber an diesem Punkt begann erst die eigentliche Schwierigkeit des Weiterdenkens. Die von TSCHERNYSCHEWSKI empfohlenen und von seinen Anhängern hie und da ins Leben gerufenen Konsum- und Produktivvereine nach SCHULZE-DELITZSCH konnten unmöglich als Lösung des sozialen Problems gelten, und jedem sozialistischen Manöver großen Maßstabs stand die vorwiegend agrarische Zusammensetzung der russischen Arbeiterschaft und noch mehr das vorwiegend auf agrarische Reformen gerichtete Interesse jener Jahre entgegen. Die sozialistischen Rezepte wollen hier nicht ohne Weiteres passen, und die Notwendigkeit selbständigen Denkens war den vermeintlichen Freidenkern neu. Der russische Gemeindebesitz enthielt allerdings ein sozialistisches Element, aber nichts mehr, erschien überdies zu alltäglich, war schon vom Liberalismus mit Beschlag belegt und von TSCHERNYSCHEWSKI als unzureichend verurteilt: kurz, die Programmbildung stieß hier auf Schwierigkeiten. Derartige Erwägungen, mehr verworren als mit scharfen Umrissen in das Bewußtsein tretend, wurden für den Entwicklungsprozeß eines positiven Nihiismus ein Hemmschuh; umso mehr, als in der noch jungen Bewegung der Nachdruck naturgemäß zunächst auf die negative Seite ihrer Bestrebungen fiel und die in der propagandistischen Wirksamkeit enthaltene momentane Befriedigung des Tätigkeitssinnes es erlaubte, sich vorderhand lästiger Zukunftsgedanken zu entledigen. Der Scheu eines Eingeständnisses dieser Ratlosigkeit selbst vor dem eigenen Bewußtsein kam die übliche Unsitte der Nihilisten zuhilfe, durch eine geheimnisvolle Schweigsamkeit die Grenzen seiner Pläne und seines Denkens in ein wohltätiges Dunkel zu hüllen.

Aber indem das Mißverhältnis zwischen Wollen und Handeln täglich empfindlicher fühlbar wurde, bemächtigte sich ein gewisses Unbehagen mehr und mehr der zuversichtlichen Stimmung einer Jugend, deren krankhaft gereizter Tatendrang nach neuen Bahnen verlangt. Aus der Unleidlichkeit dieser Situation wird die damals aufkommende eigentümliche Mode gewisser nihilistischer Sonderlinge einigermaßen verständlich, die sich durch eine bis zur mönchischen Selbstpeinigung gesteigerte Abhärtung des Körpers für die Aufgaben einer unbekannten Zukunft würdig vorzubereiten meinten.

In dieser gespannten Stimmung, deren ratlose Verlegenheit in der Titelfrage des vorhin genannten Romas "Was tun?" sich ausdrückt, zog innerhalb der nihilistischen Gesinnungsgenossenschaft die Strömung derjenigen Elemente aus der Situation ihren Vorteil, die den Mangel eines originalen Programms unter dem Fanatismus revolutionärer Leidenschaft verbargen. Zum Beweis, daß diese extreme Richtung anfänglich im Hintergrund stand, berufen wir uns auf TSCHERNYSCHEWSKI selbst, der ausdrücklich den Gedanken einer sozialen Revolution zurückweist, weil das russische Volk zu einer solchen nicht reif ist. Beschleunigt wurde dieser Entartungsprozeß teils durch die politische Stimmung der Jahre 1861 und 62, teils durch die Folgen eines weniger in die Augen fallenden, aber beachtenswerten Umstands: der übermäßigen Frequenz der russischen Universitäten. In den fünf Jahren, die auf den Thronwechsel folgten (1855-60), stieg die Studentenzahl in Rußland ungefähr auf das Doppelte. Der Zug der Zeit nach höherer Bildung erzeugte gerade in den unbemittelten Ständen einen so massenhaften Andrang wie zu den Gymnasien, so zum akademischen Studium, daß der ohnehin enorme Prozentsatz bedürftiger Studierender in der bedenklichsten Weise in die Höhe ging. Die Verbitterung eines gebildeten Proletariats, das, nach beendetem Studium oder nach ungünstigem Examen ohne Aussicht auf eine gesicherte Lebensstellung auf das Straßenpflaster geworfen, in subalterner Beschäftigung sein Leben fristete, war die bestgeeignete Vorschule für das va-banque-Spiel eines revolutionären Nihilismus.

Die Bauernunruhen, welche 1861 auf die Bekanntgebung des Emanzipationserlasses im südöstlichen Rußland folgten, und die während der nächsten Monate in denselben Gegenden fortgesetzte Kolportage aufreizender Flugblätter sind wahrscheinlich als die ersten Früchte dieser revolutionären Bestrebungen anzusehen. Die Anfänge einer geheimen, selbst periodischen Presse innerhalb Rußlands, die eine Zeit lang mit den extremen Elementen des Liberalismus gemeinschaftliche Sache machte und die Anfänge einer vom Kolokol unabhängigen Emigrantenpresse dienten den gleichen Tendenzen (9). Die akademischen Tumultszenen (10) in Petersburg und Moskau (1861), die vorhin erwähnt wurden, dürften mit mehr Recht als mitwirkende Ursache wie als Symptom der revolutionären Zeitströmung in diesem Zusammenhang in Betracht zu ziehen sein. In demselben Jahr 1861 druckte der Kolokol einen Aufruf zur Bildung politischer Geheimbünde ab, der nicht ganz ohne Erfolg geblieben zu sein scheint. Wenn die Autorität des HERZENschen Blattes immer noch eine gewisse Mäßigung der von ihm protegierten Bestrebungen verbürgt, so erblickte im folgenden Aprilmonat (1862) ein blutdürstiges Manifest das Licht der Öffentlichkeit, das, unterzeichnet von einem "zentralen Revolutionskomitee" mit polemischen Wendungen gegen HERZENs "friedliebende" Politik die Ermordnung des Zaren und nötigenfalls des ganzen Hauses ROMANOW forderte. Kurz darauf wütete in Petersburg die große Feuersbrunst, von der an früherer Stelle die Rede war, wurden unter dem Schein der Flammen revolutionäre Blätter im Publikum ausgeteilt, und wenig später die Ursprungsstätte der geheimen Presseprodukte in der Druckerei des Gardegeneralstabs entdeckt: ein Beweis zumindest für die sympathische Geneigtheit, die auch jetzt noch selbst in den höheren Gesellschaftskreisen gegenüber dem staatsfeindlichsten Radikalismus Raum fand. Erst jetzt glaubte sich die Polizei berechtigt, mit energischen Repressalien, namentlich mit einer längeren Reihe von Verhaftungen vorzugehen, denen auffälligerweise auch der seitdem als Märtyrer gefeierte TSCHERNISCHEWSKI zum Opfer fiel. Gleichzeitig wurden die studentischen Lesegesellschaften sowie der durch seinen Radikalismus berüchtigte Schachclub in Petersburg aufgelöst, die Sonntagsschulen, die zum großen Teil zu Werkzeugen der revolutionären Propaganda geworden waren, samt und sonders geschlossen. Es hat den Anschein, als sei durch dieses generelle Vorgehen der Polizei ein erheblicher Teil der weniger links stehenden Jugend den Revolutionären in die Arme getrieben worden; zumindest nahm die Bewegung trotz der eingetretenen Repression einen nochmaligen Aufschwung. Eine Anzahl vorwiegend in der Hauptstadt ansässiger Gesellschaften, deren Ursprung teilweise bis 1857 zurückreicht, vereinigten sich unter der Devise und Benennung "Land und Freiheit!" zu einem bauernfreundlichen Revolutionsbund (11), der durch eine organisierte Kolportage [Verbreitung - wp] seine Flugschriften unter das Volk brachte und mit den polnischen Rebellen in eine hochverräterische Verbindung trat. Um die gleiche Zeit (1862/63) blühte auch in Kasan ein aus Offizieren und Studenten sich zusammensetzender Verein auf, der sich mit der Verbreitung gefälschter Regierungsmanifeste beschäftigte. Ferner soll eine von dem polnischen Revolutionär WRUBLEFSKI gegründete geheime sozialistische Gesellschaft im Litauischen existiert haben. Dem kurzen Bestand dieser Organisationen machte die Polizei schon 1863 ein Ende. In Kasan fanden fünf Hinrichtungen statt; die Reste der Petersburger Gesellschaft zerfielen wieder in eine Reihe kleinerer Vereine, die noch eine Zeit lang ihre bedeutungslose Existenz fortsetzten. Die Krisis des Polenaufstandes hatte die der Revolution bisher förderliche Atmosphäre gereinigt, und die Dritte Abteilung konnte sich rühmen, der gefährlichen Bewegung Herr geworden zu sein.

Ein Teil der in den letzten Jahren mehr oder weniger kompromittierten jungen Leute hatte sich beizeiten über die Grenze gemacht, um die interessante Rolle des politischen Märtyrers auf freier Erde zu spielen und zu genießen. Die natürliche Heimat der russischen Emigration, London (und nach HERZENs Übersiedlung 1865 nach Genf), war auch ihr Sammelplatz. Aber diese nach Abkunft und Charakter gleich plebejische, an Geist und Körper heruntergekommene Gesellschaft trennte vom geistreichen Kreis des aristokratischen Londoner Volksfreundes nicht viel weniger als alles. Durch einen eigensinnigen Doktrinarismus, dünkelhaft Prätensionen [Voreingenommenheiten - wp], mangelnde Bildung und noch schlechteres Benehmen sich auszeichnend, fingen die Ankömmlinge auf der Stelle Zänkereien an und hatten sich bald unmöglich gemacht. Sie spielten trotzdem ihre agitatorische Rolle weiter, deren literarische Früchte, in formeller Hinsicht meistens erbärmlich, in ihrem Inhalt zu phantastischem Unsinn ausarteten. Wir lesen staunend von einem "Londoner Komitee der kosmopoetischen Gesellschaft der Hüter wahrer Aufkläärung" (1866), das durch die Posie (?) die Politik überwinden will, unter deren Druck die Menschheit seufzt, das den Kaisermord als die große "Tat der Taten" verherrlicht und vergebliche Versuche macht, seine Netze nach Rußland auszuwerfen. Wir finden daneben die unreinlichen Ergüsse einer ohnmächtigen Polemik gegen HERZEN, die ihre Lust darin suchte, dem toten Löwen zur Kühlung ihres Heldenmutes einige ungeschickte Fußtritte zu applizieren [verpassen - wp].

In der russischen Heimat lebte der Revolutionsgeist im Jahr 1865 nochmals auf. In diesem Jahr bildete sich unter Beteiligung ehemaliger Mitglieder der Gesellschaft "Land und Freiheit" in Moskau und Petersburg eine geheime Gesellschaft, der Zentralkomitee den Namen "Hölle" führte und mit der (im Herbst gegründeten) MARXschen International in Verbindung gestanden haben soll. Dank der Freigiebigkeit eines wohlhabenden Mitglieds konnte sie die Gründung von Volksschulen, Konsumvereinen und Genossenschaften ins Auge fassen; daneben wurden Emissäre [Abgesandte mit geheimem Auftrag - wp] ins Volk gesandt, die, wie es scheint unter der Maske einfacher Handarbeiter, revolutionäre Agitation trieben. Schließlich faßte der engere Rat der Gesellschaft den Plan eines gegen den Kaiser zu richtenden Attentats, nicht sowohl mit dem Zweck, diesen aus der Welt zu schaffen, als um der offenbar wenig erfolgreichen agitatorischen Wirksamkeit einen Impuls zu geben. Die anfängliche Absicht, einen der bereits "im Volk gewesenen" Genossen mit der Ausführung zu betrauen, damit die Tat als spontanes Produkt einer Volksbewegung erscheint, wurde angesichts der drängenden Bereitwilligkeit zurückgezogen, mit der ein gewisser KARAKOSOW seine Dienste anbot. KARAKOSOW, ein unheilbar Kranker, der als geistig beschränkt, aber Energie besitzend geschildert wird, wählte einen Spaziergang des Kaisers im Sommergarten zur Gelegenheit der mörderischen Tat (4. April 1866). Der beabsichtigte Effekt des Attentats hätte vollständiger nicht verfehlt werden können: der Geistesgegenwart eines Bauern, der im entscheidenden Augenblick über den Mörder herfiel, wurde die Ablenkung des Pistolenlaufs von seinem Ziel verdankt. Der Retter nach in unbestimmter Furcht vor einem Rencontre [Treffen - wp] mit der Polizei Reißaus, wurde aber eingeholt, reichlich beschenkt und in den Adelsstand erhoben.

Die Folgen dieses Attentats waren ein strenges Strafgericht über die Teilnehmer der "Hölle" und ein im Sinne der Reaktion vorgenommener Wechsel in der Leitung des Unterrichtsministeriums, dessen liberalem Regiment (seit der Affäre von 1861) man die staatsfeindliche Entartung der Jugend zur Last legte. Die revolutionäre Tätigkeit war vorderhand gelähmt. Innerhalb der gleichfalls im Niedergang begriffenen und seit TSCHERNYSCHEWSKIs Verhaftung führerosen, mehr friedlichen Richtung des Nihilismus wurde von Seiten der besonneneren Elemente Klage geführt, daß ein Geist unfruchtbarer Negation an Raum gewinnt; ein Stand der Dinge, dem der Charakter des provisorium an der Stirn abzulesen war, und der das gänzliche Erlöschen der nihilistischen Bewegung einzuleiten schien.
LITERATUR - Karl Oldenberg, Der russische Nihilismus, Leizpig 1888
    Anmerkungen
    3) In TURGENJEWs Roman "Väter und Söhne" erklärt Frau Kuschkin von GEORGE SAND: "sie hat gar keine Vorstellung weder von der Erziehung noch von der Psychologie - von nichts. Ich bin überzeugt, sie hat nicht einmal von Embryologie gehört - und wie kann man diese Wissenschaft heute entbehren?"
    4) Die Bauern der Domänen, den Privatbauern an Zahl nahezu gleich, aber von vornherein in einer günstigeren Lage, wurden 1866 den letzteren im Wesentlichen gleichgestellt.
    5) Ein deutliches Symptom für den Ernst seiner revolutionären Pläne sind die intimen Beziehungen, welche HERZEN durch die Vermittlung seines Schützlings, des verrückten KELSSIEW, mit dem russischen "Raskol" zu knüpfen suchte, jenen sieben Millionen altgläubigen Sektierern, die seit der Kirchenreform des 17. Jahrhunderts mit fanatischer Zähigkeit an ihren albernen Archaismen [Veraltetes - wp] festhalten und teilweise die schroffste Feindschaft gegen den Staat großziehen. Schon in den dreißiger Jahren standen diese Sektierer mit der polnischen Nationalpartei in Verbindung, die durch ihre Beihilfe in den Stand gesetzt wurde, der türkischen Regierung wichtige Dienste zu leisten. Etwa 1862 erschien ein Vertrauensmann der Altgläubigen, PAFNUTY, mit weitgreifenden, von KELSSIEW angezettelten Plänen für die Zukunft seiner Sekte, in London, gewann aber bald trotz aller möglichen von HERZEN genommenen Rücksichten die Überzeugung, daß eine Verbindung mit den frivolen Freigeistern sich für die "Altgläuber" nicht schickt.
    6) So SCHÉDO-FERROTI (1867) und HERZEN (1869).
    7) Die Bezeichnung Nihilist und Nihilismus, 1862 durch TURGENJEWs Roman "Väter und Söhne" zu allgemeinster Geltung gelangt, ist in Rußland nur für die erste Periode der Bewegung und ihre Träger im ausschließlichen Gebrauch, dagegen für die spätere Zeit weder in der offiziellen noch in der Umgangssprache durchweg üblich. Die Nihilisten neueren Datum heißen vielmehr nicht selten mit einem farbloserem Ausdruck "Revolutionäre" oder "Sozialisten". Außerhalb Rußlands hat sich durch TURGENJEWs Roman die früheste Bezeichnung als alleiniger Name des Ganzen eingebürgert; nur einzelne nichtrussische Schriftsteller, wie STEPNIAK, KROPOTKIN, ALPHONS THUN, weichen von dieser Regel ab. Die Nihilisten selbst nennen sich neuerdings vielfach nach den Bezeichnungen ihrer Teilgruppen (Terroristen, Narodowoljzy usw.) In den achtziger Jahren ist eine von der Partei selbst ausgehende Beschränkung des nihilistischen Namens auf die terroristische Fraktion zu Gange. Wir haben keine Ursache, von dem zugleich praktischen und wohlbegründeten summarischen Sprachgebrauch abzuweichen, der einmal üblich geworden ist.
    8) Später die Moskauer landwirtschaftliche Akademie und das Petersburger technologische Institut.
    9) Erwähnt sollen von der erstgenannten Gattung der "Großrusse" und "Freiheit" sein (beide periodisch erscheinend); von der zweiten das Berliner "Freie Wort" LEONID von BLÜMNERs; alle vom Anfang der sechziger Jahre.
    10) Bemerkenswert ist, daß schon bei dieser Gelegenheit, "Revolutionäre in der Krinoline" die Aufmerksamkeit erregten, "welche", wie es in einem gleichtzeitigen Petersburger Brief heißt, "von allen die fanatischsten sind".
    11) Der Name ist dem Titel einer revolutionären Flugschrift oder Zeitung entlehnt, die für die Bauern mehr Land- und Abgaben-Freiheit forderte. - Über den Charakter der Gesellschaft heißt es in einem von ihr ausgegebenen Aufrufe: "Unsere Gesellschaft setzt sich aus Männern zusammen, die angesichts der Unfähigkeit und hartnäckigen Verblendung unserer Regierung an die Unvermeidlichkeit einer Revolution glauben, und zwar einer blutigen Revolution. Ihr Zweck ist, aus dem Kreis der russischen Intelligenz die Besten zum Dienst des Volkes zu sammeln; ihr letztes Ziel die vollständige Emanzipation der Bauern, die Anerkennung ihres Rechts auf den kollektiven Besitz des Landes und die Autonomie der Gemeinden und Kreise."