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JOHANNES VOLKELT
Kants Stellung zum
unbewußt Logischen

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"Dieses Mittlere, wodurch die Synthesis des sinnlichen Stoffes durch den reinen Verstand einen Boden erhält, auf dem sie sich vollziehen kann, wird durch die Schemen der reinen Verstandesbegriffe repräsentiert. Dieses schematisierende, also eigentlich subsumierende und urteilende Verfahren der Einbildungskraft nennt Kant »eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden.« Wir haben hier ein unbewußtes Urteilen der Seele, denn durch die in den Schemen enthaltenen Regeln werden den Verstandesbegriffen auf unbewußte Weise gewisse entsprechende Wahrnehmungen subsumiert."

Wer die ungemeine, ja unvergleichliche Bedeutung KANTs für die Geschichte der Philosophie richtig würdigen will, wird sich vor Allem gegenwärtig halten müssen, daß KANT am Anfang der neuesten Periode der Philosophie seinen Platz einnimmt. Die neueste Philosophie hat eine ungleich schwierigere, weil weiter umfassende und tiefer gehende Aufgabe zu lösen, als die Philosophie der früheren Zeit. Der philosophierende Geist hatte sich im Altertum und Mittelalter und weiter in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit in den mannigfachsten Einseitigkeiten und Extremen dargestellt. Den Spaltungen des philosophischen Denkens und den widersprechenden Lösungen seiner Probleme lagen die fundamentalsten, prinzipiellsten Gegensätze zugrunde. Die Schwierigkeit der Aufgabe der neuesten Philosophie liegt nun darin, daß die Extreme, in die bisher das philosophische Denken der verschiedenen Individuen auseinandergegangen war, sämtlich in einem Kopf zusammengefaßt und in Eins gebracht werden sollten, und zwar so, daß dabei nicht etwa eine eklektische Zusammenstellung, ein Konzession machendes Ausgleichsverfahren, sondern eine aus der Tiefe der Sache entspringende Lösung zum Vorschein käme, eine Lösung, die den Wahrheitsgehalt sämtlicher Extreme gebührend würdigt, ihnen demgemäß den gehörigen Platz anweist und sie zu einem einheitlichen Organismus vermittelt. Empirismus und Rationalismus, Realismus und Idealismus, Individualismus und Pantheismus, naturalistische Weltweisheit und scholastische Gottesweisheit - jedes dieser Extreme sollte nun in seiner relativen Berechtigung begriffen und in ein einheitliches System als Moment eingeordnet werden. Zu diesem Zweck mußte die neueste Philosophie den Boden der früheren verlassen und einen Schritt tiefer gehen; nur in dieser Vertiefung des Standpunktes konnte es zur Versöhnung jener großartigen Kämpfe kommen, die auf dem Boden der vorangegangenen Philosophie geführt worden waren. KANT nun ist es, der zu dieser radikalen Lösung den ersten Schritt getan hat, indem er das erkennende Vermögen selbst, die Vernunft, seiner Kritik unterworfen hat und die ihr immananten Gesetze aufzufinden suchte. Und eben in diesem ersten entscheidenden Schritt zur Vermittlung jener Extreme liegt KANTs ungeheure Bedeutung. Es mußte weit über die Kräfte eines einzigen Individuums gehen, jene Versöhnung zu Ende zu führen, ja sie auch nur in allen Punkten mit vollem Bewußtsein zu einer bestimmten Gestaltung zu bringen. Dazu bedurfte es einer Reihe der ausgezeichnetsten, hervorragendsten Köpfe. Auf dem Grund der von KANT begonnenen Vermittlung mußten sich neue Gegensätze und Spaltungen, neue Einseitigkeit erzeugen, die bald die Überschätzung, bald die Vernachlässigung des einen oder anderen Extrems darstellen und, bei der überall auf die fundamentalsten, gleichsam nacktesten Prinzipien gerichteten Vertiefung des modernen Denkens, zugleich in derartig zugeschärfter Gestalt auftreten, daß die Dringlichkeit einer allseitigen Versöhnung immer mehr ad oculos [vor den Augen - wp] demonstriert wurde. So wenig aber auch KANT das, was er begonnen hat, zu einer nur einigermaßen befriedigenden, geschweige denn endgültigen Lösung gebracht hat, so sind doch in ihm die Keime und Ansätze zu dem gegeben, was die nachkantische Philosophie bis auf den heutigen Tag in der Vermittlung der philosophischen Einseitigkeiten geleistet hat. Mit vollständig klarem Bewußtsein hat sich KANT eigentlich nur als den Überwinder einerseits der rationalistischen (des LEIBNIZ), andererseits der empiristisch-skeptischen (englischen) Einseitigkeit erkannt. Allein der Geist des beginnenden 19. Jahrhunderts wirkte in ihm so mächtig, daß er in allen wesentlichen Fragen der neuesten Philosophie zumindest Hinweise auf das enthält, was nach ihm kommen sollte. Nur schwer dürfte sich ein philosophisches System finden lassen, das - in der Gestalt, die ihm sein Urheber gegeben hat - so wenig abgeschlossen, so wenig befriedigend ist und so mächtig und augenscheinlich an allen Punkten über sich hinausweist, wie das kantische. So erstaunlich und imponierend daher auch die philosophische Tat KANTs ist, als des Ersten, der die Axt an die Wurzel der bisherigen Philosophie gelegt hat, so war es doch ein Zeichen von Mangel an Energie und Tiefe des Denkens, nun, nachdem die kantische Tat einmal vollbracht war, bei der Gestalt des von ihm geschaffenen Systems stehen zu bleiben und diese ihm vom Urheber gegebene Form und Abgrenzung als mit dem ihm innewohnenden Geist wesentlich verbunden anzusehen. Die tieferen philosophischen Köpfe mußten erkennen, daß überall bei KANT Andeutungen von möglicher Vereinigung des von ihm noch streng getrennt Gelassenen; Hinweise auf Gebiete, die für die menschliche Vernunft unerreichbar, aber doch notwendig in der Richtung der denkenden Vernunft gelegen sein sollten, faktisch also doch fortwährend von ihr erreicht werden; ferner Wendungen, die die Notwendigkeit einer objektiven Geltung dessen, was KANT noch subjektiv faßte, nahe legen, und viele andere Anzeichen zu finden sind, die eine Sprengung der von KANT seinem Geist in ängstlicher Behutsamkeit und übergroßer Gewissenhaftigkeit auferlegten Fesseln als dringend notwendig erscheinen lassen.

Auch der in der neuesten Philosophie zu so großer Geltung gelangte und künftighin zu einer noch größeren berufene Begriff des unbewußt Logischen ist im kantischen System teils ausdrücklich anerkannt, teils - und dies weit mehr - nur vorgebildet und gleichsam im Hintergrund der kantischen Erörterung stehend. Den Nachweis, daß das unbewußt Logische in der Tat ein epochemachender Begriff ist, der die Höhe der Entwicklung des modernen Bewußtseins so charakteristisch wie vielleicht wenig andere bezeichnet, und daß ihm darum diese Bedeutung zukommt, weil ohne diesen Begriff der Dualismus von Geist und Natur, Subjektivität und Objektivität niemals überwunden werden könnte, müssen wir uns hier versagen. Schon der Umstand, daß das unbewußt Logische immer mehr in das Bewußtsein unserer Zeit eindringt und ihm immer geläufiger wird, legt seine ungeheure Wichtigkeit für die Philosophie nahe, die ja im Grunde nichts Anderes als den geistigen Gesamtinhalt der Zeit gleichsam in begrifflicher Quintessenz zu Bewußtsein bringen soll. Niemals kann es ohne Nutzen sein, sich über wesentliche Begriffe und Fragen der neuesten Philosophie an KANT, diesem Wendepunkt in der Geschichte des philosophischen Denkens, zu orientieren und zu fragen, ob diese Begriffe im kantischen System ausdrücklich zu finden sind, oder inwieweit zumindest das kantische Denken auf sie hin angelegt war und in seiner Fortentwicklung notwendig auf sie stoßen mußte. Meine Untersuchung über die Stellung KANTs zum unbewußt Logischen wird uns daher einen nicht zu verachtenden Aufschluß in der Frage geben, ob das unbewußt Logische berufen ist, in der Lösung der wichtigsten Fragen eine entscheidende Rolle zu spielen, nd ob der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des Bewußtseins wirklich, wie CARUS und HARTMANN wollen, in der Region des Unbewußtseins liegt.

Ich beginne mit KANTs transzendentaler Ästhetik. Raum und Zeit werden nicht von den äußeren Gegenständen abstrahiert und beim Beginn unseres Anschauungsprozesses in uns hineingetragen; sie sind vielmehr die in uns liegenden Bedingungen, unter denen Anschauungen allein zustande kommen können. Raum und Zeit sind die Formen unserer Rezeptivität, die in uns zur Aufnahme und Einordnung des mannigfachen Empfindungsinhaltes bereit liegen. Sie gehen also allen Anschauungen und Wahrnehmungen voran, die ja erst durch die Einrangierung des Empfindungsmaterials in jene leeren Formen der Sinnlichkeit hervorgebracht werden. Da nun nach KANT zur Entstehung des Bewußtseins "die innere Wahrnehmung vom Mannigfaltigen, das im Subjekt vorher gegeben wird", erforderlich ist (KANTs Werke, Bd. II, hg. von ROSENKRANZ, Seite 717), so sind die Formen unserer Sinnlichkeit, insofern sie allen Anschauungen in uns vorangehen, in unbewußtem Zustand in uns vorhanden. Raum und Zeit, als die reinen Formen all unserer Anschauungen, sind aber selbst Anschauungen, indem sie nämlich die leere Form des Neben- und Nacheinanders zu ihrem Inhalt haben. KANTs transzendentale Ästhetik führt also in der Tat zu Anschauungen unbewußter Natur, mag dies auch von KANT nicht mit voller Klarheit herausgehoben sein. Doch muß ihm überall da, wo er sagt, daß die Anschauung von Raum und Zeit vor allen wirklichen Wahrnehmungen in unserem Gemüt angetroffen wird, der Begriff des unbewußten Anschauens zumindest vorgeschwebt haben. Dies erhellt sich auch daraus, daß, wie KANT andeutet (II, 717), zur Erzeugung der Wahrnehmungen nicht das fertige Bewußtsein, sondern nur "das Vermögen, sich bewußt zu werden", an das Empfindungsmaterial herantritt, um dasselbe zu apprehendieren. Daß wir hier keineswegs einen KANT ganz fremden Begriff ihm unterschieben, wird aus der auch von HARTMANN am Beginn seines Werkes angeführten Stelle aus KANTs "Anthropologie" (VII, 2. Abt. 21) ersichtlich, wo KANT, im Gegensatz zu LOCKE, keinen Widerspruch darin findet, Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein. Wenn daher KANT auf seine Kardinalfrage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, zuerst mit den reinen Formen aller Anschauung antwortet, so sieht man, daß er sogleich beim ersten Schritt, den er zur Beantwortung seiner Hauptfrage tut, in das hinter dem Bewußtsein liegende Gebiet gerät. Ganz unversehens betritt KANT, indem er den einen Stamm der menschlichen Erkenntnis, die Sinnlichkeit, ausmessen will, die Region des Unbewußtseins.

Ganz dasselbe widerfährt ihm bei dem Unternehmen, das Gebiet des zweiten Erkenntnisstammes, des Verstandes, zu durchmessen. Da nun die Erfahrung das Werk des Verstandes ist, so richtet KANT seine Frage dahin, welche dem Verstand immanente Funktionen die unumgängliche Voraussetzung der tatsächlich vorhandenen Erfahrung bilden. Unter Erfahrung aber versteht KANT die mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit verknüpfte Verbindung der empirischen Wahrnehmungen. Der tiefste Grund der Erfahrung, über den KANT nicht hinauskommt, liegt in der ursprünglichen oder transzendentalen Einheit unseres reinen Selbstbewußtseins, in dem von allen empirischen Zutaten freien: "Ich denke". Indem alle von uns aufgenommenen Wahrnehmungen auf diese stets identische Einheit der Apperzeption, auf das einheitliche, unter allen Wahrnehmungen identische Ich bezogen werden, entsteht die durchgängig zusammenhängende, objektive Erfahrung. Dieses einende, verbindende "Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis" äußert sich nun, indem es seine Synthesen im Erfahrungsstoff vollzieht, in verschiedenen Formen; seine Funktionen stellen die synthetische Einheit der Erfahrung in bestimmten unterschiedenen Arten dar. Diese Formen sind die Stammbegriffe des reinen Verstandes, die Kategorien. Alles, was Erfahrung werden soll, muß daher in die Form der Kategorien gleichsam hineingegossen sein. Wie früher die reinen Formen der Anschauung, so gehen auch die reinen Verstandesbegriffe aller Erfahrung vorher. Die synthetische ursprüngliche Einheit des Selbstbewußtseins wird daher, insofern sie vor aller Erfahrung, also in nur potentiellem Zustand da ist, nicht eigentlich die Einheit des schon wirklichen Selbstbewußtseins sein - denn Bewußtsein entsteht erst durch die Erfahrung -, sie ist vielmehr die Einheit des nur möglichen, erst später wirklichen Selbstbewußtseins, also eine unbewußte Einheit. Nur diese unbewußt vorhandene Einheit mit ihren ebenso unbewußt vorhandenen reinen Verstandesbegriffen konnte KANT meinen, wenn er von einer Einheit des Selbstbewußtseins spricht, "die vor allen Datis der Anschauungen vorhergeht" (II, 99). Daß diese aller Erfahrung vorangehende Einheit des Selbstbewußtseins nur ein ungenauer Ausdruck ist für das, was KANT eigentlich im Sinn hatte, geht daraus hervor, daß KANT öfters von der Einheit des möglichen Selbstbewußtseins spricht (II, 108, 115 und sonst). Diese Einheit des möglichen Selbstbewußtseins ist aber nichts anderes als "die Art, wie das Mannigfaltige der sinnlichen Vorstellung zu einem Bewußtsein gehört" (II, 115f). Also was der Erfahrung vorangeht, ist nicht die Einheit des wirklichen Selbstbewußtseins, sondern das, was sachlich von dieser Einheit übrig bleibt, wenn man die Form des Selbstbewußtseins von ihr abzieht, also die objektive Einheit, die erst durch das Hinzutreten des Wahrnehmungsstoffs ins Bewußtsein gehoben wird, oder wie KANT sagt, die Art wie das Mannigfaltige der empirischen Vorstellungen zu einem möglichen Bewußtsein gehört. Objektiv und inhaltlich ist die Einheit des erst möglichen (also noch unbewußten) und des schon wirklichen Selbstbewußtseins ganz dieselbe; zu dem durch die Kategorien ausgedrückten gleichen Inhalt kommt im letzteren Fall nur die Form der bewußten Existenz dieses Kategorieninhaltes hinzu. Klarer als anderswo äußert sich KANT darüber in einer Anmerkung zur Deduktion der Kategorien in der ersten Auflage seiner Vernunftkritik (II, 106f). Das Bewußtsein von der transzendentalen Einheit des Ich, heißt es hier, "mag nun klar oder dunkel sein, daran liegt hier nichts, ja nicht einmal an der Wirklichkeit desselben; sondern die Möglichkeit der logischen Form aller Erkenntnis beruth notwendig auf dem Verhältnis zu dieser Apperzeption als einem Vermögen." Für die Möglichkeit der Erfahrung kommt es also im tiefsten Grund auf das, was das Vermögen der transzendentalen Apperzeption konstituiert, also auf den objektiven (Kategorien-) Inhalt derselben, nicht aber darauf an, daß diese objektive Einheit auch gewußt wird.

Aber nicht allein vor der Erfahrung reicht das Gebiet des Unbewußten in den reinen Verstand und seine Begriffe, sondern auch dann, wenn für dieses ursprünglich unbewußte Einheitsvermögen das Mannigfaltige des Erfahrungsstoffes gegeben ist und die Synthesis an ihm vollzogen wird, gehen die von KANT bezeichneten Vorgänge des Erfahrung bildenden Prozesses nicht durchgängig bewußt vor sich. Die ursprüngliche Einheit des Selbstbewußtseins mit seinen Kategorien ist noch lange nicht die faktische Synthesis des Mannigfaltigen, sondern erst die Voraussetzung für die Möglichkeit eines ordnenden Eingreifens in den Empfindungsstoff. Von sich aus hat die synthetische Einheit des Selbstbewußtseins nicht die Macht, die Synthesis des Mannigfaltigen zu bewirken. Die Kluft zwischen der rein intellektuellen Einheit des Selbstbewußtseins und dem ganz empirisch-sinnlichen Erfahrungsstoff ist zu groß, als daß ein Zusammenkommen beider stattfinden könnte. Die Vermittlerin zwischen beiden ist die produktive Einbildungskraft, die einerseits ganz im Dienste jener intellektuellen synthetischen Einheit und ihrer Kategorien steht, andererseits aber ebensosehr sinnlicher Natur ist. Die Kategorien selbst also, insofern sie nicht bloß als Formen jener synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins, sondern als in den Erfahrungsstoff eingreifende, tätigte Funktionen dieser Einheit gedacht werden, konstituieren die produktive Einbildungskraft. Sie sind ansich reine Verstandesbegriffe; sollen sie aber tun, was ihres Amtes ist, also wirkliche Synthesis erzeugen, so müssen sie sich ihrer reinen Verstandesformen entäußern und in die produktive Einbildungskraft eingehen. Diese Einbildungskraft nun nennt KANT eine blinde, obgleich unentbehrliche Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einem bewußt sind." (II, 77) Die ganze Tätigkeit der Kategorien, das Zusammenfassen und Subsumieren des Wahrnehmungsstoffes geht also - nach KANTs eigenem Geständnis - zumeist unbewußt vor sich. Wir sind uns oft - wie KANT anderwärts sagt, nur des Resultats der von den Kategorien geübten Synthesis, das eben in der gewußten Notwendigkeit der Erfahrung besteht, nicht aber des Aktus selbst, in dem die Erfahrungssynthesis vor sich geht, bewußt (II, 97). Indem die produktive Einbildungskraft die Extreme des reinen "Ich denke" und des sinnlichen Stoffs zusammenbringen soll, muß sie ein Mittleres schaffen, in dem sich Kategorien und sinnlicher Stoff begegnen und miteinander gleichsam verständigen können, das also an beiden Extremen partizipiert. Dieses Mittlere, wodurch die Synthesis des sinnlichen Stoffes durch den reinen Verstand einen Boden erhält, auf dem sie sich vollziehen kann, wird durch die Schemen der reinen Verstandesbegriffe repräsentiert. Dieses schematisierende, also eigentlich subsumierende und urteilende Verfahren der Einbildungskraft nennt KANT "eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden." (II, 125) Wir haben hier ein unbewußtes Urteilen der Seele, denn durch die in den Schemen enthaltenen Regeln werden den Verstandesbegriffen auf unbewußte Weise gewisse entsprechende Wahrnehmungen subsumiert.

Nicht also bloß vor der Erfahrung, sondern auch in der Erzeugung der Erfahrung selbst sind die unbewußten Begriffe und Urteile von unentbehrlicher Wichtigkeit. Wir haben bis jetzt immer nur die eigentliche Erfahrung im kantischen Sinn im Auge gehabt, mit der das Bewußtsein der Kategorien und ihrer Notwendigkeit wesentlich verknüpft ist. Es fallen hier zumindest dann, wenn die Erfahrung fertig ist und als Resultat vor uns steht, die notwendig objektive Einheit aller Synthesis und ihre reinen Verstandesformen ins Bewußtsein. Anders ist es bei den von KANT sogenannten Wahrnehmungsurteilen, die ganz empirischer und subjektiver Natur sind, und denen daher die Notwendigkeit und Allgemeinheit abgeht. In den empirischen Wahrnehmungsurteilen (z. B. der Zucker schmeckt süß, das Zimmer ist warm) kommen die Kategorien als solche nicht zu Bewußtsein; ich verbinde mit ihnen die Wahrnehmungen bloß im Bewußtsein meines Zustandes, nicht aber im Bewußtsein als solchem, im reinen Bewußtsein. Trotzdem aber kommen auch die Wahrnehmungsurteile, wie KANT in seiner Deduktion der reinen Verstandesbegriffe nachweist, allein durch die Kategorien zustande; auch "die Synthesis, wodurch Wahrnehmung möglich wird, steht unter den Kategorien" (II, 753). KANT nennt diese Synthesis zum Unterschied von der transzendentalen, die Synthesis der Apprehension. Er wird nicht müde zu wiederholen, daß, um mir eine Wahrnehmung überhaupt bewußt zu sein, ich sie unter die Einheit der ursprünglichen Apperzeption stellen muß. Die Kategorien haben also in unseren alltäglichen Wahrnehmungen und Beobachtungen ihre Tätigkeit nicht suspendiert, sie sind in ihnen ebenso tätig wie in den wissenschaftlichen Urteilen. Und doch geht den empirischen Wahrnehmungsurteilen das, was die Kategorien mit sich führen, das Bewußtsein der Notwendigkeit und Allgemeinheit, ab. Die Kategorien müssen also - etwas anderes bleibt nicht übrig - in ihnen derartig funktionieren, daß das Resultat ihres Funktionierens, die Notwendigkeit und Allgemeinheit, nicht zum Vorschein kommt. Das heißt aber: das Funktionieren der Kategorien mußt dem Bewußtsein des Urteilenden verborgen bleiben. Indem die Kategorien in den Wahrnehmungsurteilen als unbewußte Begriffe tätig sind, stehen sie einerseits letztenendes unter der ursprünglichen Einheit der Apperzeption, und sind doch andererseits mit empirisch-subjektiver Zufälligkeit behaftet.

Besonders in der ersten Auflage der Vernunftkritik wird es deutlich, daß die empirische Synthesis der Apprehension, in ihrer Wahrheit gefaßt, sich selbst in die transzendentale Synthesis des reinen Selbstbewußtseins hinüberführt und diese also objektiv zu ihrer Voraussetzung hat. Subjektiv, für das Bewußtsein des Urteilenden allerdings, dient der empirischen Synthesis die transzendentale nicht zur Voraussetzung; denn wäre auch dies der Fall, so höbe sich sofort jedes empirische Wahrnehmungsurteil in ein notwendiges Erfahrungsurteil auf (vgl. besonders II, 93f, 108f) So zwingend diese Schlüsse sind, so kommt KANT doch nicht dazu, die Unbewußtheit des Wirkens der Kategorien in den Wahrnehmungsurteilen auszusprechen. KANT hatte den Begriff des unbewußten Vorstellens; er war auch von der Bedeutung des unbewußten Seelenlebens, wie seine angeführten Worte über die Einbildungskraft zeigen, überzeugt. Allein es lag nicht in KANTs Gedankengang, die Sonderung, die er, dem bloßen Begriff nach, zwischen bewußtem und unbewußten Vorstellen vorgenommen hatte, auf allen Gebieten und in allen Fällen durchzuführen. Nur gelegentlich merkt man es an der kantischen Redeweise, daß ihm wohl eigentlich der Begriff des unbewußten Vorstellens vorschwebt. Oft glaubt man, jetzt müsse KANT auf die Bedeutung des unbewußten Vorstellens zu sprechen kommen: so sehr drängt alles nach der Tiefe des Unbewußten hin. Wenn KANT z. B. sagt, daß jedes, auch das empirische Bewußtsein, "zu einer allbefassenden reinen Apperzeption gehört" (II, 111), so erwartet man, KANT müsse hinzusetzen, daß diese Subsumption des empirischen Bewußtseins unter die Einheit der Apperzeption und ihre Kategorien unbewußt vollzogen wird; denn sonst würde ja das empirische Bewußtsein auf die Höhe des reinen gehoben werden und so ganz aufhören. Doch hier wie anderwärts geht KANT auf diesen so naheliegenden Gedankengang nicht ein. Darum ist es aber doch nichts in KANT willkürlich hineingelesenes, wenn wir die Spuren des Begriffs des unbewußten Vorstellens überall bei KANT finden, wo er sich tiefer auf die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens einläßt. Denn dieser Begriff wird, ohne die Möglichkeit eines Auswegs, von KANT sich selbst so nahe gelegt, daß nur die Nennung seines Namens fehlt.

In der praktischen Philosophie hält sich KANT vom unbewußten Vorstellen und Denken am fernsten. Es liegt dies in der einseitigen Auffassung der Moralität. Die Triebe und Neigungen, kurz die natürliche Seite des Menschen wird von KANT als etwas schlechthin zu Bekämpfendes, aus der Motivierung des sittlichen Handelns Auszuschließendes, angesehen. Der moralische Mensch muß sich gegen seine Natürlichkeit feindlich kehren; die Befolgung des Sittengebotes setzt nicht nur den Bruch mit der Natürlichkeit voraus, sondern hat auch das Fortbestehen dieses Bruchs zu ihrer Bedingung. Wo aber die natürlichen Triebe und Neigungen bekämpft und in allen ihren Ansprüchen auf die Bestimmung des Willens geflissentlich abgewiesen werden, da kann dies nur mit Bewußtsein geschehen, wer sich der Natürlichkeit entgegensetzt, tritt ihr zugleich mit Bewußtsein gegenüber. Das sittliche Handeln des im kantischen Sinne moralischen Menschen wird stets ein reflektiertes sein. KANT will überall ein Handeln nach Maximen, nach Grundsätzen; der kategorische Imperativ befiehlt so zu handeln, daß die Maxime des Handelns ein allgemeines Gesetz werden kann. Ein Handeln, das von der hergebrachten volkstümlichen Sitte, vom Standes- oder Nationalgeist durchdrungen und getragen ist, das aus einer sittlichen Virtuosität entspringt, also wesentlich das Unbewußte zu seiner Quelle hat, kann für KANT nicht als moralisch gelten. Der moralische Mensch muß sich die Maxime des Handelns stets vor Augen halten und an seine Handlungen mit Bewußtsein als Maßstab anlegen; er muß bei jeder vorzunehmenden Handlung die Probe anstellen, ob die diesem Handeln zugrunde liegende Maxime auch geeignet ist, allgemeines Gesetz zu werden. Das moralische Handeln wird so bei KANT zu einem bewußten Experimentieren mit Maximen.

Die kantische Kritik der Urteilskraft hingegen bietet eine Fülle von Beziehungen zum unbewußt Logischen dar. Auch hier nennt KANT zum allergrößten Teil sein Stichwort nicht beim Namen. Allein jede Vertiefung der kantischen Philosophie mußte notwendig auf diesen Begriff stoßen, weil er sich für das kundige Auge sowohl in der kantischen Philosophie des Schönen wie der organischen Natur bereits als leitender, wenn auch in seinem Wesen nicht klar erkannter Gesichtspunkt zeigt.
LITERATUR: Johannes Volkelt, Kants Stellung zum unbewußt Logischen, Philosophische Monatshefte, Bd. IX, Berlin 1874